Carsten Roemheld: Erst die Silicon-Valley-Bank, dann die Signature-Bank und zuletzt die Credit Suisse. Die Finanzbranche erlebt gerade wieder eine Welle an Bankzusammenbrüchen, staatlichen Interventionen und Rettungsversuchen der Notenbanken. Was genau geht da vor? Klar ist: Nicht nur die neue Bankenkrise, auch die Inflation zwingt die Notenbanken gerade zu handeln. Die EZB hat den Einlagenzins für Banken in den letzten Monaten immens erhöht. Mittlerweile liegt er bei 3 Prozent. Die US-Notenbank Fed ist mit einem Diskontsatz von aktuell 5 Prozent noch einen Schritt weiter. Das Ziel: Hohe Zinsen soll dafür sorgen, dass der Kreditimpuls deutlich reduziert wird und die Inflation sinkt. Schließlich gehört Geldwertstabilität zu den wichtigsten Aufgaben der Noten- und Zentralbanken. Zugleich machen die hohen Zinsen der Wirtschaft zunehmend zu schaffen - und natürlich auch der Finanzindustrie. Ein Dilemma.
Über solche Widersprüche, die Aufgaben, die Macht und womöglich auch die Ohnmacht der Zentralbanken spreche ich heute mit einem ausgewiesenen Experten für das Thema: Volker Wieland. Er ist Stiftungsprofessor für monetäre Ökonomie und geschäftsführender Direktor des Instituts von Monetary und Financial Stability an der Goethe-Universität in Frankfurt. Zwischen März 2013 und April 2022 war er zu dem Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Kurz: Er war einer der fünf sogenannten Wirtschaftsweisen, die die deutsche Politik beraten. Und er sagt: Das höchste Gut einer Notenbank ist ihre Glaubwürdigkeit.
Professor Wieland hat sich nicht nur als Praktiker in der Politikberatung einen Namen gemacht, er gilt auch als einer der renommiertesten Geldpolitik- und Inflation-Theoretiker in Deutschland und als Mitentwickler der sogenannten Orphanides-Regel, benannt nach dem früheren Ratsmitglied Athanasios Orphanides aus Zypern. Was es damit auf sich hat, was diese Regel uns heute sagen kann und ob sich die Rolle der Notenbanken in Zukunft verändern muss, um all das geht es in den kommenden 45 Minuten. Heute ist Freitag, der 24. März 2023. Mein Name ist Carsten Roemheld. Ich bin Kapitalmarktstratege bei Fidelity, und ich freue mich sehr auf das Gespräch mit Professor Wieland. Herzlich Willkommen!
Volker Wieland: Ja, herzlichen Dank für Ihr Interesse.
Carsten Roemheld: Herr Professor Wieland, wir müssen das Gespräch mit den aktuellen Entwicklungen im Finanzsektor während der vergangenen Tage und Wochen beginnen. Was sind Ihrer Ansicht nach die Ursachen für die neuerliche Verunsicherung im Bankensektor, für die neue Bankenkrise?
Volker Wieland: Sie haben es ja schon angesprochen: Wir hatten jetzt seit vergangenem Sommer einen extrem schnellen Anstieg der Notenbankzinsen und schon vorher im Zuge des Inflationsanstiegs. Die Inflation ist schon 2021 auf 5, 6 Prozent gestiegen und dann natürlich mit dem russischen Angriff auf die Ukraine noch mal deutlich nach oben geschnellt. Und dementsprechend sind generell die Zinsen für Staatsanleihen, für Kredite, für Unternehmen, aber natürlich auch für uns als Haushalte, für Immobilienkredite sehr schnell nach oben gegangen - sogar schon vor der Reaktion der Notenbanken. Und das heißt, nach einer wirklich langen Phase mit praktisch Nullzinsen oder Negativzinsen und mit großen Anleihekäufen der Notenbanken, Wertpapierkäufen, ist es nun zu dieser abrupten Wende gekommen. Und die Banken müssen sich da erst mal drauf einstellen - beziehungsweise so einfach ist es gar nicht. Die Banken haben in dieser Niedrigzinsphase sehr günstige Kredite vergeben, auch in Deutschland, zum Beispiel zehn Jahre, 20 Jahre sehr niedrige Zinsen. Und jetzt steigen die Zinsen am Geldmarkt, das heißt, es gibt da ein Zinsänderungsrisiko auf den Bankbilanzen. Das ist das Problem Nummer eins.
