Fidelity Podcast
Thema: Tourismus im Wandel: Quo vadis, Urlaub? Was auf Corona folgt — Teil 1
Carsten Roemheld: Herzlich willkommen zur neuen Ausgabe des monatlichen Kapitalmarkt-Podcasts der Fondsgesellschaft Fidelity International. Mein Name ist Carsten Roemheld, ich bin Kapitalmarkt-Stratege bei Fidelity und ich suche an dieser Stelle einmal im Monat Antworten auf eine entscheidende Frage: Was bedeuten die wirtschaftlichen Entwicklungen von heute für die Anlagestrategie von morgen?
Die Tourismusindustrie zählt zu den Branchen, die weltweit am stärksten von der Coronakrise getroffen wurden. Ansteckung, Sorgen, Reisewarnungen und andere Einschränkungen haben das Geschäft einbrechen lassen. In der Zeit vom Ausbruch der Pandemie bis Ende April 2021 hat die Branche nach Daten der Welt-Tourismus-Organisation UNWTO weltweit Einbußen in Höhe von 175 Milliarden Euro erlitten. Die Folge: Viele Unternehmen mussten in den Monaten des Stillstands Insolvenz anmelden. Rund um den Globus verloren Menschen Arbeit und Einkommen.
Nach anderthalb Jahren Pandemie scheint inzwischen das Schlimmste überstanden. In Deutschland erleben die Urlaubsregionen einen Ansturm an Touristen, wie es ihn lange nicht gegeben hat. So könnte das Reisen zu den Haupttreibern in die Inflation gehören. Denn mit der Reisenachfrage sind auch die Preise zuletzt stark gestiegen. Was aber kommt nach dem Corona-Schock? Wie hat die Pandemie die Branche verändert? Kehrt unser altes Reiseverhalten irgendwann zurück?
Darum geht es in meinem heutigen Gespräch. Zu Gast ist Dr. Markus Heller. Er ist geschäftsführender Gesellschafter der Unternehmensberatung Dr. Fried und Partner und berät seit mehr als 20 Jahren Unternehmen aus der Tourismusindustrie. Dr. Heller ist auch Gründer und Eigentümer der Travel Data & Analytics GmbH. Dieses Unternehmen analysiert regelmäßig Buchungsdaten, erfasst die aktuelle Lage und erstellt Prognosen für die Reisebranche. Er sagt: Auch wenn der Staat mit Maßnahmen wie dem Kurzarbeitergeld einen Kollaps verhindern konnte, liegt das Buchungsaufkommen noch immer weit unter dem, was zu dieser Jahreszeit vor Corona normal war. Gleichzeitig steigt der Aufwand. Mit jeder Reisewarnung müssen Anbieter Buchungen anpassen oder stornieren. Kein Wunder also, dass die Preise steigen. Und er ist sich doch nicht sicher, dass das auf Dauer so bleiben wird.
In unserem Gespräch ging es nicht nur um Probleme. Mit der Pandemie sind auch Mut, Innovationsgeist und Tatendrang gefragt wie nie. Mir ist das einmal mehr bewusst geworden. Die Zukunft gehört den Unternehmen, die sich jetzt Herausforderungen selbstbewusst stellen, die notwendige Veränderungen früh anstoßen und die es trotz aller Schwierigkeiten schaffen, Kunden ein Gefühl von Vertrauen zu vermitteln.
Wir haben diesen Podcast für Sie in zwei Folgen aufgeteilt: Im ersten Teil, den Sie im Anschluss hören, geht es vor allem um eine Bestandsaufnahme zum Ende der Pandemie und um die großen Herausforderungen, vor denen die Branche jetzt steht. Außerdem erfahren Sie, was sich hinter dem Trend zum „Bleasure-Urlaub“ verbirgt. Im zweiten Teil sprechen wir dann über die großen strukturellen Veränderungen. Es geht um mehr Nachhaltigkeit, neue Vertriebswege und neue Marktteilnehmer. Wir diskutieren, wo sich die Auswirkungen des Megatrends Digitalisierung am stärksten zeigen. Und wir blicken auf die Frage, wie sich die Tourismusindustrie verändern muss, wenn durch mehr Wohlstand in den Schwellenländern auch mehr Menschen das Reisen für sich entdecken.
