Carsten Roemheld: Die Weltklimakonferenz in Dubai Ende 2023 hatte eine Debatte aufgeworfen, von der ich offen gestanden eigentlich dachte, wir hätten sie hinter uns gelassen. Es ging um den längst beschlossenen weltweiten Ausstieg aus Kohle, Öl und Gas. Sultan Al Jaber, Gastgeber der Konferenz, äußerte auf einmal Zweifel daran, ob dieser Schritt denn wirklich notwendig sei und ob eine industrielle Welt ohne fossile Energieträger überhaupt realistisch wäre. Dazu ist zu sagen: Sultan Al Jaber ist nicht nur Wirtschaftsminister der Vereinigten Arabischen Emirate, sondern als solcher auch Chef der staatlichen Abu Dhabi National Oil Company.
Während also auf der Weltbühne wieder offen über den Ausstieg vom Ausstieg aus dem fossilen Zeitalter spekuliert wurde, stellen stark gestiegene Gaspreise die EU vor deutlich gegenwärtigere Herausforderungen. Die Fragen lauten: Wie lässt sich die Energieversorgung sicherstellen, wenn man zugleich seine Klimaziele erreichen und dabei nicht verarmen will? Können wir die Ziele der grünen Transformation ohne Wohlstandsverluste verwirklichen? Welche Rolle spielen fossile Energien in der künftigen Energieversorgung? Können erneuerbare Energien die fossilen Brennstoffe tatsächlich vollständig ersetzen? Und welche Rolle spielen bei all dem Staaten wie Russland oder die Emirate?
All das bespreche ich heute mit Jacopo Maria Pepe. Er ist Experte für Energiepolitik und Handelsbeziehungen. Seit 2022 leitet er das Projekt „Geopolitik der Energiewende/ Wasserstoff“ bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Herr Pepe wird uns in den nächsten 45 Minuten einen Blick in die Zukunft der Energie in Deutschland und in der EU geben. Heute ist der 18. April 2024, mein Name ist Carsten Roemheld und ich bin Kapitalmarktstratege bei Fidelity. Ich freue mich sehr auf das Gespräch mit Herrn Pepe beim Kapitalmarktpodcast von Fidelity. Herzlich willkommen, Herr Pepe!
Jacopo Maria Pepe: Vielen Dank, Herr Roemheld.
Carsten Roemheld: Lassen Sie uns gleich mal die Karten auf den Tisch legen und über die Energieabhängigkeit Deutschland sprechen. In den vergangenen Jahren haben wir gesehen, wie wir mitten in einer Energiekrise standen. Alternativen gab es in Deutschland auch keine, denn wir waren und wir sind mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien längst noch nicht da, wo wir sein wollten. Deutschland hat sich ja das Ziel gesetzt, bis zum Jahr 2045 treibhausgasneutral zu werden. Das sind kaum mehr 20 Jahre. Inwieweit können erneuerbare Energien denn fossile Treibstoffe bis dahin ersetzen, und welche Hindernisse müssen wir noch überwinden, damit das klappt?
Jacopo Maria Pepe: Ja, es ist eine nicht einfach zu beantwortende Frage, mit der ich mich selber wie so wie viele in der Energiebranche befasse. Ich würde das so sagen: Fossile könnten unter bestimmten Bedingungen und wenn wir den langen Zeithorizont betrachten, den sie genannt haben, also die Ziele 2045/ 2050, dann könnten sie ersetzt werden. Das ist aber kein Selbstläufer. Also die ganze Energietransition, also der Weg dorthin, ist kein Selbstläufer. Ich würde nochmal einen Schritt zurück machen und sagen, wenn wir den Blick nicht auf 2045 legen, sondern schon auf das Jahr 2030, da haben wir in Deutschland das Ziel, 80 Prozent des Stromsektors durch erneuerbare Energien zu versorgen und 65 Prozent weniger Emissionen zu 1990. Und das ist schon per se in diesem kurzen Zeithorizont eine enorme Aufgabe. Wir hatten zwar 2023 ein sehr gutes Jahr, wo wir bereits im Strombereich über 50 Prozent des verbrauchten Stroms aber auch des erzeugten Stromes aus erneuerbaren Energien bezogen beziehungsweise verbraucht haben. Aber das ist nicht die ganze Geschichte. Das ist ein Jahr, und das macht natürlich noch keinen Trend. Wir müssen gleichzeitig die Atomkraft und die Kohleverstromung schrittweise ersetzen. Aus Atom sind wir schon ausgestiegen, Kohle wird kommen. Und dadurch muss alles durch Erneuerbare ersetzt werden. Ich glaube, dass wir zwar auf einem guten Pfad sind, aber die Hindernisse auf dem Weg sind groß. Wir haben Probleme mit Planungs- und Genehmigungsverfahren, trotz großer Fortschritte seit 2022. Wir haben jährliche Zubauziele, die enorm ambitioniert sind, gerade bei Offshore-Wind und Onshore-Windanlagen, bei denen auch die Bundesländer das Sagen haben, und viele von denen verfehlen die Ziele bereits. Also hinken wir zum Teil hinterher. Wir haben einen enormen Bedarf an Infrastrukturzubau beziehungsweise -ausbau. Da sind wir auch nicht so weit. Aber auch wenn das alles gelingt: Der Stromsektor ist nicht das Energiesystem insgesamt. Da bleibt die Frage: Wie stabilisieren wir das Stromnetz? Und wie garantieren wir die Grundlast bei Dunkelflaute, also wenn die Sonne nicht scheint und der Wind nicht weht? Zweitens: Was machen wir mit der Industrie, also mit der energieintensiven Industrie, und mit dem Wärmesektor, zum Teil auch mit dem Transportsektor? Diese Sektoren lassen sie nicht direkt und schnell elektrifizieren, was wiederum zu ihrer Frage führt. Können wir uns von den Fossilen befreien? Ich fürchte, dass wir weiterhin von fossilen Treibstoffen abhängig sein werden, kurz- bis mittelfristig und unter gewissen Umständen auch langfristig, also, dass wir CO2-Neutralität nicht unbedingt mit einer hundertprozentigen Elektrifizierung des Energiesystems gleichsetzen können. Das heißt, da muss noch was passieren.
