Aktuell bestimmen im Westen Sorgen um mögliche Knappheiten bei der Energie- und Nahrungsmittelversorgung die Debatte um die wirtschaftlichen Folgen von Krieg und Sanktionen. Dabei tauchen inzwischen immer mehr Folgewirkungen auf, die zeigen, wie stark die Wirtschaftsräume in West und Ost verkettet sind. Folgt bald die große De-Globalisierung?

Es ist eine Zahl, die vor wenigen Wochen kaum jemand für möglich halten hätte: Um 39,5 Prozent sind die Preise für Haushaltsenergie und Kraftstoff im März 2022 gegenüber dem Vorjahr angestiegen. Das meldet das Statistische Bundesamt1 in seiner aktuellen Schätzung am 30. März. Der Hauptgrund für diesen massiven Anstieg der Gas- und Spritpreise, der die Inflation auf ein 40-Jahres-Hoch von 7,3 Prozent hebelte, ist klar: Russlands Krieg gegen die Ukraine könnte zu einer echten Krise bei der Energieversorgung in Europa führen. Bezeichnend: Am selben Tag, an dem die Meldungen zum neuen Inflationshoch die Medien erreichten, löste Wirtschaftsminister Robert Habeck die Vorwarnstufe eines Notfallplans aus, der die Versorgung mit Erdgas auch ohne weitere Lieferungen aus Russland sicherstellen soll.2

Wenn es in den vergangenen Wochen um die wirtschaftlichen Folgen des Krieges und der Sanktionen ging, dann stand die Energieversorgung oft im Mittelpunkt. Dazu kamen auch Sorgen um Engpässe in der Nahrungsmittelversorgung auf, da Russland, und vor allem auch die Ukraine, zu den wichtigsten Exporteuren von Weizen und von Düngemitteln gehören. Nun aber tauchen in Berichten immer mehr Folgewirkungen auf, die zeigen, wie sehr die Vernetzung des Welthandels und der Lieferketten in den vergangenen Jahren fortgeschritten ist  und wie stark die Wirtschaftsräume auch über Energie und Agrarrohstoffe hinaus voneinander abhängen.

Drei Beispiele: 

  • Fehlende Kabelbäume legen die deutsche Autoproduktion lahm. Zulieferer aus der Ukraine versorgen offenbar große Teil der deutschen Autohersteller mit dem Kabelgeflecht, das für die Stromverteilung im Auto nötig ist. Unter anderem BMW, Porsche und VW haben bereits angekündigt, deshalb die Produktion zu drosseln.3 Und in der Folge müssen jetzt auch solche Zulieferer auf die Bremse treten, die eigentlich Teile liefern, die weiterhin problemlos herzustellen sind, etwa Autositze.
  • Das Bauholz wird knapp. Russland und Ukraine liefern auch große Mengen an Hölzern für Dachstühle, Verschalungen und Fußböden. Die Lieferfristen steigen, die Preise auch – und die Lager laufen leer.4
  • Die Chiphersteller sorgen sich ums Neongas. Etwa die Hälfte dieses Edelgases auf dem Weltmarkt stammt aktuell aus Russland. Pikant: Es wird zu großen Teilen in der Ukraine nahe Odessa veredelt und von dort verschifft. Über dieses Thema habe ich auch im aktuellen Podcast mit Alena Epifanova5 gesprochen. Warum ist Neongas so wichtig? Bei der Produktion von Computerchips braucht man diesen Rohstoff für bestimmte Laser. Auch die Edelgase Xenon und Argon, die in der Ukraine produziert werden, sind für die IT-Herstellung essenziell. 

Man könnte die Liste problemlos weiterführen. Sie zeigt: Auch wenn Russland als Handelspartner abseits der Rohstoffe direkt keine so große Rolle spielt für die Welt, sind die mittelbaren Beziehungsgeflechte enorm – und wir auf viel mehr Schlüsselwaren angewiesen als bloß das russische Gas. Zumal noch etwas hinzukommt: Wesentliche Teile des Warenverkehrs zwischen Europa und China kreuzen per Luft, Schiene und Lkw russisches Territorium. So kann der neue Ost-West-Konflikt zur De-Globalisierung führen – damit zu einer dauerhaften Wohlstandsbremse. 

Fazit

Die geostrategische Lage Russlands treibt den Preis eines möglichen neuen Eisernen Vorhangs in immense Höhen. Daran kann der Westen eigentlich kein Interesse haben – denn die negativen Wohlstandseffekte einer De-Globalisierung wären auch für uns enorm. Auch diese gegenseitige Abhängigkeit macht eine diplomatische Wiederannäherung zu einem Gebot der Klugheit.
 

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