Ich wünsche Ihnen gute Unterhaltung mit dem ersten Teil unseres Gesprächs und einen spannenden Einblick in die Zukunft der Tourismusindustrie. Wenn Sie mögen, melden Sie mir gern zurück, was Sie zu dem Thema denken. Ich freue mich auf den Austausch.
Carsten Roemheld: Herr Dr. Heller, können Sie uns zu Beginn unseres Podcasts vielleicht einmal kurz eine Einordnung vornehmen, wie wichtig der Tourismus überhaupt ist, sowohl für Deutschland, aber vielleicht auch in einem globalen Kontext? Wie ist das aus Ihrer Sicht?
Markus Heller: Ja, Herr Roemheld, ich denke mal, wir haben hier eine Branche, die ist einerseits relativ schwer zu greifen, auf der anderen Seite findet sie in allen Wertschöpfungsebenen einer Volkswirtschaft statt. Wir reden ja auch im Tourismus von einer sogenannten Querschnittsbranche: Das heißt, diese Branche berührt tatsächlich sämtliche Segmente einer Volkswirtschaft. Und das Spannende dabei ist: Sie hat also letztendlich häufig auch die Funktion eines Katalysators und das sehen wir halt jetzt gerade in der Krise, wie schwer die Reisebranche letztendlich getroffen ist durch die Coronakrise und wie sich das sehr direkt und schnell auch auf andere Bereiche durchschlägt.
Carsten Roemheld: Wir hatten jetzt fast ein Jahr Stillstand und die Reiselust der Deutschen steigt natürlich wieder spürbar an, die Regierungen haben Reisewarnungen und Beschränkungen wieder spürbar gelockert. Wie entwickelt sich das Geschehen in der Tourismusbranche aktuell? Wie hart waren die vergangenen Monate wirklich und wen haben sie am meisten getroffen?
Markus Heller: Tja, da haben wir eine ganze Reihe von Themen, die Sie da jetzt gleich eingangs fragen. Ich denke mal, das Geschehen, wir sind da auf einem positiven Weg, wir sind zurück in die Spur, sage ich mal, aber man darf nicht vergessen, wir sind ja nach wie vor sehr limitiert. Also wenn wir uns Deutschland als Quellmarkt anschauen, dann fehlen ja nach wie vor gerade im touristischen Bereich die sämtlichen Ferndestinationen, wir haben im Moment ein Buchungsvolumen von knapp einem guten Drittel oder ein gutes Drittel des Buchungsvolumens im Vergleich zu 2019. Also wenn ich jetzt gerade in den nächsten Minuten einige Zahlen wiedergebe, dann bezieht sich das im Vergleich zumeist auf das Jahr 2019, weil das natürlich das letzte halbwegs normale oder durchaus gute Jahr für die Touristik war. Also wir sind beim Jahresbuchungsvolumen von gerade mal einem Drittel.
Wir haben mit jeder Reisewarnung, die zurückgenommen wird, eine positive Entwicklung gerade für diese Märkte, und wir sehen auch eine sehr gute Entwicklung des Neubuchungseingangs. Was spannend bei alledem ist, ist, dass wir mittlerweile wochenweise – also wir hatten uns ja kurz mal unterhalten schon im Vorfeld, dass ich da noch eine zweite Firma habe, die den ganzen Tag nichts anderes tut, als Buchungsdaten zu tracken – und wir sehen, dass wir in den Kalenderwochen tatsächlich eine Reihe von sehr erfolgreichen Wochen haben, wo wir schon weit über 100 % der 2019 nach Vergleichswoche liegen. Aber, ich sage mal, das Fundament der gesamten Branche ist im Moment etwas weggebrochen, sodass wir trotz hoher Neubuchungseingänge nach wie vor erst wie gesagt bei einem Drittel liegen.