Das zweite Problem ist: Mit steigenden Zinsen gehen die Vermögenspreise nach unten. Die Anleihepreise gehen nach unten, wenn die Zinsen auf Anleihen nach oben gehen, aber auch andere Vermögenspreise, bei Immobilien sehen wir das schon, diesmal auch Aktien: Also einiges geht runter, und da sind Banken exponiert. Sie haben die Silicon-Valley-Bank schon genannt. Die hatten ein großes Portfolio an amerikanischen Staatsanleihen, das nicht markt-to-market betrieben wurde, sondern der Wertverlust wurde erst mal nicht realisiert. Aber es kam dazu, dass die Bank auf diese Mittel zugreifen musste und dann diesen Verlust realisieren musste. Und dann war es eigentlich sofort klar, die haben ein Riesenproblem - und weg waren sie.
Carsten Roemheld: Wie gefährlich ist die Lage aus Ihrer Sicht? Es gibt ja einige, die sagen, bei der Silicon-Valley-Bank sind sehr spezielle Probleme verantwortlich, die waren natürlich exponiert im Tech-Sektor, der dann plötzlich Geldbedarf hatte in einer Situation, wo es vielleicht andere nicht hatten. Bei der Crédit Suisse war jahrelanges Missmanagement sicherlich auch ein ausschlaggebender Faktor. Besteht aktuell wieder die Gefahr einer Ansteckung, so ähnlich wie damals in der großen Finanzkrise oder würden Sie da große Unterschiede machen?
Volker Wieland: Na ja, jeder Fall ist immer speziell, insbesondere ex post und da gibt's immer auch gute Gründe dafür. Sie haben das schon genannt. Aber trotzdem ist es natürlich so, wenn die Zeiten schwieriger werden, und die Notenbanker oder auch die Menschen am Finanzmarkt sprechen ja von Bankenstress oder Stress für alle anderen, die stark exponiert sind gegenüber fallenden Vermögenspreisen, dann ist es ganz natürlich der, der am schwächsten aufgestellt ist, der sowieso schon im Wind wackelt, der fällt als erster, wenn dieser Stress zunimmt.
Das heißt, man kann nicht ausschließen, dass auch andere Banken hier in Probleme kommen. Wir haben ja schon gesehen in den USA, das jetzt gesagt wird, viele regionale Banken, viele kleinere Banken haben durchaus ein Problem mit diesem Zinsänderungsrisiko, sind nicht ausreichend darauf vorbereitet, dass Vermögenspreise fallen, und auch da sind ja schon die Gespräche im Gange. Und wir sehen ja auch durchaus, dass Anleger ihre Einlagen jetzt zu großen Banken hinbewegen. Und es steht die Forderung im Raum, doch jetzt auf einen Schlag alle Einlagen zu garantieren. Das fand ich übrigens auch sehr bemerkenswert bei der Silicon-Valley-Bank.
Wir haben ja nach der Finanzkrise sehr, sehr viel darin investiert, einerseits die Banken sicherer zu machen, aber auch es einfacher und ohne Ansteckung möglich zu machen, Banken abzuwickeln und nicht jeden Anleger zu befriedigen. Und das waren, wie Sie schon sagten, keine kleinen Anleger bei der Silicon-Valley-Bank, sondern das waren extreme Großanleger, also Tec-Unternehmen, die dort Geld, das sie eingenommen hatten und nicht sofort ausgeben konnten, dort angelegt haben. Das sind Milliarden-Beträge, die sie dann praktisch mal schnell abgezogen haben. Aber es stellt sich zumindest die Frage, nach all der Erfahrung: Hätte man die jetzt alle raushauen müssen? Muss der Staat oder in dem Fall vielleicht nicht gleich der Staat, aber doch die Einlagensicherung, für alle diese Großanleger geradestehen? Die Entscheidung ist ruckzuck gefallen: Ja, ganz klar. Denn die Aufseher und die Fed hatten Angst vor einem Ansteckungseffekt.
Carsten Roemheld: Genau das wird ja jetzt mit der US-Finanzministerin Janet Yellen derzeit auch wieder besprochen. Man ringt noch so ein bisschen, glaube ich, mit der Garantie für alle Anleger oder Einleger vielmehr. Das wird sich in den nächsten Tagen weiter weisen, ob man damit Vertrauen reinbringen kann. Welche Rolle spielen aber jetzt die Zentralbanken? Denn die Frage ist ja: Können sie das Finanzsystem wirksam vor einer systemischen Krise schützen? Sie haben ja verschiedene Instrumente. Der Zins ist eigentlich das Instrument für die Geldpolitik und die Bekämpfung der Inflation. Aber wir haben jetzt auch verschiedene andere Instrumente im Einsatz gesehen, die die Liquidität an den Märkten gewährleisten. Sind die Zentralbanken in der Lage, diese Systemkrise abzuwenden? Bisher hat's zumindest geklappt, aber die Frage ist: Wie sieht es nach vorne hin aus?