Carsten Roemheld: Und für diese Lücke brauchen wir möglicherweise neue Technologien. Das ist ja auch immer wieder die Frage oder die Aussage gewesen, dass die Ziele überambitioniert sind und es eigentlich nicht funktioniert, ohne dass wir vielleicht noch mit weiteren neuen Technologien arbeiten. Sie forschen unter anderem zum Thema Wasserstoff. Ist das eine Technologie, die dabei helfen kann, den Übergang zu den erneuerbaren Energien zu erleichtern? Und wie ist das mit grünem Wasserstoff? Wir bräuchten ja, um es wirklich effizient zu machen, grünen Wasserstoff. Ist das realistisch, dass das als Technologie in Frage kommt?
Jacopo Maria Pepe: Also, die erste Frage würde ich mit Ja beantworten, aber mit einigen Bedingungen und Einschränkungen. Also erstens: Wasserstoff sollte im Idealfall nicht nur als Brückentechnologie, also im Übergang, helfen, sondern tatsächlich fester Bestandteil eines neuen Energiemixes werden. Das ist die eine Aussage. Die zweite Aussage ist aber, dass dies nicht gelingen kann, wenn man nur grünen Wasserstoff im Blick hat. Grüner Wasserstoff ist emissionsfrei, ist aber momentan noch extrem teuer im Vergleich zu anderen Wasserstoffformen oder zu der direkten Anwendung von Strom. Zweitens: Es gibt für den grünen Wasserstoff keinen Markt. Das heißt, es ist weder das Angebot noch die Nachfrage gesichert, das heißt, es gibt keine Mengen, und es gibt also keine Produktionsskalierung. Wir sind gerade dabei, einen solchen Markt aufbauen zu wollen, momentan läuft vieles an, aber noch nicht wirklich in dem Tempo, das wir uns versprochen haben. Was eigentlich nicht bedeutet, dass wir auf Wasserstoff per se verzichten wollen, sondern dass wir im Bereich des Wasserstoffs auch Technologieoffenheit betreiben sollten, wenn es zum Beispiel darum geht, auch dem fossilen Erdgas eine Zukunft zu geben und durch Carbon-Capture-Technology aus Erdgas blauen Wasserstoff herzustellen. Wir wissen, dass die Bundesregierung gerade von einer strikten grünen Farbenlehre abgewichen ist und abgerückt ist und zumindest blauen Wasserstoff als Importprodukt toleriert. Es wird aber kein blauer Wasserstoff gefördert. Das heißt, wir werden Projekte zum blauen Wasserstoff nicht subventionieren oder fördern. Das heißt, einige Weichen müssen noch gestellt werden beziehungsweise justiert werden, damit wir ab 2030 - also auch nicht gleich - mit Wasserstoffmengen rechnen könnten, die uns ermöglichen, zum Beispiel die schwer zu dekarbonisierende Industrie, die Stahlindustrie, die Chemieindustrie, die Glas- und Keramikindustrie zu dekarbonisieren.
Carsten Roemheld: Sie sprachen gerade vom Erdgas. Das ist ja auch immer wieder ein Thema, wenn es um Brückentechnologien geht. Das war eine Zeitlang schon im Abseits, aber es könnte wieder hervorkommen. Ist das ein Konzept, das wir hier in Deutschland auch mit den neuen LNG-Terminals fahren können?
Jacopo Maria Pepe: Das müssen wir, wenn wir diese Lücke schließen wollen, und gleichzeitig aber nicht wieder in eine Energiekrise oder sogar in eine Angebotsknappheitskrise kommen wollen, die selbst verschuldet wäre in diesem Fall. Denn wenn wir auf Atomstrom verzichten, dann verknappt sich das Angebot automatisch, und wenn wir alles auf Strom setzen wollen und Kohle wird auch irgendwie so schnell wie möglich ausgesetzt, spätestens 2038, dann brauchen wir im Grunde genommen ein zuverlässiges Backup: also Gaskraftwerke, damit wir die Erneuerbaren so schnell wie wir uns wünschen aufbauen können, gleichzeitig aber diese Dunkelflaute, also diese Grundlast, also die Stabilität des Netzes weiterhin garantieren können. Plus der Industrie zu ermöglichen, dass die Transition möglichst sanft und ohne Brüche erfolgt. Das war im Grunde genommen der Plan noch vor dem Ukraine-Krieg, als wir noch Erdgas aus Russland bezogen haben, was uns natürlich auch Planungssicherheit gegeben hat, denn das war an langfristige Verträge gekoppelt, die sich im Laufe der Jahre auch preislich zu unseren Gunsten entwickelt hatten. Jetzt fehlt uns dieser Stabilitätsanker. Wir mussten uns auf dem globalen oder sich globalisierenden LNG-Markt behaupten und um Preise und Mengen in einen Wettbewerb treten. Aber das ist etwas, das uns zumindest bis 2030 nicht erspart bleiben wird.
Carsten Roemheld: Ja, wir haben ja schon gesehen, da sind ja enorme Preisschwankungen auch in den letzten Jahren verzeichnet worden, als wir diese Energieknappheit hatten. Da wurden irre Preise bezahlt an den Gasmärkten, um das kurzfristige Angebot zu sichern. Also was Sie so sagen, das hat doch sehr viele offene Fragen drin. Die Ziele scheinen mir, wie Sie sagen, ambitioniert, fast unrealistisch zu sein vor dem aktuellen Hintergrund, sodass es da auf dem Weg sicherlich noch einige Weichenstellungen geben wird, die sich verändern könnten. Das haben Sie völlig richtig beschrieben. Was mich noch interessieren würde: Sie erforschen ja die Geopolitik der Energiewende. Können Sie kurz erklären, mit welchen Fragen Sie sich dabei beschäftigen?
