Chancengleichheit: Frauen als Verlierer der Coronakrise
Carsten Roemheld: Herzlich willkommen zur neuen Ausgabe des monatlichen Kapitalmarktpodcasts der Fondsgesellschaft Fidelity International. Mein Name ist Carsten Roemheld, ich bin Kapitalmarkt-Stratege bei Fidelity und ich suche an dieser Stelle einmal im Monat Antworten auf eine entscheidende Frage: Was bedeuten die wirtschaftlichen Entwicklungen von heute für die Anlagestrategie von morgen?
Wer schon einmal versucht hat, Homeoffice und Homeschooling miteinander zu verbinden, der weiß: Das ist kaum zu schaffen. Deshalb ist die neue Normalität in der Coronakrise gerade für Familien eine gewaltige Herausforderung. Viele Eltern versuchen seit mehr als einem Jahr, Arbeit und Kinderbetreuung unter einen Hut zu bekommen – und geraten dabei zunehmend an ihre Grenzen. Damit hat die Krise auch unmittelbare Folgen auf die Beschäftigung.
Für die heutige Episode habe ich mich mit Michèle Tertilt verabredet. Sie ist Professorin für Makro- und Entwicklungsökonomie an der Universität Mannheim und forscht seit vielen Jahren zu der Frage, welche Folgen familiäre Beziehungen auf die Wirtschaft haben. Im Zuge der Coronakrise hat sich Professorin Tertilt intensiv mit den ökonomischen Auswirkungen von Schulschließungen und Homeoffice befasst – gerade mit Blick auf die Erwerbstätigkeit von Frauen.
Was sie erzählt, ist zunächst recht erfreulich: Berufstätige Mütter haben ihre Arbeitszeit seit Beginn der Pandemie zwar in der Tat stärker reduziert als Männer, die finanziellen Einbußen halten sich aber bislang in Grenzen. Das ist vor allem dem wirtschaftspolitischen Instrument der Kurzarbeit zu verdanken – ein Erfolgsmodell, das sich in der Coronakrise auch in anderen Ländern bewährt hat. Frau Tertilt sagt aber auch: Langfristig dürfte die Pandemie Ungleichheiten auf dem Arbeitsmarkt verstärken – und damit gerade berufstätigen Müttern finanziell schaden. In unserem Gespräch nennt sie dafür mehrere Gründe:
Erstens: Frauen übernahmen schon vor der Krise den Löwenanteil der Care-Arbeit. In der Coronakrise haben sie ihre Arbeitsstunden nochmals stark reduziert.
Zweitens: Branchen wie Hotellerie, Gastronomie und Einzelhandel weisen traditionell einen hohen Anteil an weiblichen Beschäftigten auf. Deshalb sind in der Coronakrise mehr Frauen als Männer direkt von Entlassungen betroffen.
Daraus folgen – drittens – verpasste Karrierechancen. Das Lohngefälle zwischen Männern und Frauen vergrößert sich. Und das führt wiederum zu niedrigeren Rentenansprüchen. Bereits heute beträgt die Rentenlücke in Deutschland 46 Prozent.
Ich habe Professorin Tertilt auch gefragt, was Arbeitgeber und die Politik tun können, um ein weiteres Auseinanderdriften durch die Krise zu verhindern. Ihre Antwort dürfte allen die Augen öffnen, die unverändert an die Selbstheilungskräfte des Marktes glauben wollen. Unternehmen haben zwar ein natürliches Interesse daran, Frauen in Führungspositionen zu befördern. Denn der Zusammenhang zwischen Diversität und Unternehmenserfolg ist längst empirisch belegt. Doch Wollen und Können sind zwei Paar Schuhe. Im Gespräch mit Frau Tertilt wurde mir einmal mehr klar: Wenn sich die Arbeitsumgebung nicht mit dem Privatleben vereinbaren lässt, dann wird sich an der Situation nichts ändern. Aus ihrer Sicht ist es deshalb auch nicht damit getan, eine Frauenquote auf Führungsebene einzuführen. Stattdessen braucht es laut Frau Tertilt ein Umdenken auf allen Hierarchieebenen – und ein Steuersystem, das die richtigen Anreize setzt.
Ich wünsche Ihnen in den folgenden 40 Minuten viel Vergnügen – und ich hoffe, Sie können einen frischen Blick auf Gleichberechtigung und Familienförderung mitnehmen, so wie ich.
Frau Professorin Tertilt ich würde gerne im ersten Themenblock mit Ihnen über die Corona-Effekte auf die Beschäftigung von Frauen sprechen. Sie beschäftigen sich seit vielen Jahren mit den Auswirkungen familiärer Beziehungen auf die Wirtschaft und haben den Einfluss auch von Covid-19 auf die Gleichstellung der Geschlechter untersucht. Wen trifft diese Krise eigentlich schlimmer? Männer oder Frauen?
Michèle Tertilt: Also es ist ganz klar so, dass normale Wirtschaftskrisen Männerkrisen sind. Es zeigen die Daten ganz klar. In unserer Forschung haben wir gezeigt, dass zum Beispiel 70 Prozent der Schwankungen der gearbeiteten Stunden über den Konjunkturzyklus von Männern getrieben sind, das ist in den USA so, das ist auch in Deutschland so. Und das ist in der aktuellen Krise eben anders. In der aktuellen Krise sind die Beschäftigungsverluste von Frauen deutlich stärker. Frauen haben eher ihre Jobs verloren und aber auch eben ihre gearbeiteten Stunden reduziert oder sind manchmal nach der Elternzeit erst gar nicht wieder eingestiegen.
Carsten Roemheld: Wie wirkt sich denn die Coronakrise auf die finanzielle Situation von Frauen aus? Gibt es denn Branchen und Berufe, in denen besonders gravierende Einbußen drohen bei den Frauen?