Sie hatten dann gefragt, wie sich diese vergangenen Monate tatsächlich entwickelt haben, und da kann ich sagen, das war schon sehr dramatisch. Wir haben im letzten Jahr mit unserer Beratung Fried & Partner die Bundesregierung begleitet bei einem Aktionsplan zur nationalen Tourismusstrategie und haben in dem Kontext auch eine ganze Reihe von Corona-Einsätzen gefahren, sage ich mal. Und was das Besondere in dieser Branche ist: Wir sind ja de facto in einer Branche, die quasi als einzige mit einem echten Berufsverbot belegt wurde. Das heißt: Wir hatten in diesen Monaten, gerade im letzten Jahr 2020 und im ersten Halbjahr 2021, die Situation, dass ganz konkret die Pax-Zahlen im Flugbereich, also die Passagierzahlen im Flugbereich, um über 90 % eingebrochen sind. Wir hatten den Anteil der Kurzarbeit in dieser Branche, der liegt bei über 90 % zum Großteil, und wir sehen, dass wir da natürlich eine existenzbedrohliche Situation hatten. Und was wir dann aber, glaube ich, ganz gut gemeinsam auch im Sinne der Bundesregierung, mit der Bundesregierung geschafft haben, war, eine ganze Reihe von Maßnahmen zu identifizieren, die wirklich die Branche am Leben halten. Und ich denke, das ist ein sehr wichtiger Punkt.
Wie dramatisch sah es aus? — Ja, sehr dramatisch, aber zum Glück aufgrund von Kurzarbeitergeld und auch von den Möglichkeiten der diversen Überbrückungsgelder konnte die Branche zumindest mal am Leben gehalten werden. Ich denke, was jetzt dann spannend wird, ist natürlich die Frage, wie sich das im Nachlauf dann weiterentwickelt, wie vor allem die gesamten Großkonzerne in ihrer Kreditfinanzierung weiter dastehen. Und was wir auch haben, vielleicht noch mal auf die Frage, wen es denn am meisten getroffen hat, auch hier das in Anführungszeichen „Interessante der Branche“, diese Querschnittsfunktion betrifft auch sämtliche Wertschöpfungsbereiche der Touristik: Also egal, ob Reisebüro, Reiseveranstalter, ob die Kreuzfahrtbranche, die war zu 99 % stillgelegt – das haben Sie sicherlich mitgekriegt –, es waren sämtliche Wertschöpfungsbereiche betroffen. Wir haben gerade im Event-Bereich etc. natürlich auch einige, die nach wie vor betroffen sind, und in der Hotellerie und im Gastgewerbe hatten wir ebenfalls gigantische Einbußen, die sie nur teilweise durch den Binnentourismus wieder auffangen konnten.
Carsten Roemheld: Sie haben selbst in einer Studie, die Sie eben angesprochen haben, letzten Herbst für das Wirtschaftsministerium prognostiziert, dass 40 bis 60 % der Branchenunternehmen akut von der Insolvenz bedroht und damit ungefähr 1,2 bis 1,8 Millionen Arbeitsplätze gefährdet seien. Wie ist die Lage jetzt, knapp ein Jahr später?
Markus Heller: Ich hab’s ja gerade beschrieben: Es wurden eine ganze Reihe von Maßnahmen seitens der Bundesregierung eingeleitet, insbesondere der fiskalischen Unterstützung, die haben zumindest das Überleben für viele Unternehmen gesichert. Bitter war es für eine Reihe der bis dato sehr gesunden Unternehmen im mittelständischen Bereich, da haben wir ein paar Reisebüroketten in die Insolvenz gehen sehen oder die dann Teile ihrer Bereiche verkaufen mussten. Das war besonders bitter, weil sie zu dem Zeitpunkt etwas zu groß waren, um in die entsprechenden Fördergelder reingenommen zu werden, aber zu klein, um entsprechende große Kredite aufzunehmen. Also schade um die natürlich, die bisher als Vorzeigeunternehmen tatsächlich der Branche es als Erste erwischt hat.