Jacopo Maria Pepe: Ja, also zum einen ist die klassische Frage, wie verändert sich die Energie-Partnerlandschaft und natürlich auch die Machtverhältnisse unter den Bedingungen der Energietransformation. Sprich: Sind eigentlich grüne Technologien und grüne Energie eine Machtposition, so wie Öl und Gas es waren? Und wie verändert das eigentlich das Machtpotential der Öl und Gas produzierenden Länder? Das ist die eine Frage. Die andere Frage aber, die noch vehementer geworden ist nach dem Ausbruch des Krieges, ist, wie eigentlich die Transformation auf der geopolitischen, also auf der Ebene der Beziehungen zwischen den Staaten, wirkt. Also auf die technopolitische Rivalität zwischen den USA und China, Spannungen militärischer Natur, vom Ostchinesischen Meer bis hin zum Suez-Kanal und zum Roten Meer bis natürlich zu uns auf dem Kontinent, mit dem russischen Angriffskrieg? Also, wie wirken diese geopolitischen Transformationen auf die Energiewende per se, auf die Energieversorgung, aber auch auf uns als Industriestandort, wenn die Versorgung mit fossiler Energie immer noch akut ist, aber auch zukünftig mit grünen Energieträgern, die natürlich sehr technologie- und industrielastig sind?
Jacopo Maria Pepe: Es gibt zwei damit verbundene Fragenkomplexe. Der eine ist: Wo entstehen Risiken und Abhängigkeiten entlang dieser neuen und viel komplexeren Lieferketten, gerade bei grünen Technologien? Und wie können wir diese Risiken managen? Das heißt: Die genaue Untersuchung von Produktionsprozessen in allen energierelevanten Sektoren, also Downstream, Upstream und Midstream. Der zweite Komplex ist eher politischer Natur: Welche Prioritäten, Interessen und Handlungsspielräume haben Länder außerhalb Europas als neue und alte Energieproduzenten, aber auch neue und alte Nachfragezentren wie zum Beispiel Ostasien? Und wie interagieren diese miteinander, unabhängig von den Beziehungen zu uns? Das erlaubt zweierlei Rückschlüsse auf die Zukunft der globalen Energietransformation und die Klimaziele - und natürlich auch auf unseren Handlungsspielraum, wenn es um neue Partnerschaften geht. Wir müssen also viel mehr verstehen, wie diese Länder und diese Regionen miteinander interagieren, nicht unbedingt nur mit uns, sondern auch, welche Beziehungen sie untereinander pflegen unter diesen veränderten Bedingungen. Das ist ein Thema, das uns zunehmend beschäftigt, weil wir bis jetzt auch in der klimapolitischen Debatte eher Nabelschau und eurozentristische Blicke gepflegt haben in der Annahme, dass es zu einer Konvergenz nicht nur bei den Klimazielen, sondern auch bei den Dekarbonisierungs- oder Defossilisierungs-Pfaden kommt, weltweit, was aber nicht der Fall ist.
Carsten Roemheld: Spannend und hochkomplex, wie Sie richtig beschreiben, mit den vielen neuen Spielern, die am Markt auftreten. Können Sie uns an der Stelle noch mal zurückholen in diese Geschichte, die wir mit den Nordstream-Pipelines erlebt haben? Da ist sicherlich dieser Angriff ein großes Thema, der im September 2022 stattgefunden hat, als beide Stränge unterbrochen worden sind. Sowohl dänische als auch schwedische Behörden haben Ermittlungen aufgenommen, aber bisher hat man da nichts herausgefunden. Wir müssen also die Infrastruktur grundsätzlich gut schützen. Aber wie können wir das in Zukunft tun, wie also einen besseren Schutz der Lieferungen darstellen? Gerade die Transportwege über die Meere sind ja zunehmend wichtig. Wie sieht man diesen Punkt auch mit Blick auf Nahost, wo sich im Moment auch viele größere Risiken auftun?
Jacopo Maria Pepe: Zunächst: Ich glaube, die Frage, wer Schuld an den Anschlägen trägt, wird nie abschließend beantwortet werden. Denn selbst wenn es eine Antwort gibt, bleibt sie unter Verschluss, weil das enorme politische Implikationen hat, die keiner so richtig mittragen will. Aber was bleibt, ist: Erstens, wir, insbesondere Deutschland, sind verwundbar, weil wir zunehmend von globalen maritimen Lieferwegen abhängig sind. Zweitens: Diese Lieferwege sind verwundbar an sich, weil sie Zielscheibe von Attacken werden können. Das heißt, wir müssen zukünftig ein Sicherheitspremium für die geografische Diversifizierung von Lieferwegen und Transportinfrastruktur zahlen, aber auch ein Stück für die Entflechtung von Russland. Die Abhängigkeit von Russland war lange Zeit als eine symmetrische betrachtet worden. Man hat gesehen, dass sie auch asymmetrisch werden, also ausgenutzt werden kann. Aber das galt auch umgekehrt. Wir haben in den vergangenen Jahren aufgrund der Verwerfungen auf dem Markt den Russen einiges abringen können, preislich, wenngleich wir die Stabilität der Lieferungen, der Infrastruktur plus die langjährigen Lieferbeziehungen zu unseren Gunsten genutzt haben. Unter anderem ein Ergebnis davon war, dass wir unsere Chemieindustrie im Land erhalten konnten und diese nicht viel früher in Richtung Golf abgewandert ist. Jetzt ist aber die Lage eine komplett andere. Wirtschaftskrieg oder Energie als Waffe ist, würde ich sagen, fast die Vergangenheit, weil jetzt eigentlich Energieinfrastruktur und Energie selber Zielscheibe von militärischen Aktionen werden können. Und da ist die Frage, wie wir unsere Energieinfrastruktur absichern, extrem relevant. Zumal wir es nicht alleine schaffen können und auch nicht nur europäisch. Dann stellt sich für mich erstmal die Frage: Wie verzahnen wir Zivilschutz mit Militär und den Schutz der Infrastruktur, also die Küstenwache, mit der Rolle der Marine? Wie können wir der Marine auch verfassungstechnisch klarere Aufgaben beim Schutz in unserem Gewässer, aber auch weltweit geben? Aber wir müssen auch Prioritäten setzen, denn wir können niemals alles schützen, was auf uns an Infrastruktur zukommt: Offshore-Windparks, Stromanbindungsleitungen, LNG-Schiffe, -Terminals und -Häfen, noch existierende Pipelines unter dem Boden, wie zum Beispiel vor Norwegen. Und da ist die Kooperation mit Partnerländern, sei es innerhalb der EU oder auch insbesondere mit der NATO, wenn es zum Beispiel um das Patrouillieren von Seelieferwegen beispielsweise durch den Suez-Kanal und am Golf vorbei geht. Es bedarf also einer neuen Austarierung von Kompetenzen, Aufgaben und Zielen.