Michèle Tertilt: Genau, man kann sich jetzt fragen, woran liegt das, dass Frauen eben stärker betroffen sind. Unsere Forschung zeigt, dass liegt ganz klar an mindestens zwei Gründen: Auf der einen Seite sind die Branchen, in denen Frauen arbeiten, stärker betroffen. Also man muss sich ja nur vorstellen: die Gastronomie; das Hotelgewerbe; auch Jobs, wo eben Kontakte sehr wichtig sind, Friseure, Massagen, Nagelstudios; das sind ja alles Jobs, wo viele Frauen arbeiten. Und die sind einfach viel stärker betroffen in dieser Krise. Normale Wirtschaftskrisen betreffen das Fertigungsgewerbe oder das Baugewerbe viel stärker und das sind eben Männerdomänen, sage ich jetzt mal. Insofern sind die Branchen, wo Frauen arbeiten, besonders betroffen. Es liegt aber auch an der Kinderbetreuung, also an den Schulschließungen, die es Eltern besonders schwer machen, aktuell zu arbeiten und dazu in Vollzeit zu arbeiten oder im normalen Umfang zu arbeiten. Und davon sind insbesondere die Frauen, also die Mütter, mehr betroffen als die Väter.
Nun fragten Sie nach den finanziellen Einbußen. Da muss man natürlich … das eine ist nicht genau das Gleiche wie das andere. Also insbesondere in Deutschland durch die Möglichkeit der Kurzarbeit und auch andere soziale Sicherungssysteme gibt es ja nicht immer einen direkten Link sozusagen von den Stunden zum Finanziellen. Also zum Beispiel, wenn Frauen jetzt mehr Kind-Krank-Tage in Anspruch nehmen, dann sind die gearbeiteten Stunden vor allem natürlich entsprechend weniger, aber das Einkommen nicht unbedingt im gleichen Maße. Das ist in anderen Ländern anders, also das soziale Sicherungssystem in den USA ist ja viel weniger ausgeprägt. Kurzarbeit gibt es viel weniger. Ich denke mal, da sieht man wesentlich deutlicher wirklich die finanziellen Einbußen.
Carsten Roemheld: Sie sagten gerade Kurzarbeit. Es ist interessant, dass das deutsche Modell ja auch in andere Länder exportiert worden ist. Haben Sie gesehen, dass international das Modell Kurzarbeit etwas populärer geworden ist oder man sich an dem Beispiel von Deutschland ein bisschen orientiert hat?
Michèle Tertilt: Genau, also Kurzarbeit ist in vielen Ländern ausgeweitet worden jetzt in der Krise, zum Beispiel auch in England. Da gab's das vorher eigentlich gar nicht, da wurde das massiv ausgeweitet. Was interessant ist, da normalerweise Kurzarbeit ja von Arbeitgebern initiiert sein soll. Ich kann ja nicht fragen, dass ich in Kurzarbeit geschickt werde. Trotzdem sieht man, dass eben eher Frauen und Mütter in England zum Beispiel Kurzarbeit in Anspruch genommen haben. Und auch in Umfragen bestätigen die Arbeitnehmer selber, dass sie eben das auch teils initiiert haben, und zwar die Frauen mehr als die Väter. Also das finde ich sehr interessant.
Carsten Roemheld:. Jetzt haben Sie vorhin auch gesagt, dass Frauen viel in systemrelevanten Berufen sind, vor Ort auch tätig sein müssen, während die Männer teilweise mehr ins Homeoffice sozusagen auch ausgelagert werden konnten. Wie verändert denn das die Dynamik innerhalb der Familie? Sie haben vorhin schon mal angefangen, das ein bisschen zu beschreiben. Vielleicht können Sie da noch ein bisschen näher drauf eingehen.
Michèle Tertilt: Ja, das ist wirklich sehr spannend. In der aktuellen Krise – oder es fing quasi letztes Jahr im Frühling an, als plötzlich wirklich von einem Tag auf den anderen die Schulen geschlossen wurden. Zum Beispiel ist sie Krankenschwester und der Mann hat einen Job, wo er eben einen Bürojob hat, sag ich mal, wo er von zu Hause aus arbeiten kann, oder vielleicht hat er auch ganz den Job verloren. Und genau an diesen Paaren, das ist jetzt nicht die Mehrheit, aber es ist ein substanzieller Anteil. Also in den USA haben wir ausgerechnet, ungefähr 10 Prozent aller Familien mit Kindern haben genau diese Konstellation. Und genau in diesen Familien erwarte ich schon eine große Änderung. Also plötzlich sind sozusagen die Väter allein verantwortlich oder hauptverantwortlich für die Kinder. Die Frau ist außer Haus, der Mann sitzt im Homeoffice und die Kinder versuchen, irgendwie im Homeschooling zu arbeiten. Und ja, das kann schon dazu führen, dass sich auch langfristig eben Rollenbilder und Väterbilder zumindest bei einem Teil der Bevölkerung ändern.
Carsten Roemheld: Und wie machen sich die Väter so nach ihren Erfahrungen? Ist das etwas, womit die Väter gut klarkommen? Oder ist es etwas, womit sie sich wahnsinnig schwertun, weil sie quasi sozusagen da reingestoßen wurden und es bisher gar nicht in dieser Form gewohnt waren, diese Rolle einzunehmen?
Michèle Tertilt: Das ist eine interessante Frage. Es ist natürlich ein bisschen schwer zu messen. Und es wird nicht einfach zu messen, wie teilen die Leute sich die Zeit auf. Sie fragen jetzt, wie fühlen Sie sich damit. Das finde ich natürlich jetzt ein bisschen schwer, als Ökonom kann ich da nicht so viel zu sagen, aber ich habe gerade eine sehr interessante Studie mit holländischen Daten gesehen und da haben die wirklich auch Indikatoren für psychische Gesundheit mit abgefragt. Und da findet man gerade, dass eben die Männer, die von zu Hause arbeiten und dabei die Kinder betreuen, insbesondere, wenn sie hauptverantwortlich sind und es sehr viele Stunden sind, dann geht die psychische Gesundheit runter. Aber erst, wenn es sehr viele Stunden sind, also ein Teil der Stunden von zu Hause mit den Kindern finden die Männer sogar ganz gut.
Was diese holländische Studie auch zeigt, ist: Für Frauen ist die psychische Belastung am größten, wenn die Männer verantwortlich für die Kinder sind, die Frauen aber trotzdem von zu Hause arbeiten. Und das hat ja auch diesen Effekt, den man neulich sehr schön auf einem New-York-Times-Cover gesehen hat. Da war ein sehr schönes Foto: Eine Frau und ein Mann, beide im Homeoffice, der Mann im großen Büro sitzt am Schreibtisch, die Frau im Bad mit dem Kind, half dem kleinen Kind gerade, quasi auf Toilette zu gehen. Und da stand die Frage drunter: Wer von beiden ist gerade in einem wichtigen Arbeitscall? Die Antwort war: die Frau.