Ich denke aber generell, wie könnte man sagen, das Damokles-Schwert schwebt weiterhin über der Branche. Die Frage wird sicherlich sein, wie die Großkonzerne in Bezug auf Staatsbeteiligungen oder auch Kreditrückzahlungen vorankommen. Ich denke, auch hier wird es natürlich eine ganze Menge von Tafelsilber geben, das veräußert werden muss, um durchfinanziert zu werden. Wir haben letztendlich gesehen, dass die Coronahilfen gegriffen haben. So, und jetzt will ich natürlich nicht zu denen gehören, die da jetzt gleich wieder ein Haar in der Suppe finden, aber wir haben auch die Herausforderung, dass aufgrund dieser Hilfen eine ganze Reihe Unternehmen am Leben erhalten werden konnten, die wirtschaftlich schon vorher eine angespannte Situation hatten. Das heißt, die Grundfrage ist natürlich: Wie können diese Unternehmen in Zukunft in ihren Geschäftsmodellen sich weiterentwickeln, um auch nach Einstellen der Hilfen und der Überbrückungsgelder dann erfolgreich wirtschaften zu können?
Da sehe ich eine große Herausforderung. Also ich denke, die Wahrheit kommt dann tatsächlich nach den Überbrückungshilfen. Und was allerdings extrem spannend ist, Sie haben ja gefragt, wie weit könnte das, also Sie haben mich konfrontiert mit der Aussage der gefährdeten Arbeitsplätze: Ich gehe davon aus, wir haben eine große Fluktuation im Bereich wichtiger Arbeitsplätze. Dort sehen wir in der Branche derzeit, dass wir eine ganze Reihe von Mitarbeitern haben, die die Branche verlassen, insbesondere höher qualifizierte, auch im IT-Bereich. Das ist schwierig für uns. Auf der anderen Seite sehen wir in der Branche, dass es aufgrund dieser existenziell bedrohlichen Situation doch einen ganz schönen Schub von Maßnahmen gab, die geholfen haben, eine ganze Reihe von Unternehmen fitter zu machen. Und das ist sicherlich etwas, wo wir sehen, wie die Digitalisierung im Moment greift.
Carsten Roemheld: Viele Leute interessiert natürlich, wie sich die Preise weiterentwickeln. Wir sehen im Moment einen relativ starken Preisanstieg in verschiedenen Segmenten der Touristik. Das zieht offensichtlich mit der Nachfrage an. Wie sehen Sie das? Sind es einmalige Nachholeffekte, die jetzt kumuliert eine Rolle spielen? Oder glauben Sie, dass wir dauerhaft mit höheren Niveaus von Reisepreisen leben müssen?
Markus Heller: Na ja, wer die Branche kennt, hofft für die Branche – jetzt natürlich vielleicht nicht für den Urlauber per se, aber für die Branche. Der Branche täte es gut, wenn wir die Preise halten können. Wir sehen in unseren Daten, die wir wie gesagt regelmäßig analysieren, dass wir im Moment, ja, ich sag mal, Reisepreise haben, die round about 10 bis 15 % über dem 2019er Niveau liegen im Bereich der Vorausbuchungen. Hier wird es sicherlich spannend sein, zu fragen: Woran liegt das?
Das kann einerseits an der Produktauswahl liegen. Wir sehen, dass natürlich im Moment Produktsegmente stark gebucht werden wie Ferienwohnungen, die per se schon mal im Preis selber einiges drinnen haben. Wir sehen, dass Fernreiseflüge auf der anderen Seite im Moment fehlen. Also im Moment sortiert sich sehr viel. Wir sehen, dass im Moment der Warenkorb einer Buchung knapp um die 100 € Aufpreis ausmacht. Das ist bei einem, ja, ich sag mal, groben Warenwert von 845 €, von dem wir im Moment im touristischen Segment ausgehen, schon ein ganz ordentlicher Aufpreis. Das ist aber auch und das muss man sehen, aus einer, ja, ich sag mal, aus einer Inflationssicht heraus zu sehen eine Herausforderung. Ja, weil wir dort höhere Preise haben. Aus einer reinen Branchensicht ist es allerdings natürlich so, dass wir diese Preise deswegen anheben mussten, weil der Aufwand im Moment immens ist.