Carsten Roemheld: Und wenn ich das ganze jetzt mal so ein bisschen volkswirtschaftlich betrachte, was Sie gesagt haben: mehr Schutz ist notwendig, mehr Koordination ist notwendig, die Energiewege werden kritischer und so weiter - das hat ja alles wahrscheinlich mit der Verteuerung von Energie zu tun. Also: Energie wird grundsätzlich wahrscheinlich knapper und es wird teurer, sie zu schützen, zu befördern und die Infrastruktur dafür bereitzustellen. Also dürfen wir uns keine Illusion machen als Bürger, dass die Energie absehbar irgendwie günstiger werden wird.
Jacopo Maria Pepe: Genau. Selbst wenn die Gestehungskosten niedriger sind.
Carsten Roemheld: Selbst dann.
Jacopo Maria Pepe: Dann gibt es Extrakosten, seien es Steuern oder Umlagen. Das werden wir vielleicht noch mal anreißen. Aber es gibt auch tatsächlich ein Sicherheitspremium, dass wir jetzt mit einberechnen müssen, egal für welchen Energieträger.
Carsten Roemheld: Das leuchtet mir ein. Jetzt haben wir natürlich den Vorteil, wenn wir verstärkt auf Technologien setzen, die wir im Land auch haben, dass wir nicht so stark auf Dritte angewiesen sind. Dann werden die Energieflüsse sicherlich auch neu ausgerichtet. Sprich: Wir können uns ein bisschen unabhängiger machen von außen, was ja nicht der Fall ist, wenn man auf Ressourcen angewiesen ist, die im Ausland liegen. Das wäre schon ein Vorteil. Auf der anderen Seite sind wir wahrscheinlich auf Komponenten und Infrastruktur angewiesen und in der Form wieder abhängig. Also auf Deutsch: Man kann diese Abhängigkeit trotz aller Bemühungen gar nicht vermeiden, richtig?
Jacopo Maria Pepe: Ganz genau. Man kann sie verschieben, managen, minimieren, abfedern. Das können wir alles diskutieren, das können wir alles versuchen zu machen. Aber was wir nicht machen können: Wir können nicht autark werden. Das geht nicht. Vielleicht wollen wir das auch nicht, aber auch wenn wir das anders wollten, geht das nicht. Das ist jetzt die kurze Antwort. Natürlich könnten wir sagen, wir werden Wasserstoff nur aus Ländern importieren, die mit uns befreundet sind wie Norwegen. Oder wir werden kaum Strom importieren, weil wir in Europa grünen Strom selber produzieren können, weil wir Technologieführer sind. Wir können Wasserstoff gezielt in Europa herstellen. Selbst dann bleibt aber immer noch die Frage, wo die Industriekomponenten für Elektrolyseure herkommen, wo die Elektrolyseure selber herkommt, oder wo kommen die Windturbinen her? Wo kommen die Solarpanele her? Also: Es betrifft nicht direkt unsere Energieversorgung, unsere Stromversorgung, es betrifft aber schon nachgelagerte oder vorgelagerte Produktion und Wertschöpfungsketten, die mit anderen Industrien zu tun haben, wo wir die Technologieführerschaft nicht mehr haben oder darum ringen, oder wo wir die Massenskalierung nicht schaffen. Von daher ist eigentlich das Management dieser unabhängig voneinander sich entwickelnden, aber gleichzeitig stark verzahnten Branchen oder Teile des neuen Energiesystems sehr wichtig, aber auch sehr komplex.
Carsten Roemheld: Wenn ich nochmal auf die geopolitischen Einflüsse kommen darf, wir haben vorhin ja auch von der Weltklimakonferenz gesprochen. Da ist nach wie vor eine starke Machtposition der Staaten des Nahen Ostens vorhanden, weil sie aktuell im Bereich fossile Brennstoffe immer noch führend sind. Aber wie ist es denn dann, wenn wir auf das Thema Wind, Sonne, Wasserstoff gehen? Ist es dann immer noch der Fall? Die werden ja dann sicherlich versuchen, Anschluss zu finden. Ist das dann immer noch die gleiche Machtposition, oder wird sich die in Zukunft zurückentwickeln?
Jacopo Maria Pepe: Momentan sieht es danach aus, dass diese Länder nicht nur geografisch, sondern auch zeitlich eine Brücke bilden. Die sind geografisch eine Brücke oder eine Drehscheibe zwischen zwei größeren Absatzmärkten, Asien und Europa, und sie können sich da natürlich zumindest mehr frei entscheiden, als wir angenommen haben. Sie sind aber auch eine zeitliche Brücke, weil sie sozusagen zwischen der Vergangenheit, die nicht vergeht, dominant sind, also im fossilen Bereich, gerade nach der Entkoppelung von Russland. Und einer Zukunft, die noch nicht da ist, aber wofür wir eigentlich Weichen mit diesen Ländern stellen müssen, wenn wir schnell sein wollen. Ich will nicht sagen, dass der Nahe Osten der einzige mögliche Bezugsort für grünen oder blauen Wasserstoff ist oder für beide. Aber wenn man schnell sein will, so wie wir sein müssen, wenn wir die Ziele einhalten wollen, dann kommen nur wenige Länder in Fragen, also nicht nur die Länder, die reich an Sonne und Wind sind, sondern Länder, die dazu auch reich an Kapital, Knowhow, Erfahrung mit Energie-Export, aber auch an Industrie sind.