Carsten Roemheld: Okay, also da sieht man dann doch, die Rollenverteilung hat sich noch nicht vollständig geändert oder noch nicht vollständig angepasst. Aber zumindest werden die Rollen tatsächlich jetzt angepasst und man geht stärker in diese Richtung. Was ist Ihr Eindruck? Hat die Pandemie bestehende Ungleichgewichte zwischen den Geschlechtern verschärft oder treten lediglich vorhandene Unterschiede jetzt etwas stärker zutage? Was ist da Ihr Eindruck?
Michèle Tertilt: Es ist eine gute Frage. Also ich würde sagen: ein bisschen von beidem. Also natürlich hatten wir auch vorher klare, ja, Rollenaufteilungen auch insbesondere in Deutschland besonders stark ausgeprägt. Also in einer typischen Familie arbeitet der Mann Vollzeit und die Frau – also, wenn Kinder da sind – Teilzeit. Selbst ohne Kinder übrigens: Verheiratete Frauen in Deutschland arbeiten größtenteils Teilzeit und sie verdienen typischerweise auch weniger pro Stunde. Und diese Ungleichheit ist natürlich jetzt besonders in den Fokus geraten oder ist noch mal sehr sichtbar geworden. Natürlich, wenn Kinder plötzlich zu Hause sind, ja wer kümmert sich denn mehr!? Wenn jemand sowieso, die Frau arbeitet sowieso schon Teilzeit, dann macht das natürlich Sinn, dass sie mehr sich auch um die Kinder kümmert. Oder auch, wenn sich die Frage stellt, wer soll jetzt mehr Stunden reduzieren, weil sie es einfach als Familie nicht mehr hinkriegen. Da macht das natürlich auch Sinn, dass derjenige, der den geringeren Stundenlohn hat, die Stunden reduziert. Und das ist in den meisten Familien eben die Frau, teils auch, weil sie jünger ist, oder teils, weil sie früher schon mehr zurückgesteckt hat wegen der Kinder, vielleicht ist sie auch gerade aus der Elternzeit erst zurückgekommen. Dann macht das einfach finanziell Sinn. Insofern sind diese bestehenden Ungleichheiten, wie Sie schon sagten, mehr sichtbar geworden.
Aber ich würde auch sagen, dass die Krise auch trotzdem zusätzlich zu mehr Ungleichheit führt und geführt hat; also darüber hinaus. Zum einen eben werden ja, wir haben ja eben schon über die Branchen geredet, das hat jetzt mit den Kindern überhaupt nichts zu tun. Aber es ist einfach so, dass in den besonders betroffenen Branchen wie Hotels, Gastronomie, Einzelhandel usw. eben besonders viele Frauen arbeiten. Und das führt natürlich dann auch mittelfristig zu mehr Ungleichheiten. Wenn jetzt Frauen quasi entweder ihre Jobs verloren haben oder eben auch der Kinder wegen noch mehr zurückgesteckt haben, dann führt das auch zu verpassten Karrierechancen. Und dadurch kann sich die Lohnlücke, der Gehaltsunterschied pro Stunde von Männern und Frauen, auch mittelfristig jetzt weiter ausweiten. Da gehe ich stark davon aus, dass das zum Teil jedenfalls passieren wird.
Carsten Roemheld: Und gibt es denn auch Studien, bei denen untersucht wird, wie es ist in Familien, bei denen die Frauen vielleicht gleich oder mehr verdienen als die Männer, wie es dann mit der Reduzierung der Stunden insgesamt ist? Oder ist das bisher nicht erfolgt?
Michèle Tertilt: Wie das jetzt speziell in der Krise in diesen Konstellationen passiert ist, da habe ich noch keine Studie zu gesehen. Grundsätzlich ist es so: Es gibt gar nicht so viele Familien, wo die Frau mehr arbeitet. Da gibt's eine sehr interessante Studie von vor einigen Jahren von der Maria Beltran aus Chicago, die eben zeigt, es gibt da, wenn man sich die Verteilung anguckt von den relativen Einkommen in Familien, dann gibt's da einen ganz extrem starken Absturz sozusagen genau bei 50 Prozent.
Es gibt nicht viele Familien, wo die Frau mehr verdient als der Mann Entweder sortieren sich gleich schon so die Paare, dass die Frau lieber weniger verdienen sollte, oder es sind dann auch teils die Entscheidungen natürlich in der Familie. Aber es gibt gar nicht so viele, wo die Frau mehr verdient. Natürlich gibt es diese Konstellationen und wie die sich jetzt aktuell in der Krise verhalten haben, da habe ich noch keine Studie zu gesehen. Allerdings grundsätzlich kann man schon sehen, also jetzt unabhängig von der Krise, dass die Kinderbetreuung nicht so arg viel damit zu tun hat, wie die Frau arbeitet. Also die Frauen – auch die, die Vollzeit arbeiten – kümmern sich mehr um die Kinder als die Männer. Also das haben wir jetzt in amerikanischen Daten wieder gezeigt, dass selbst, wenn beide Vollzeit arbeiten, übernimmt die Frau 60 Prozent der Kinderbetreuung.
Carsten Roemheld: Da ist also das klassische Rollenbild irgendwo immer noch vorhanden, dass die Frau sich vermehrt oder verstärkt um die Kinder zu kümmern hat. Kommen wir zu der Frage Vereinbarkeit von Familie und Beruf; ob da Corona als Katalysator auch dienen kann. Wie hat sich denn die Sicht der Arbeitgeber auf die Themen Familie und Kinder in der Pandemie verändert? Wenn Sie es auch mal mit früher vergleichen: Haben es arbeitende Eltern jetzt leichter als in früheren Zeiten? Wie sehen Sie das?
Michèle Tertilt: Ich würde sagen, zumindest ist die Elternrolle der Arbeitnehmer sichtbarer geworden. Also die Arbeitgeber merken einfach viel mehr, dass die Arbeitnehmer Kinder haben und dass auch Männer Kinder haben. Also wir haben es ja oft jetzt auch gesehen in den letzten Monaten, dann sind eben auch Kinder durch eine Videokonferenz auch von Männern plötzlich durchgelaufen. Oder Männer und Frauen mussten früher mal nach Hause gehen oder mehr von zu Hause arbeiten. Also ich denke mal, die Elternrolle ist ganz klar sichtbarer geworden für die Arbeitgeber. Na, ob das jetzt heißt, dass Arbeitgeber familienfreundlicher geworden sind, ob es Eltern nun deswegen leichter haben werden? Ich denke mal, das bleibt abzuwarten. Letztendlich interessieren sich viele Arbeitgeber nicht unbedingt so sehr für diese Elternrolle, solange die Arbeit gemacht wird. Aber ich denke, was wir auf jeden Fall sehen, dass viele Arbeitgeber ja auch schon gesagt haben, dass langfristig mehr Telearbeit möglich ist, und das wird definitiv den arbeitenden Eltern zugutekommen.