Wenn Sie sich vorstellen, dass bei jeder Reisewarnung umgebucht wird, so sehen wir, dass wo früher eine Buchung nur ein- oder zweimal angefasst wurde, wir heute eine Buchung drei-, vier-, fünfmal anfassen müssen. Das ist egal, ob es der Reisemittler, es ist auch egal, ob eine Online Travel Agency, eine OTA, wie man im Jargon hier sagt, oder eben auch der Reiseveranstalter ist. Wir haben Prozesse, die sehr aufwendig sind. Ob das sich jetzt inflationsmäßig auswirkt oder nicht, sei mal dahingestellt, wir sehen aber, dass der Aufwand im Moment den Preis rechtfertigt.
Ich habe ein bisschen Sorge, dass in der Zukunft die Preise sich womöglich wieder dann doch in ein Maß zurückbegeben, das wieder an sehr starke Wettkampfpreise erinnert. Aber da haben wir die Hoffnung in der Branche, dass sich der Verbraucher auch hier über den Aufwand und die Wertigkeit des Preisgeldes bewusst ist und noch bewusster wird, sodass wir da davon ausgehen, dass wir zumindest ein stabiles Preisniveau erhalten sollten.
Carsten Roemheld: Es gab vor Kurzem eine Aussage von der UNWTO, von der World Tourism Organisation, die von Verlusten von über 4 Billionen US-Dollar auf globaler Basis für den Tourismussektor gesprochen hat, die die Pandemie gekostet haben könnte. Das ist eine schier unglaubliche Zahl. Was können Sie zu solchen Schätzungen sagen? Was glauben Sie? Hat diese Schätzung irgendwie einen Gehalt, den Sie nachvollziehen können? Oder wie sehen Sie das?
Markus Heller: Ja, also, ich bin ja selber in dem Segment der Prophezeiung tätig, also jemand, der ja auch als Berater immer die Glaskugel dabeihat. Also grundsätzlich glaube ich schon, dass wir in solchen Größenordnungen weltweit dabei sind. Wir müssen halt sehen, was für Auswirkungen man in der Touristik im Moment zu verkraften hat. In den einzelnen Volkswirtschaften, die wesentlich mehr als viele nordeuropäische Länder oder auch mitteleuropäische Länder von der Touristik abhängig sind, für jene Destinationen, in denen das Bruttoinlandsprodukt zu 30, 40, 50 oder teilweise auch 60, 70 % vom Tourismus abhängt, also dort sind die Einbußen immens und auch in Relation. Wir sehen, dass allein im deutschen Buchungsaufkommen, wenn Sie sich einfach vorstellen, dass wir heute nur bei 30 % des Gesamtjahresbudgets liegen und wir das im letzten Jahr 2020 ja noch mal unterwandert hatten, also dort lagen wir irgendwo bei um die 20 % vielleicht im Buchungsvolumen, dann ist das originär das Geld, das hier genannt ist. Und deswegen sehe ich da schon eine Diskussion in der Höhe als gerechtfertigt an.
Carsten Roemheld: Wenn Sie sich mal die einzelnen Segmente der Touristikindustrie anschauen, was ist aus Ihrer Sicht davon einzuschätzen als Verlierer der Krise und welche Sub-Branchen, welche Kategorien sehen Sie möglicherweise als Gewinner?
Markus Heller: Ja, da muss man jetzt natürlich überlegen: Ist da der Wunsch Vater des Gedankens?! Ich denke mal, was wir insbesondere in der deutschen Touristik sehen, ist natürlich, dass die Pauschalreise per se ja immer wieder mal unter Druck geraten sind und auch immer wieder mal totgesagt wurden, weil es natürlich einfach ist, alles Mögliche auf den einzelnen Plattformen sich zusammenzubuchen. Wenn man sich allerdings dann mal überlegt, dass ein hoher Prozentanteil – es gibt Aussagen, die gehen von 60, 70, 80 % des Volumens aus – der zurückgebrachten Reisenden, also damals, als die Pandemie ausgebrochen ist, haben diese Reiseveranstalter das Gros der Leistung erbracht, die ja notwendig war, um in einer Gesamtorganisation und mit der gesamten Infrastruktur, die diesen Unternehmen zur Verfügung steht, die Menschen wieder sicher nach Hause zu bringen. Die Airlines natürlich entsprechend im Verbund dazu. Wenn ich mir also vorstelle, dass diese Art des Fallnetzes, das dort aufgespannt wurde, doch zu großen Teilen von solchen Wertschöpfungsunternehmen quasi mitaufgespannt wurde, dann glaube ich, dass das Unternehmen sind, die in Zukunft wieder stärker eine Berechtigung haben, als sie das in der Vergangenheit womöglich hatten.