Wenn wir Wasserstoff nehmen, das ist industrieintensiv, das heißt, für Wasserstoff-Produkte braucht man Erfahrungen mit chemischen Prozessen und mit der Chemieindustrie. Das heißt, nicht alle Entwicklungsländer, auch die kleineren, auf die wir setzen, haben momentan diese Möglichkeit. Und wenn sich die Golfstaaten jetzt etablieren als Lieferanten, werden sie ihren Standortvorteil auch in der Zukunft gegenüber Nachzüglern verteidigen wollen. Das heißt: Diese Länder in der Region positionieren sich gerade sehr schlau zwischen den Räumen und zwischen den Zeiten der Energietransition. Und dass das macht sie besonders stark, wenn es um Verhandlungen geht, wenn es um neue Partnerschaften geht.
Carsten Roemheld: Ist ja faszinierend, wenn man drüber nachdenkt. Ich meine, wo Bodenschätze in der Welt vorhanden sind, das konnte man nicht beeinflussen. Da haben die Länder Glück gehabt, dass sie sozusagen damit gesegnet waren. Aber jetzt sind sie auch noch reich an Sonne, sind reich an anderen Dingen, wo sie auch wiederum über das Glück verfügen, vielleicht einige zukünftige Produktionstechnologien stärker in Frage zu kriegen. Gibt es noch Alternativen? Ich sage mal: Nordafrika. Wäre das eine Möglichkeit? Aber diese Länder verfügen wahrscheinlich nicht über die notwendige Erfahrung und nicht über die Dinge, die sie eben gerade genannt haben. Also führt der Weg an den Golfstaaten nicht vorbei?
Jacopo Maria Pepe: Ich glaube, es ist eine Frage der zeitlichen Schiene. Ich glaube, wir sollten die größtmögliche Diversifizierungsanstrengungen unternehmen, um eines Tages eine tatsächlich diversifizierte Energiepartner-Landschaft zu bekommen. Dafür müssen wir jetzt erst mal Prioritäten setzen, aber gleichzeitig diplomatische Anstrengungen auch in den Regionen nicht unterlassen, die uns fremd erscheinen, oder wo wir sagen, da kommt jetzt noch nichts. Wir sollten also Erwartungsmanagement betreiben. Es lohnt sich, diplomatische Beziehungen mit Ländern und Regionen wie Nordafrika, Algerien, Marokko, Tunesien aufrecht zu erhalten und die geopolitischen Dynamiken zu beobachten. Das sind Regionen, die zum Teil bereits Lieferanten von Gas an Europa sind und die zum anderen stark nach Europa orientiert sind, wie etwa Marokko, wo es aber regionale Konflikte gibt oder Sprengstoff für Konflikte vorhanden sind. Wir können da nicht sagen, erst kommt der Handel und die handelspolitische Anbindung an unseren Raum und an unseren Markt, und dann wird es selbstverständlich zur Stabilisierung kommen. Wir müssen Diplomatie vor Handel betreiben. Das ist vielleicht die größte Lehre aus dem Russland-Schlamassel. Nicht nur im Sinne von bilateralen Beziehungen, sondern auch, wie wir diese Regionen einordnen, wie wir diese Dynamiken in den Regionen verstehen und wie die einzelnen Länder und deren Prioritäten dann sich da einbetten. Und dann natürlich proaktiv reagieren, falls dies Rückschlüsse auf die Energie- und Handelsbeziehungen zulässt. Mehr als das können wir nicht machen.
Carsten Roemheld: Naja, aber das wäre ja schon eine ganze Menge. Was Sie sagen, ist für mich absolut einleuchtend und finde ich vollkommen nachvollziehbar und absolut richtig. Aber ich habe nicht den Eindruck, dass die Politik in diese Richtung agiert, sondern ich habe manchmal den Eindruck, Experten wie Sie, die wirklich Erfahrung haben in den Bereichen, werden zu wenig gehört, sodass manche Aspekte einfach unter die Räder geraten, die aber wichtig sind, sonst kann man die Ziele nicht erfüllen. Haben Sie den Eindruck, dass die Politik gut genug beraten ist, aktuell? Oder ist ihr Eindruck, dass die Politik manche Dinge einfach ohne Rücksicht auf vielleicht besseres Wissen dann durchsetzt, obwohl es eigentlich nicht unbedingt sinnvoll ist?
Jacopo Maria Pepe: Sagen wir so: Ich muss eine Lanze brechen für die Politik im Allgemeinen und die Bundesregierung insbesondere. Die haben unter enormen Zeitdruck und unter enormen sich verändernden und veränderten Umständen zu kämpfen, um die Energieversorgung zu gewährleisten. Und das unter Beachtung der Ziele, die sich Deutschland längst gegeben hat und worauf sich eigentlich das ganze Wirtschaftssystem mittlerweile eingestellt hat. Und man muss auch sagen, das Angebot an Beratung ist enorm geworden. Und natürlich auch an Advocacy-Beratung, also nicht nur unabhängig, sondern auch ziemlich biased in den Zielen, die verfolgt werden, sei es regional, sei es von den Themen her. Also ist es auch schwer für eine schon bereits überforderte Politik, da durchzublicken. Was ich aber bemängle, ist das Fehlen einer strategischen Vision. Weiterhin fehlt, was eigentlich die klimapolitischen Ziele, die Energietransformation, bedeuten für den Standort Deutschland sowohl als Industriestandort als auch als politischer oder außenpolitischer Akteur. Und ob man tatsächlich alles einem Ziel opfern kann in dem Glauben, dass alle anderen Grundvariablen gleichgeblieben sind: dass der Markt weiterhin funktionieren wird, dass wir letztendlich mit unserem regelbasierten Modell uns durchsetzen werden. Das sind ganz viele Fragen, die weniger energieimmanent sind, sondern eher mit der Frage zu tun haben, welches die Rolle Deutschlands in einer Welt ist, die zunehmend multipolar wird? Diese Bezeichnung wird auch von der Bundesregierung übernommen, aber was konkret bedeutet, wird nicht durchbuchstabiert. Und die Welt ist auch im Energiebereich multipolar. Es gibt viele Mächte, die nicht mehr die klassischen fossilen sind, die aber für sich gerade im Rohstoffbereich einen gewissen Geltungsanspruch haben und die mit uns aber auf Augenhöhe verhandeln wollen; sei es Indonesien, die Philippinen oder Südafrika, ganz zu schweigen von China. Also diese diffuse Macht, wo Energie auch ein Teil dieser Machtwährung wird, haben wir nicht ganz komplett im Blick. Wir denken geopolitisch nicht vom Ende her, wir denken nur sektoriell vom Ende her.