Carsten Roemheld: Ich wollte auch fragen, was aus Ihrer Sicht nötig wäre, um den Eltern oder Familien ein besseres Umfeld zu ermöglichen vonseiten der Arbeitgeber. Wir hören immer mehr, dass auch nachhaltige Kriterien eine immer größere Rolle spielen, auch bei Unternehmen. Da gehört natürlich auch das soziale Gefüge dazu und, dass sich der Arbeitnehmer sozusagen auch wohlfühlt, seine Rolle auch zu Hause wahrnehmen kann in der Zeit, wo er dem Beruf nicht nachgehen kann. Was außer der Telearbeit sind denn noch Kriterien aus Ihrer Sicht, die vielleicht aus Arbeitgebersicht getan werden könnten, um den Familien ein besseres Umfeld zu ermöglichen?
Michèle Tertilt: Ich denke mal, auf der einen Seite sind flexible Arbeitszeiten sehr wichtig, also eben die Abkehr von den starren Kernarbeitszeiten. Wenn ich in meinem Team jeden Morgen pünktlich um acht Meetings einberufe und alle müssen da sein, dann ist es ist halt schwierig für viele Eltern. Also diese Abkehr von den starren Kernarbeitszeiten ist wichtig.
Dann, wir sprachen ja schon über die Telearbeit, eben die Möglichkeit, zumindest mal tageweise oder bei Bedarf eben flexibel von zu Hause arbeiten zu können. Die Arbeit muss natürlich irgendwie stattfinden, das ist auch klar. Aber, dass man es dann zum Beispiel abends spät noch nachholen kann, den Bericht eben auch abends fertig schreiben kann und so weiter.
Und drittens würde ich sagen: Kindertagesstätten direkt am Arbeitsplatz. Das ist auch sehr sinnvoll, zumindest für große Unternehmen. Wir sehen es ja teilweise auch schon, aber ich denke mal, da gibt's auch noch Ausbaubedarf. Also ich denke, das sind drei wichtige Bausteine von familienfreundlichen Arbeitsbedingungen.
Carsten Roemheld: Und jetzt sind wir auch auf Familien eingegangen. Wie muss denn die Arbeitswelt grundsätzlich verändert werden, damit Gleichberechtigung auch mehr stattfinden kann zwischen den Geschlechtern? Sie sagten ja gerade noch, die Lohnunterschiede sind doch klar spürbar, auch vielleicht die Benachteiligung bei Beförderungen, bei Karrierechancen und so weiter sind sicherlich bei Frauen noch deutlicher spürbar. Was kann die Arbeitswelt hier tun, um dort noch weiter voranzukommen?
Michèle Tertilt: Also, das eine ist natürlich sozusagen die Art, es Familien leichter zu machen, wovon auch Frauen natürlich in großem Maße profitieren, also Mütter. Flexibilität ist wichtig. Die Möglichkeit zum Beispiel, Chef zu sein auch in Teilzeit, oder Job-Sharing-Modelle gibt's ja alles schon in Modellversuchen, sag ich mal. Aber ich denke mal, da gibt's noch Ausbaumöglichkeiten. Und ich denke mal, das ist auch wirklich möglich. Nicht in jedem Job. Eine Bundeskanzlerin muss man vielleicht jetzt nicht in Teilzeit haben, aber doch in vielen Jobs ist es möglich und wird ja auch teils schon gemacht. Ein normaler Chef in Vollzeit hat ja oft auch so viele verschiedene Verantwortlichkeiten oder ist eben vielleicht mal auf einer Tagung oder beim Kunden und ist ja auch nicht permanent erreichbar. Und Teilzeit kann ja auch sehr viele Sachen heißen, also viele Eltern machen vielleicht 30 Stunden die Woche. Das ist natürlich noch recht gut kompatibel mit Chefsein. Es ist nicht so, jede Teilzeit ist nicht nur 10 Stunden die Woche; das ist natürlich dann was anderes. Aber genau das ist eben dieses Familienthema.
Aber ich denke mal, damit sich wirklich, ja, noch mehr Gleichberechtigung am Arbeitsplatz entwickelt, geht es nicht nur um Familien, sondern es gibt auch noch andere Hindernisse für Frauen in der Berufswelt. Es gibt eben doch viele Stereotype, dass eben ja nicht jeder sich eine Frau wirklich als Chef vorstellen kann oder auch bestimmte Arten von Jobs man Frauen nicht unbedingt so zutraut. Oder das auch einfach, ja, wenn es darum geht, wer wird jetzt für die nächste Karrierestufe ausgewählt, oft geguckt wird, ja wer hat denn das größte Engagement gezeigt in einem Team. Aber wie definiere ich jetzt Engagement?!
Das wird oft definiert über, wer hat die meisten Stunden im Büro verbracht. Und das ist nicht unbedingt der beste Indikator für, wer arbeitet effizient, wer arbeitet schnell, wer arbeitet kreativ – das sind doch eigentlich die wichtigen Kriterien in unserer heutigen Wissensgesellschaft. Also wir haben doch vor allen Dingen High-Tech-Jobs, wir haben Ingenieure im Autobau, wir haben kreative Jobs. Da brauche ich nicht unbedingt Leute, die bereit sind, 15 Stunden im Büro zu sitzen. Und ich denke mal, da muss ich in den Köpfen noch viel ändern. Wir sehen das ganz ausgeprägt noch in asiatischen Ländern, in Südkorea, in Japan. Da gibt's wirklich diese Kultur, man muss möglichst bis abends um zehn da sitzen und dann noch mit dem Chef einen trinken gehen. Also ich denke mal, die Abkehr von dieser Kultur, da werden wir alle von profitieren und dann geht's eben, ja dann kommen eben die besseren Köpfe in die guten Positionen; nicht unbedingt die, die am längsten bereit sind, zu arbeiten.