Auf der anderen Seite sehen wir natürlich auch, dass die großen Plattformen wie booking.com oder Airbnb natürlich mit ihren Modellen sehr weitreichende oder ein sehr weites Netz aufspannen können und Menschen in allen Facetten ansprechen können. Lange Rede, kurzer Sinn: Ich glaube, dass alle die Unternehmen am Ende des Tages weiter erhalten bleiben und gewinnen, klar gewinnen werden, die sich der digitalen Herausforderung gestellt haben; die die Wertschöpfung breit fassen und die entsprechende Prozesse anbieten, die den Kunden auch abholen. Das heißt: Egal ob in einer Servicedenke oder im Denken an Sicherheit. Ich glaube, gerade, was diese Unternehmen bis dato gemacht haben, sie haben sehr viel mit Sicherheit kommuniziert, in Zukunft wird es noch sehr viel mehr dahin gehen, dass Unternehmen dort erfolgreich sein werden, wo sie dem Kunden ein Gefühl von, ja, ich sag mal, Vertrautheit mitgeben können, wo sie die Services übernehmen können. Und das hat die Pandemie gezeigt, da sind wir, glaube ich, relativ gut unterwegs.
In Summe, weil Sie auch gefragt haben, welche Segmente: Ich persönlich glaube sehr stark an die Touristik und einen Tourismus per se, weil der Mensch jetzt nach eineinhalb Jahren Homeoffice am Ende auch wieder sieht, wie schön das Reisen ist. Und wenn Sie sich auf entsprechenden Plattformen umschauen und dort, wo kommuniziert wird, ist das Reisen in aller Munde, ja, jeder redet letztendlich darüber: Wann kann ich endlich wieder los? Es gibt eine Vielzahl von jungen Menschen, die impftechnisch gar nicht so stark gefährdet sind. Der Haupttreiber für viele, sich impfen zu lassen, ist einfach, sie wollen wieder reisen. Deswegen glaube ich, dass sämtliche Wertschöpfungsbereiche der Branche weiterhin eine Daseinsberechtigung haben. Klassische Frage, die jetzt wahrscheinlich kommen müsste, wie schaut‘s aus mit: Sind wir dann mehr online oder mehr stationär unterwegs?
Ich glaube an der Stelle auch, dass wir natürlich einen onlineseitigen ordentlichen shift haben, das sehen wir auch in den Buchungen. Wir sehen, dass der Online-Vertrieb weiter an Bedeutung, an Volumen gewonnen hat. Wir sehen aber auch, dass die serviceorientierten stationären Vertriebsorganisationen, also klassische Reisebüros, überall dort punkten, wo Menschen jetzt in gewisser Weise auch alleingelassen wurden. Und das, glaube ich, wird in Zukunft noch ein stärkeres Differenzierungsmerkmal sein, dass wir die, die quasi gerne günstig und schnell verreisen wollen, dass man die natürlich gerne online abbilden kann. Aber die, die, ja, ich sag mal, die Komplexität des Reisens in Zukunft noch erkennen oder die den, ich sag mal, den roten Pfad nicht mehr so ganz genau erkennen, die werden sich immer wieder noch stärker an serviceorientierte Unternehmen richten. Und das können Reisebüros, genauso auch digitale Onlineplattformen sein.
Carsten Roemheld: Davon ist auszugehen. Infolge der Pandemie haben jetzt viele Unternehmen in Rekordzeit neue Formen des Reisens entwickelt: kontaktarmer Urlaub, Homeoffice am Strand. Inwiefern hat sich die Coronakrise für die Branche als Katalysator für Innovationen erwiesen? Und wo sehen Sie den größten Bedarf an neuen Ideen, Produkten und Angeboten mit Blick auf die Kundenbedürfnisse?