Carsten Roemheld: Also ich kann ihnen da nur 100-prozentig zustimmen, finde ich absolut, absolut richtig, wie Sie das gesagt haben. Die multipolare Welt von heute ist einfach nicht mehr die, die wir hatten. Von daher muss man bestimmte Dinge einfach neu definieren. Noch mal kurz zurück zur Energieversorgung Europas. Wie sehen Sie denn die langfristige Perspektive für die Energieversorgung? Wo sind die größten Herausforderungen und wo ist vielleicht eine nachhaltige und sichere Energieversorgung besonders gefährdet oder unter Druck?
Jacopo Maria Pepe: Ja, also ich würde zurückkommen auf zwei Punkte. Ich glaube im Erdgas, im fossilen Bereich, wird das Problem in den nächsten zwei, drei Jahren sein, nicht nur genug LNG-Volumen an Land zu ziehen, sondern auch zu günstigen Preisen. Und das hängt von Faktoren ab, die nicht von uns kontrolliert werden können. Wie sich die Nachfrage in Asien entwickeln wird, wie das Wetter in den kommenden Wintern aussehen wird, was mit den Vereinigten Staaten als LNG-Exporteur werden wird, was auch aus Exporteuren wie Norwegen wird, die sehr am Limit ihrer Förderkapazitäten handeln, aber gleichzeitig sehr wohl auf ihre Interessen bei Verhandlungen achten? Das heißt, die Sicherung der Gasversorgung wird eine jährliche Aufgabe sein, und das wird uns Zeit und eventuell Geld kosten. Die zweite Frage betrifft die Stromversorgung. Und zwar, wie wir innerhalb der Europäischen Union Infrastruktur und Interkonnektoren so ausbauen, dass wir die Mengen an grünem Strom, die wir brauchen, die wir planen, auch aufnehmen können. Zweitens, wie wir in der erweiterten Nachbarschaft sichere Rahmenbedingungen schaffen, um Länder an unsere Netze anzuschließen. Man sagt oft, Strom schafft anders als Öl und Gas Co-Dependencies, also wechselwirkende Abhängigkeiten. Man kann da gar nichts missbrauchen. Das stimmt nicht so ganz: Also wenn man ein Netz integriert, bedarf es eher gemeinsamer Werte, gemeinsamer Verständnisse von einem Markt, denn man bildet sogenannte Grid-Communities. Wenn man das macht mit Ländern, die nicht unbedingt unsere Werte teilen, die wir aber brauchen, ist die Frage, wie wir zu dieser Konvergenz kommen und wie wir vermeiden, dass auch Strom asymmetrisch eingesetzt werden kann. Dafür müssen wir unsere Infrastruktur resilient ausbauen, so dass es Redundanzen gibt - und da hakt es. Bei Wasserstoff werden wir innerhalb der Europäischen Union auf Importe angewiesen sein, wenn wir die angestrebten Mengen von 120 Gigawatt bis 2030 und zehn Gigawatt nur innerhalb Deutschlands erreichen wollen. Also entweder auf Pipeline-Importe, und da ist die gleiche Gefahr wie bei Gas, oder eben auf globale Importe von Wasserstoff-Produkten, und da ist wiederum, wenn wir allein über die sicherheitsrelevanten Themen reden, die Frage, wie wir diese Lieferwege sichern und welche extra Kosten dadurch entstehen. Das sind wirklich nur wenige Stichworte zu drei großen Baustellen, die wir haben. Aber sollte schon reichen, um das Ausmaß der Herausforderungen zu verstehen.
Carsten Roemheld: Auf jeden Fall, beim Weltenergiehandel und zum Thema multipolare Welt haben sich ja ganz neue Allianzen ergeben. Russland, Indien und China sind auch miteinander verwoben und haben sich nach den russischen Sanktionen sicherlich auch beim Bereich Energieaustausch neu definiert. Was glauben Sie, wie werden die neuen Abhängigkeiten aussehen? Wer hat denn in diesem Kontext die stärksten Karten, und wer hat eigentlich die besten Voraussetzungen in der neuen multipolaren Welt?
Jacopo Maria Pepe: Also ich würde sagen, China und Indien zählen zu den Gewinnern, Russland nicht unbedingt zu den Gewinnern, aber auch nicht zu den zu den dramatischen Verlierern, und die Golfstaaten zählt zu den Gewinnern. Insgesamt ergibt sich im Bild, wo wir die Verlierer sind. Ganz klar.
Carsten Roemheld: Okay.
Jacopo Maria Pepe: Wir sind die Verlierer, weil wir durch die Entkoppelung oder Neuordnung von Handelsflüssen und Handelsräumen natürlich ein Stückweit auch Hebel aus der Hand gegeben haben. Wir können jetzt nicht mehr den Russen mit Sanktionen drohen, denn Gaslieferungen bekommen wir nicht mehr aus Russland in Deutschland. Das kommt nur noch minimal über die Ukraine und wir bekommen noch 16 Milliarden Kubikmeter LNG aus Russland. Das heißt, wir sind im Grunde genommen im transatlantischen Raum eher geschrumpft. Wobei die anderen Länder Russland, Golfregion, Indien und China, diese vier, ihre Beziehungen miteinander neu austariert haben. Natürlich gibt es zwischen denen Gewinner und Verlierer. Die Golfregion und Russland sind in einem Wettbewerb rund um den Absatzmarkt Indien, China und Südostasien. China versucht weiterhin Russland und Zentralasien gegeneinander auszuspielen, um Gaslieferungen zu sichern, und weniger abhängig werden, weil sie natürlich immer noch Probleme mit den Lieferungen über den Golf haben. Die sind übermäßig vom Golf und dem Malakka-Dilemma abhängig. Das ist etwas, das China mit Japan und Korea teilt. Deswegen schaue ich in meiner Arbeit auch, wie die Beziehungen jenseits des Westens sich entwickeln, nicht unbedingt nur partnerschaftlich. Aber eins haben alle diese Länder gemeinsam: Sie wollen den Westen raushalten, jenseits des Westens sich entwickeln.