Carsten Roemheld: Absolut, und wir können das auch bestätigen. Ein weiteres Argument ist, wir beobachten immer deutlicher, dass auch diverse Teams im Management konstruktiver zusammenarbeiten. Also das ist tatsächlich, anders gesagt, wenn Frauen auch mitführen, dass Unternehmen auch erfolgreicher sind, mehr kreative Lösungen vielleicht auch erreichen. Können Sie das aus der wissenschaftlichen Forschung bestätigen, dass diverse Teams bessere Ergebnisse erreichen?
Michèle Tertilt: Genau, da gibt's also zahlreiche Argumente, warum diverse, heterogene Teams – da geht es nicht nur um Männer und Frauen, sondern eben auch andere Hintergründe, in Amerika das große Thema mit den Afroamerikanern, bei uns natürlich auch Migrantenhintergrund und so weiter – also da gibt es viele Argumente, warum dann diverse Teams eben bessere Ideen haben; vielleicht Fehler weniger übersehen, einfach, weil sie noch mal andere Hintergründe haben.
Jetzt stellen Sie die Frage, inwiefern man das jetzt wiederum in den Daten messen kann. Also es gibt da einige Studien genau zu dem Thema: Zum Beispiel eine Studie von 2003, wo es um die amerikanischen Fortune-1000-Firmen geht. Und die belegt tatsächlich, dass eben ein Zusammenhang zwischen Diversitäten der Unternehmensführung und dem Firmenwert besteht. Oder eine andere Studie aus den Niederlanden, die kommt zu ähnlichen Ergebnissen. Aber fairerweise muss man schon auch sagen, dass es andere Studien gibt, die keinen signifikanten Zusammenhang finden.
Also, ich denke, es kommt auf den Kontext an und es ist auch nicht immer ganz leicht, empirisch zu messen, idealerweise braucht man ja wirklich ein Setting, wo das quasi, ja, zufällig verteilt wurde. Wenn es ein Gesetz ist, dann betrifft es ja wiederum alle. Also insofern findet man da auch nicht so ganz das ideale Setting, um das zu messen.
Carsten Roemheld: Glauben Sie, dass diese Dinge über den Markt geregelt werden, das heißt, dass früher oder später einfach rauskommen wird, auch bei diesen Untersuchungen, dass diese Teams erfolgreicher sind und deswegen automatisch die Unternehmen dem folgen? Oder glauben Sie, wir brauchen eher regulatorische Ansätze, Quotenregelungen und ähnliche Dinge, um dort hinzukommen? Was ist da Ihre Einschätzung?
Michèle Tertilt: Ja, also natürlich, der Markt regelt viele Dinge, da bin ich ganz Ihrer Meinung. Aber regelt der eben alles? Nicht unbedingt. Also es gibt eben auch Friktionen, und zwar auf verschiedenen Ebenen. Also selbst, wenn einem Unternehmen völlig klar ist, dass es erfolgreicher ist mit einem diversen Team in der Unternehmensführung, dann muss es eben trotzdem noch die passende Person zum richtigen Zeitpunkt haben. Und wenn es die eben nicht gibt, weil zum Beispiel Frauen erst gar nicht in die mittlere Führungsebene gekommen sind, weil es eben schon früher, sag ich mal, gehakt hat, und wenn ich eben jemanden will, der wirklich von unten gekommen ist, also aus dem eigenen Unternehmen – nicht jedes Unternehmen will eben einen externen Chef, und wenn es dann eben früher schon Friktionen gab in der mittleren Führungsebene, ja dann habe ich eben keine passende Frau zum richtigen Zeitpunkt. Und da muss sich letztendlich das Unternehmen dann mit dem Second Best begnügen. Also insofern muss man da halt auf allen Ebenen arbeiten. Der Markt regelt dann eben doch nicht unbedingt alles immer.
Jetzt haben Sie speziell nach Quoten gefragt. Also Quoten, ja, ist ein schwieriges Thema. Also ich bin da selber ein bisschen hin- und hergerissen. Ich denke mal, Quoten können schon sinnvoll sein, um Stereotype abzubauen, und das hat sich auch gezeigt. So viele Leute können sich einfach Frauen in gewissen Positionen noch nicht so richtig vorstellen. Man sieht das übrigens auch immer noch in den ganzen Kinderbüchern. Gucken Sie sich mal die Kinderbücher an. Also die Rollen sind extrem ausgeprägt, auch in modernen Kinderbüchern in Deutschland. Also insofern können Quoten helfen, gewisse Stereotype zu durchbrechen. Sie kann aber auch zu einer gewissen Stigmatisierung wiederum führen. Also keiner ist gern die Quotenfrau. Da muss man ein bisschen aufpassen. Letztendlich ist es dann natürlich wiederum auch eine empirische Frage: Funktioniert es? Also wenn ich jetzt eine Quote einführe. Klar, natürlich funktioniert die erst mal in dem Sinne, dass ich dann direkt das Gremium oder, um was es jetzt geht, die Führungs-, die Chefetage, wie auch immer, habe ich dann mehr Frauen; das habe ich dann ja per Gesetz beschlossen. Die Frage ist dann natürlich: Hilft es langfristig? Also kann man dann irgendwann die Quote zum Beispiel wieder abschaffen?
Und da gibt es jetzt zum Beispiel eine Studie mit indischen Daten. Da ging es um lokale Politiker. Und die haben wirklich gefunden, dass also auch langfristig sich mehr Frauen zur Wahl stellen, also mehr Frauen bereit sind, sich in der Politik überhaupt zu engagieren, und auch eine höhere Chance haben, gewählt zu werden. Also diese Quoten haben wirklich in diesem indischen Kontext bei lokalen Politikern dazu geführt, dass wir jetzt mehr oder das Indien jetzt mehr Frauen in der Politik hat.
Aber es gibt eben auch wiederum Ergebnisse, die in die andere Richtung deuten. Zum Beispiel gibt's eine Studie in Spanien, die das leider so nicht bestätigen kann. Also da ging es auch um lokale Politik. Eine gewisse Anzahl von Listenplätzen für Stadträte waren für Frauen reserviert. Und das hat zumindest nicht zu mehr weiblichen Bürgermeisterinnen geführt. Es hat nicht dazu geführt, dass sozusagen die nächste Ebene dann erklommen wurde. Ich denke mal, es kommt auf den Kontext an. Aber eben unter gewissen Umständen können Quoten durchaus sinnvoll sein.