Markus Heller: Also spannend! Das ist allerdings … also, da muss ich zweigeteilt antworten. Das eine ist etwas, was sich schon in den letzten Jahren vor Corona entwickelt hat, das ist das sogenannte „Bleasure“: Das ist so Business und „Leisure“ in einer Kombination, also die Reise, die Urlaubsreise zu kombinieren mit der Arbeit und umgekehrt. Ich denke, das hat eine massive Bestätigung bekommen, dass dort Konzepte weiterentwickelt werden, wie Hotels noch besser ausgestattet werden, auch im Urlaubsreisesegment, dass die Menschen dort eine entsprechende Möglichkeit haben, sich auch entsprechend mit Arbeit zu versorgen und dort arbeiten können.
Gleichwohl glaube ich nicht daran, dass in Zukunft alle nur noch unter der Palme sitzen und dort arbeiten. Das ist ja auch interessant, wenn Sie sich die einschlägigen Urlaubschats so anschauen, dann gibt es doch da viele, die sagen: Na ja, das sind zwar schöne Bilder, aber arbeiten kann ich nicht wirklich mit Sand im Laptop. Deswegen: Es wird eine Kombination geben, es wird Menschen geben, die wesentlich intensiver miteinander alles kombinieren wollen. Ich glaube aber auch, es wird sehr bald schon eine Gegenbewegung dazu geben. Das haben wir in der Vergangenheit schon ein paarmal gehabt. Ja, ich sag mal, sich zu entspannen im wahrsten Sinne des Wortes. Das heißt: auch die Arbeit sein zu lassen und die komplette Hundertprozent-Leisure-Destinationen aufzusuchen. Also das sind, glaube ich, Geschäftsbereiche, die sich gut entwickeln werden.
Eine andere Sache, die wir sehen, die sich auch da digital getrieben entwickelt: Was Sie früher nicht machen konnten – also früher, das ist auch tatsächlich vor 2, 3, 4 Jahren noch gewesen –, dass Sie Ihre Leistungen, die Sie am Urlaubsort wahrnehmen wollen, die Leistungen, die Sie vielleicht auch frühzeitig buchen wollen, dass Sie dazu früher gar nicht so wirklich in der Lage waren, technisch das alles schon abzubilden. Und da glaube ich, wird es den größten Shift geben. Auch, ich sag mal so, vor dem Hintergrund: In was lohnt es sich denn, irgendwann mal zu investieren?
Ich glaube, da wird es eine massive Veränderung geben, was diesen Wertschöpfungsanteil am Ort der Destinationen betrifft. Also wer wird dort in diesem Bereich die besten Angebote bilden. Das war früher im klassischen Sinne beim Reiseveranstalter der Reiseleiter, der gegebenenfalls noch einen Landausflug oder noch mal einen Ausflug organisiert hat oder mitverkauft hat. Ich glaube, dort werden wir sehen, wie viel mehr der Anteil in der Wertschöpfung bereits im Quellmarkt quasi stattfindet und dort sicherlich auch das Buchungsverhalten noch mal massiv beeinflusst.
Carsten Roemheld: Also den Begriff „Bleasure“ muss ich mir unbedingt merken, das ist ja einigen, die nicht so gut Englisch sprechen, vielleicht schon mal unbewusst über die Lippen gegangen, aber ich finde es einen sehr schönen Begriff, muss ich ganz klar sagen.
Damit sind wir am Ende des ersten Teils unseres Gesprächs angekommen. Herr Dr. Heller, ich danke Ihnen sehr herzlich für die spannenden Einblicke in die Tourismusbranche. Es geht aber noch weiter. Im zweiten Teil dieses Podcasts sprechen wir über die großen Fragen, die die Industrie umtreiben: Nachhaltigkeit, Digitalisierung und Over-Tourismus. Also die Frage, was passiert, wenn mit wachsendem Wohlstand in den Schwellenländern immer mehr Menschen zu einer beliebten Destination stürmen. Ich freue mich, wenn wir uns an dieser Stelle wieder hören. Ihr Carsten Roemheld.