Carsten Roemheld: Und nochmal ein Wort zu Russland. Die haben immense Bodenschätze, sind aber auch, was Wind und Solar betrifft, sicherlich ganz gut aufgestellt. Man hört aber sehr wenig darüber. Positioniert sich Russland auch jetzt in diesem Umfeld neu? Oder was ist die Strategie, die längerfristige?
Jacopo Maria Pepe: Na ja, die Strategie war: Maximal waren sie kurz vor dem Krieg noch mit Deutschland zusammen auf den Wasserstoff gekommen, und zwar auf eine Art blauen Wasserstoff, eher türkisen Wasserstoff, der anders entsteht, weil sie da die Technologie beherrscht haben. Natürlich sind sie ansonsten stark nach der fossilen Industrie ausgerichtet, noch mehr als die Golfstaaten, auch weil sie weniger Kapital haben und eine Geografie, die nicht unbedingt deren Ressourcen zu günstigen Bedingungen nutzen lässt, also Wind und Sonne. Das prägt die Wirtschaft, Subventionen, den Verbrauch im Lande, die Infrastruktur und auch die Lobbyinteressen, so dass die Russen im Grunde genommen zwar Potenzial hätten, aber durch geografische, institutionelle, regulatorische, politische und nicht zuletzt finanzielle Hindernisse tatsächlich diesen Zug verpasst haben. Es wird sich zeigen, ob es klug ist, aber momentan nutzen sie das Potenzial, das sie hätten, nicht. Wir müssen aber fairerweise sagen: Das Potenzial, das die Golfstaaten haben, ist höher, als das, das Russland hat, wenngleich beide auch grüne Supermächte werden könnten. Denn Russland hat eine Geografie und eine Geologie, die anders ist als die der Golfstaaten, gerade wenn man jetzt an Klimawandel und Schmelzen des Permafrosts denkt und wie man tatsächlich Anlagen an der Arktisküste Russlands bauen könnte und welche Investitionen da gebraucht werden. Das ist etwas, was nicht von heute auf morgen zu machen ist, gerade unter den Bedingungen der Sanktionen im Westen und eines zögerlichen Chinas im Osten.
Carsten Roemheld: Sehr interessant, nochmal diese Unterschiede aufzuzeigen. Vielen Dank dafür. Kommen wir Richtung Ende nochmal zur Frage nach Trends und Entwicklungen, wenn wir ein bisschen weiter nach vorne schauen für die künftige Energieversorgung Europas. So ein bisschen allgemeiner gefasst, vielleicht auch so ein bisschen technologischer Natur, also das, was so kommen kann an Innovationen, vielleicht an neuen Dingen, die bei der Energieversorgung eine Rolle spielen können. Wir haben es in Teilen schon angerissen. Aber gibt es denn noch irgendwelche Stellschrauben, die wir noch nicht betrachtet haben, die vielleicht bei den zukünftigen Entwicklungen eine Rolle spielen?
Jacopo Maria Pepe: Natürlich, Technologieentwicklungen sind immer Mittel der Wahl, gerade wenn es um Carbon-Capture-Technology geht, wenn es um andere Technologien bei der Herstellung von Wasserstoff geht. Also möglichst hohe Technologieoffenheit ist etwas, das uns zumindest über Wasser halten kann. Damit verbunden ist der Erhalt der Industrie, gerade der chemischen und der petrochemischen Industrie, denn das ist der Schlüssel in der Energiezukunft. Wenn wir das aus der Hand geben, dann ist die Versorgung zwar immer noch möglich, aber unsere Abhängigkeit von externen noch größer.
Carsten Roemheld: Sehr wichtiger Punkt mit der Chemieindustrie. Sie haben ein anderes Stichwort genannt: Carbon Capture. Das würde mich nochmal interessieren. Welchen Anteil der Klimapolitik der Zukunft sehen Sie denn in dem Bereich? Ich halte das für eine sehr spannende Idee. Aber ich habe keine Ahnung, welchen Umfang das annehmen kann und wie viel das tatsächlich beitragen kann zu dieser Net-Zero-Thematik.
Jacopo Maria Pepe: Naja, es ist eben die Frage, wie pragmatisch wir an das Thema rangehen. Ob wir Defossilisierung meinen, wenn wir Dekarbonisierung sagen, oder Dekarbonisierung als pragmatischen Ansatz sehen, wo wir sagen, wir müssen erst mal anfangen, deswegen lasst uns technologieoffen alles versuchen. Dafür müssen wir Carbon Capture nutzen, welches eigentlich noch mehr zurückliegt als die Wasserstoff-Technologie. Vieles gibt's an Projekten auf Papier in den USA und Europa, letztendlich wird aber vieles an Innovation in Asien stattfinden. Denn die Nachfrage nach Gas in Asien ist noch größer und das wird ein Nährboden für Innovationen sein. Aber es lässt sich noch schwer sagen, welche Rolle Carbon Capture spielen kann, denn es gibt viele noch nicht gelöste Fragen in Verbindung mit der Technologie. Aber natürlich würde es den Fossilen beziehungsweise Erdgas noch eine Chance geben, weiter Teil des Energiemixes zu sein und gleichzeitig Emissionen zu reduzieren, diese abzuspeichern, zum Teil auch neu zu verwenden. Das wäre dann Carbon Capture and Usage für andere, auch industrielle Zwecke, andere Produkte, also eine Art Circular Economy so wie die Golfstaaten es im Sinne haben. Das ist ein neues spannendes Feld. Die Bundesregierung ist mittlerweile dran, eine Strategie dazu zu entwickeln. Aber man muss schauen, ob es nur Teil der Energiestrategie ist oder auch Teil einer Industriepolitik.