Vielleicht noch das Letzte, was ich gerne zu Quoten sagen möchte: Man muss aufpassen; wir dürfen nicht Quoten für, sage ich mal, die guten Jobs oder sinnvolle, talentierte Positionen, wo wir eben dann auch Diversität haben wollen, die sollten wir jetzt nicht verwechseln mit Quoten für Entscheidungsgremien. Das sind aus meiner Sicht zwei völlig verschiedene Paar Schuhe. Also jetzt mal am Beispiel der Universitäten gesagt. In Universitäten haben wir unglaublich viele Quotenregelungen für Entscheidungsgremien, also Berufungskommissionen, aber auch alle möglichen anderen Kommissionen. Da Frauen aber auch oft die gleichen Stereotypen im Kopf haben wie die Männer, hilft es nicht unbedingt, wenn ich mehr Frauen im Entscheidungsgremium habe. Es wird nicht unbedingt zu mehr Frauen dann eben in den Positionen, wofür diese Entscheidungen getroffen werden, führen. Im Gegenteil, es kann sogar Frauen wirklich schaden, weil die wenigen Frauen, die schon da sind, jetzt an Universitäten, die wenigen Professorinnen zum Beispiel, die es gibt, die sind jetzt unverhältnismäßig viel von der Gremienarbeit betroffen. Das ist quasi eine Besteuerung der Zeit, der Arbeitszeit der Frauen. Also das geht meines Erachtens nach hinten los.
Carsten Roemheld: Das ist unheimlich interessant. Also über den Aspekt habe ich noch gar nie nachgedacht. Insofern prima, dass Sie das aufgebracht haben und mal den Blick darauf gerichtet haben. Eine weitere, eine etwas breitere Frage vielleicht: Wenn man sich mal die demografischen Effekte anschaut auf die Arbeitswelt, dann haben wir ja grundsätzlich ein Problem mit Überalterung und überhaupt einer geringer werdenden Arbeitsbevölkerung im Lauf der Zeit, dann wird sich der Arbeitskräftemangel eigentlich deutlich verschärfen insgesamt – bei uns und in vielen anderen Industrienationen. Ist eine Politik, die Frauen, sage ich mal, unter anderem, aber auch Frauen nicht breiter in die Arbeitswelt integriert, ist das nicht dann sogar wohlstandsgefährdend? Würden Sie das so sehen? Migration hat hier vielleicht auch noch eine Rolle zu spielen, aber insgesamt geht es darum, dass man die Arbeitskräfte natürlich insgesamt ausweitet.
Michèle Tertilt: Auf jeden Fall. Also das kann ich nur bestätigen. Wir brauchen eben auch, ja, Arbeitskräftemangel, Fachkräftemangel, aber grundsätzlich, einfach um unseren Wohlstand zu sichern, brauchen wir eine gute Allokation von Talenten in Jobs. Und da hat zum Beispiel eine amerikanische Studie gezeigt, dass, wenn man sich mal Amerika in den letzten 50 Jahren anschaut, ein Großteil des Wachstums, also die haben das wirklich ausgerechnet, 40 Prozent des Wachstums im Pro-Kopf-Einkommen in den USA in den letzten 50 Jahren ist nur dadurch entstanden, dass quasi Frauen mehr arbeiten und vor allen Dingen in den passenderen Jobs arbeiten, dass eben Frauen nicht nur die Hilfsjobs haben, sag ich mal, sondern die qualifizierten Jobs, in denen sie auch wirklich gut sind. Das hat also einen großen Beitrag zum Bruttosozialprodukt geleistet.
Ich gehe stark davon aus, dass das in Deutschland auch so ist und dass es in Deutschland sogar noch mehr, sage ich mal, Luft nach oben gibt, weil Frauen in Deutschland wirklich noch weniger arbeiten und vor allen Dingen mehr in Teilzeit arbeiten. Und insofern, je mehr eben Frauen da auch in die Positionen kommen und in die qualifizierten Jobs, für die sie talentiert sind. Natürlich trägt das zum Wohlstand eines Landes bei.
Carsten Roemheld: Ich glaube, wir haben es auch in Japan gesehen, wo im Prinzip die Arbeitsbevölkerung sehr eingeschrumpft wurde und zuletzt eigentlich viel mehr Frauen auch mit in die Arbeitswelt gekommen sind. Da haben wir das auch noch mal gesehen.
Kommen wir zum dritten Themenblock, zur Frage: Folgen und Lösungsansätze. Jetzt haben wir relativ viel über Arbeitgeber gesprochen, aber die Rolle des Staates sollte dabei ja auch nicht ganz ignoriert werden. Wenn wir uns jetzt mal die aktuelle Lage anschauen, solange das Impfen jetzt in Deutschland weiterhin schleppend vorangeht, lokale Shutdowns stattfinden, Schulschließungen, Kitaschließungen immer wieder auch zum Alltag gehören. Was kann und sollte der Staat konkret tun, um auch die ökonomischen Konsequenzen für die Menschen – vor allem auch die Frauen eben – abzumildern, die jetzt die Kinderbetreuung vielleicht in den Zeiten nicht so stark wahrnehmen können oder die nicht arbeiten können eben wegen der Kinderbetreuung? Was ist die Rolle des Staates aus Ihrer Sicht?
Michèle Tertilt: Also zunächst möchte ich mal sagen, dass bei den Schulschließungen, da geht es nicht nur um die Eltern und die Mütter, da geht es vor allen Dingen auch um die Kinder selber, die natürlich auch massiv leiden unter dem Bildungsverlust, aber natürlich auch unter all jenem, dass sie wenig Kontakte zu Freunden haben. Die ganzen Entwicklungen, die bei Kindern normalerweise stattfinden, all das ist ja problematisch aktuell. Von daher denke ich, ist es auf jeden Fall richtig, dass wir die Impfung der Lehrer und Lehrerinnen und Erzieher und so weiter vorgezogen haben, damit die Schulen wirklich möglichst bald im Normalbetrieb weitermachen können. Die Lehrer allein reichen natürlich nicht aus hier, solange die Kinder nicht geimpft sind. Ja, da mache ich mir wirklich Sorgen, dass wir noch nicht mal im Herbst zum Normalbetrieb zurückkommen können. Insofern ist es ganz, ganz wichtig, ganz schnell Studien anzuschieben, die den Impfstoff, die Sicherheit von Impfstoff auch bei Kindern testen. Es gibt ein paar Studien in die Richtung, aber meines Erachtens noch längst nicht genug. Und dass wir dann auch möglichst schnell daran arbeiten, diese Impfstoffe eben auch für die Kinder zuzulassen. Sonst sehe ich da einProblem selbst noch im Herbst. Dann ist der Löwenanteil der Erwachsenen geimpft und die Schulen haben immer noch Covid-Ausbrüche und dann werden die immer noch wieder ständig zugemacht werden. Also da mache mir wirklich Sorgen.
Aber jetzt trotzdem noch mal zurück zu den Eltern. Das war ja Ihre Frage. Also was sollen wir jetzt machen, damit die Eltern eben trotzdem, also, was soll der Staat machen, damit die Eltern trotzdem irgendwie arbeiten können? Damit es eben keine finanziellen Probleme in Familien gibt. Genau, also hier, denke ich mal, muss man noch mal gucken den Unterschied zwischen Arbeitszeitreduktion und der finanziellen Situation. Da sind eben in Deutschland durch den Wohlfahrtsstaat, da ist es schon ganz gut auseinandergekoppelt. Und das ist ja auch gut so. Also wenn die Eltern teils die gearbeiteten Stunden wirklich reduziert haben, halten sich doch die finanziellen Einbußen oft in Deutschland noch in Grenzen. Also diese Ausweitung zum Beispiel der Kind-Krank-Tage, denke ich mal, war ein sinnvolles Instrument und das wird ja auch noch mal diskutiert, also eventuell noch weiter auszuweiten. Ich denke mal, das ist eine sinnvolle Maßnahme. Davon profitieren alle Eltern. Das andere ist natürlich die Frage der Geschlechtergerechtigkeit hier. Also ich persönlich denke, es ist einfach wichtig, dass sich Väter und Mütter diese Aufgaben teilen. Also insofern würde ich ähnlich wie bei den Vaterschafts-Monaten nach der Geburt, also in der Elternzeit, zusätzliche Tage erlauben, wenn eben auch die Väter mal zu Hause bleiben.
Carsten Roemheld: Ja, sehr gut. Noch mal eine Frage zu den Kindern: Gibt's denn Studien, inwieweit sich das alles jetzt schon negativ auf Kinder ausgewirkt hat, die aktuelle Situation? Und die Frage wäre: Könnte man durch eine Normalisierung – eine möglichst baldige – die langfristigen Konsequenzen noch irgendwie in den Griff bekommen? Oder glauben Sie, dass, wenn wir jetzt noch länger in diesen Lockdown-Modus gehen, das es dann wirklich ganz langfristige, schwerwiegende Konsequenzen auch vor allem bei den kleineren Kindern gibt?
Michèle Tertilt: Ich gehe stark davon aus, dass es da langfristige Konsequenzen für die Kinder geben wird und das können wir auch nicht so schnell rückgängig machen. Es ist jetzt gerade wieder eine interessante neue Studie von Ludger Wößmann vom ifo Institut in München herausgekommen. Also speziell auch für Deutschland. Im ganzen letzten Schuljahr – quasi im Schnitt – waren die Kinder, glaube ich, maximal die Hälfte der Stunden in der Schule oder, selbst wenn sie eben im Homeschooling waren, haben sie halt längst nicht so viel gelernt; viel weniger Zeit mit Schule verbracht, viel mehr Zeit nur vorm Computer verbracht. Die Bewegung ist runtergegangen.
Der Sport bei den Kindern, das ist ja eigentlich total wichtig, auch langfristig. Also ich denke mal, das wird auch gesundheitliche Konsequenzen langfristig haben. Und man sieht noch mal besonders deutlich eben bei Kindern von, ja, sage ich mal, ärmeren Familien, weniger gebildeten Familien, da sind die Effekte noch mal deutlich stärker. Also das heißt, Ungleichheit in der Bildung ist eben noch mal hochgegangen und auch das wird sich langfristig in mehr Ungleichheit auswirken. Das kann man nicht wegreden, das ist einfach so.
Carsten Roemheld: Jetzt hat die Coronakrise ja einen besonderen Fokus auch noch mal auf soziale Berufe gelegt, Alten- oder Krankenpfleger – dass es in dieser Krise besonders stark in den Vordergrund noch mal gekommen ist. Also in den Branchen sind ja auch Frauen häufiger tätig als Männer. Glauben Sie, dass die gestiegene Bedeutung all dieser Berufe – wir werden ja langfristig definitiv viel mehr Pflegekräfte auch benötigen und ähnliches – glauben Sie, dass das in Zukunft auch vielleicht zu mehr Ansehen führen wird und dass vielleicht auch bessere Gehälter gezahlt werden könnten in solchen Berufen? Oder ändert sich das jetzt durch diese aktuelle Krise nicht?
Michèle Tertilt: Na ja, Ansehen alleine spiegelt sich selten im Gehalt wider. Also das Klatschen für die Krankenpfleger, da weiß ich nicht, wieviel denen das gebracht hat. Ich meine, letztendlich ist es dann irgendwann eine Frage von Angebot und Nachfrage. Wir haben in Deutschland ganz klar zu wenige Menschen – sowohl Männer als auch Frauen –, die zum aktuellen Gehalt eben bereit sind, als Alten- und Krankenpfleger zu arbeiten. Den Pflegenotstand hatten wir auch schon vor der Coronakrise, aber der ist natürlich jetzt noch mal besonders in den Fokus geraten.
Wenn wir das als Gesellschaft ändern wollen und, ich meine, die meisten von uns wollen ja gerne in Würde altern; wir wollen im Altersheim eben entsprechend, ja, gepflegt werden. Ja, dann müssen wir dafür auch zahlen. Also aktuell gibt es 3,7 Millionen pflegebedürftige Menschen und das wird in den nächsten Jahren und Jahrzehnten noch mal deutlich wachsen. Also es fehlt wirklich sowohl in Altersheimen als auch in Krankenhäusern Pflegepersonal. Dann wird dem Staat und den privaten Einrichtungen nichts übrig bleiben, als deutlich mehr zu zahlen. Sonst finden wir einfach nicht genug Leute, die da bereit sind, zu arbeiten. Es sei denn, wir tolerieren es als Gesellschaft, dass eben die Altersheime einfach viel, viel zu wenig Personal haben und es keine guten Bedingungen sind. Letztendlich ist das dann eine politische Entscheidung.