Carsten Roemheld: Genau das klingt für mich nach einem sehr spannenden Konzept, das vielleicht eine Rolle spielen kann. Ich möchte, obwohl Sie vorhin gesagt haben, Sie wollen zum Thema Kernenergie jetzt nicht unbedingt was sagen, eine Sache noch mal fragen: Wenn man all diese Dinge hört, die wir vorhaben, die Energiewende, die Umweltbemühungen, die CO2-Reduzierung, dann ist ja Kernkraft eigentlich eine mögliche Technologie, um all das hinzubekommen. Ich weiß, die Diskussion ist ein bisschen vom Tisch, aber dadurch, dass andere Anbieter in Europa ja noch auf die Kernenergie setzen, kommen wir ja nicht daran vorbei. Wir beziehen ja auch Strom aus Frankreich und ähnliche Dinge. Kernenergie ist doch schon im Zuge der Planung, die wir vorhaben, eigentlich eine sinnvolle Komponente.
Jacopo Maria Pepe: Also, es wäre eine sinnvolle Komponente, hätten wir nicht längst den Ausstieg sozusagen eingeleitet, sodass es sich jetzt wahrscheinlich als kontraproduktiv erweisen würde, dies noch mal zurückzuholen. Es wäre kaum möglich. Länder, die Atomkraft haben und die Erfahrung mit Atomkraft haben, werden Atomkraft weiterhin nutzen wollen und dies eigentlich auch als Teil der Energietransition und einer klimaneutralen Zukunft sehen wollen. Das ist Teil der Streitigkeiten, die innerhalb der Europäischen Union zwischen Frankreich und Deutschland stattfinden. Ob Kernkraft eine stabile Zukunft für das Jahr 2050 hat, weiß ich nicht. Aber auf dem Weg dahin kann es sicherlich helfen, dass nicht alle Länder die Technologie aufgegeben haben. Ich glaube, bei uns, egal wie man dazu steht, ist der Zug abgefahren.
Carsten Roemheld: Obwohl ich den Eindruck habe, dass ich wieder mehr dazu höre und es wieder mehr Initiativen gibt, die so ein bisschen versuchen, das Thema zurückzuholen.
Jacopo Maria Pepe: Ich würde dazu sagen, im Sinne der Energie-Unabhängigkeit gibt es da wiederum auch andere Liefer- und Wertschöpfungsketten, die uns nicht unbedingt frei von Abhängigkeiten machen. Also wäre das wahrscheinlich weniger im Sinne der Energieversorgungsunabhängigkeit.
Carsten Roemheld: Können wir in Europa denn diese Energiewende, die wir vorhaben, überhaupt schaffen, ohne dass uns andere Teile der Welt massiv helfen? Offenbar nicht, wie Sie vorhin schon beschrieben haben, nehme ich an. Und die allgemeine Energie- und Klimapolitik kann auch nur funktionieren, wenn wir weltweit in diese Richtung wirken, denn wir in Europa haben ja da relativ wenig Einfluss.
Jacopo Maria Pepe: Genau, und dabei müssen wir uns in Demut üben. Wir können der Welt nicht mehr oktroyieren, was wir als natürliche Konvergenz wahrnehmen. Denn diese Länder haben andere Prioritäten, sozioökonomische, industriepolitische, energiepolitische. Konvergenz wird es geben wahrscheinlich über die Ziele, aber nicht unbedingt über den Pfad dahin. Und deswegen sind beide Aussagen richtig: Wir brauchen die Welt. Und wir müssen auf die Welt zugehen.
Carsten Roemheld: Und vielleicht die letzte Frage, so ein bisschen als Zusammenfassung: Wie kann die EU die Energie-Außenpolitik so gestalten, dass die Energieversorgung gesichert wird und gleichzeitig die geopolitische Unabhängigkeit gewahrt wird? Das ist die große Frage.
Jacopo Maria Pepe: Geopolitische Unabhängigkeit kann man nicht erreichen. Geopolitisches Risikominimierung kann erfolgen durch Streuung der Risiken und Diversifizierung und vorausschauende Diplomatie. Voraussetzung wäre aber natürlich eine Reform der EU-Verträge, denn die Energieversorgung ist immer noch Sache der Staaten. Die EU-Kommission kann hineinregeln und hineinregulieren durch Richtlinien. Aber letztendlich ist der Vertrag über die Europäische Union ziemlich klar, da herrschen geteilte Kompetenzen. Und das ist ein Problem, das wir innerhalb der EU lösen müssen, bevor wir über eine sinnvolle EU-Energie-Außenpolitik reden können, auch über eine Außenpolitik. Das sind Probleme, die mit der Struktur der Europäischen Union zu tun haben.
Carsten Roemheld: Das ist ein sehr guter Schlusssatz. Vielen, vielen Dank für dieses sehr spannende Gespräch, die interessanten Einblicke, ihre wirklich wunderbar realistische Einschätzung wie wir die Probleme der Zukunft lösen können. Und vielleicht auch noch mal ein Appell an die Politik, trotz des Zeitdrucks und so weiter, auf Experten zu hören und die wichtigen Fragen zu diskutieren. Vielen Dank nochmal für ihre Zeit!
Jacopo Maria Pepe: Danke ihnen, dass ich meine Gedanken sortieren durfte.
Carsten Roemheld: Das freut mich sehr. Das soll's für heute gewesen sein. Auch ihnen, liebe Zuhörer, herzlichen Dank für ihr Interesse. Wir hoffen, dass wir ihnen heute wieder einige spannende Einblicke vermitteln konnten, und ich hoffe, wir sehen und hören uns das nächste Mal wieder beim Podcast oder bei einem der vielen anderen Formate, die wir für Sie bereithalten. Viele Grüße und alles Gute, Ihr Carsten Roemheld.