Also ich würde sagen, eigentlich müssten die Beiträge zur Pflegeversicherung deutlich steigen. Ich meine, irgendwo muss das Geld ja herkommen, und dann ist auch das Geld da. Dann müssen die Gehälter angepasst werden und dann wird es auch mehr Leute geben, die bereit sind, eben in diesen Jobs zu arbeiten.
Carsten Roemheld: Ja, ich meine, in Asien gibt's ja teilweise die Modelle, dass Roboter oder irgendwelche Automatisierungen da in Pflegeberufen eine Rolle spielen. Das kann ich mir für hier eigentlich nicht wirklich vorstellen, muss ich ehrlich sagen. Deswegen denke ich, Sie haben vollkommen recht, dass es da in Zukunft natürlich noch eine deutliche Ausweitung geben muss und auch hoffentlich eine bessere Bezahlung. Eine Frage noch zur Altersabsicherung von Frauen: Wenn wir von der Ungleichheit von Gehalt sprechen, dann hat das ja auch Auswirkungen auf die finanzielle Absicherung im Alter. Glauben Sie, dass der Staat hier irgendetwas tun kann, um den Frauen eine bessere Möglichkeit zu geben, diese Lücke zu schließen für die Altersvorsorge? Oder ist da im Moment nichts in Arbeit?
Michèle Tertilt: Ja, genau. Also die Rentenlücke zwischen Männern und Frauen, die ist sehr groß in Deutschland. Also im OECD-Ländervergleich ist Deutschland da sogar Schlusslicht. Also die Rente bei deutschen Frauen ist 46 Prozent niedriger als bei Männern. Im OECD-Schnitt sind das nur 25 Prozent – ist immer noch eine Lücke, aber in Deutschland ist fast doppelt so groß als der Durchschnitt. Das liegt natürlich vor allem am Arbeitsmarkt. Der Lohnabstand von Männern und Frauen, das sind auch schon um gut 20 Prozent, diese quasi Lücke. Und dann kommt natürlich hinzu, dass Frauen eben viel häufiger in Teilzeit arbeiten und auch längere Pausen in der Erwerbsbiografie haben. Und das verdeutlicht dann verstärkt die Lücke quasi zum Lebenseinkommen dann noch mal mehr. Und das spiegelt sich in den Rentenansprüchen wider.
So, jetzt ist die Frage: Was kann man machen? Was kann der Staat machen? Also ich denke mal, wir müssen das Steuersystem ändern. Also die Anreize sind völlig falsch in Deutschland. Und wenn wir diese Anreize ändern, ich meine, das wirkt sich dann auch schon relativ schnell aus. Also selbst die 60-Jährigen können noch mal mehr Stunden arbeiten theoretisch, je nachdem, in was für Jobs sie sind. Es arbeiten auch heute viele Frauen – auch ältere Frauen – im Einzelhandel oder eben in Pflegeberufen und so weiter, aber in Teilzeit. Das liegt teils eben am Steuersystem. Und wenn man das anpasst, dann werden auch diese Frauen ihre Stunden aufstocken und dann, ja, zumindest etwas mehr Rente haben.
Carsten Roemheld: Vielleicht ist das eine sehr gute Abschlussfrage, noch mal konkret auf dieses Steuermodell einzugehen. Sie haben ja gefordert, das Ehegattensplitting abzuschaffen und stattdessen die Individualbesteuerung nach schwedischem Vorbild einzuführen. Können Sie das ein bisschen erklären? Und zum Schluss auch, wie das System dort funktioniert und wie das für uns auch eine Lösung sein könnte?
Michèle Tertilt: Genau, also in Schweden gibt es die reine Individualbesteuerung. Das ist ein System, das geht auf eine Steuerreform von 1971 zurück, in der eine getrennte Besteuerung sowie auch ein einheitlicher, nicht übertragbarer Grundfreibetrag zwischen Eheleuten eingeführt wurde. Das ist völlig separat: Meine Einkommensteuer hat nichts mit der meines Mannes zu tun und umgekehrt. Und das hat damals, also das führt zu einer deutlichen Senkung des Grenzsteuersatzes, also des marginalen Steuersatzes des Zweitverdieners.
Es ist einfach in Deutschland so aktuell mit unserem Ehegattensplitting, dass eben in Familien, wenn einer gut verdient – das ist typischerweise der Mann – und die Frau quasi als Zusatzverdienerin gesehen wird, dann lohnt sich das Arbeiten oft nicht oder jedenfalls nicht das Arbeiten in großem Umfang. Weil einfach die Steuerlast so hoch ist, dass Netto nicht mehr dabei rauskommt oder jedenfalls nicht viel mehr. Und dann entscheiden sich viele dagegen. Bei einer Individualbesteuerung wie in Schweden wird dieser Grenzsteuersatz für Frauen – typischerweise die Frauen – viel geringer und dann lohnt sich das Arbeiten eben auch wieder.
Und in Schweden hat sich auch wirklich gezeigt – da gibt es Studien, die sich eben diese Steuerreform von 1971 angucken – und da hat sich gezeigt: Das hat sich ganz klar ausgewirkt. Seitdem arbeiten eben Frauen deutlich mehr. Und man sieht das auch an den Zahlen heute, also aktuell. Wenn ich mir angucke Männer und Frauen mit Kindern im Vorschulalter, dann ist die Erwerbsquote von Frauen ungefähr gleich hoch bei 85 Prozent. In Deutschland hingegen, wenn ich mir die Erwerbsbeteiligung von Müttern mit Kindern im Vorschulalter anschaue, dann bin ich bei 47 Prozent, also die Hälfte quasi. Und das liegt unter anderem am Ehegattensplitting.
Carsten Roemheld: Vielen Dank, Frau Professor Tertilt. Sie haben uns ein paar sehr faszinierende Einblicke gewährt, ein paar Zahlen präsentiert, die uns stark zum Nachdenken anregen sollten auf jeden Fall. Wir nehmen einiges mit davon und hoffen, dass sich da einige Verbesserungen ergeben.
Vielen Dank für Ihre Zeit. Vielen Dank für die tollen Einsichten, die Sie uns heute gegeben haben, und ich hoffe, dass wir uns in Bälde mal wieder sprechen und dann überprüfen können, inwieweit auch einige dieser Vorschläge, die sie gemacht haben, umgesetzt worden sind. Vielen Dank, Frau Professor Tertilt.