Volker Wieland: Naja, zuallererst sind es ja eigentlich die vorbeugenden Instrumente, die man geschaffen hat und die man nutzen wollte, und man kann jetzt nicht noch mal zurückgehen in der Zeit sagen, wir beugen besser vor, sondern wir werden jetzt sehen, wie gut das war. Hat man wirklich mit großem Aufwand die Banken besser überwacht? Hat man wirklich deutlich stärkere Eigenkapitalpuffer aufgebaut? Nach den Zahlen ist das so. Deswegen hören wir auch von vielen gerade, die Banken stehen viel besser da. Das hat auch die Finanzmarktaufsicht Finma in der Schweiz gesagt, noch einen Tag, bevor dann plötzlich Crédit Suisse verschwunden ist vom Markt oder aufging in der USB übers Wochenende.
Also, man hat deutlich vorgesorgt. Aber reicht es? Das ist jetzt die offene Frage. Was die Notenbanken, die Aufseher und der Staat jetzt noch machen können, sind alles Notfallmaßnahmen. Also natürlich kann man jetzt notfallmäßig eingreifen. Wir haben das jetzt schon gesehen in USA. Das ist aber eigentlich das, was man weitgehend vermeiden wollte, und gerade die Eurozone, da werden wir jetzt sehen: Sind wir tatsächlich besser aufgestellt als in den USA? Hat man vielleicht die Regionalbanken, die kleineren Banken zu sehr ausgenommen von der Regulierung? Das soll bei uns besser sein, sagt man. Man kann auch sehen an den Daten, was an Eigenkapital vorgehalten wird, oder anderen einsetzbaren Anlagen - wir haben etwa gesehen, dass Convertible-Bonds in der Schweiz sehr stark herangezogen worden sind - aber es gibt natürlich solche Reserven, solche Puffer. Und die sind auch tendenziell größer bei kleineren Banken als bei großen Banken, weil große Banken sich gern darauf ausruhen, dass sie systemisch relevant sind und dann schon rausgehauen werden.
Und die Notfallinstrumente wären ganz traditionell - und das wäre jetzt auch nicht so wild -, dass Notenbanken kurzfristig sehr viel Liquidität für betroffene Banken bereitstellen, vielleicht mit Aufschlag, vielleicht aber auch günstiger, je nachdem. Das wurde ja auch schon gemacht von der Fed, wenn das reicht: gut. Im Moment sind wir eigentlich in der Situation, wo die Banken, das Bankensystem, sehr viel Liquidität hat. Also, es ist eigentlich gerade auch bei uns in Europa nicht der Fall, dass es den Banken an Liquidität mangelt, generell als System, weil die Notenbank ja dadurch, dass sie so viele Anlagen aufgekauft haben, sehr viel Liquidität in das Finanzsystem und das Bankensystem hineingedrückt hat, gezwungenermaßen. Das ist also eigentlich da, aber kann natürlich problemlos auch zusätzlich gegeben werden. Die Notenbanken können das aus nichts schaffen, diese Notenbank-Liquidität, das wäre also der erste Einsatz.
Der zweite Einsatz ist, dass man bei den Puffern nachgibt, dass man sagt, ihr könnt jetzt einen Teil der Puffer abrufen. Da gibt es gewisse Möglichkeit, die Vorschriften an Kapital, das vorgehalten werden muss, zu reduzieren, genau in so einer Krise. Und dann kann natürlich auch noch der Staat mit Steuermitteln eingreifen. Oder wir haben die Einlagensicherung, die kommen natürlich vorher, dass die herangezogen wird mit ihren Mitteln, und dass man dann die Bank umschuldet oder enteignet, sozusagen die Eigentümer auf Null stellt oder sie kostengünstig an jemand anders verkauft.
Aber eigentlich wollten wir auch ein System haben, wo es einfacher ist, Banken generell abzuwickeln. Man hat Notfallpläne gemacht, wo man Banken ohne Ansteckung abwickeln kann, das sollten die auch vorbereiten. Bisher haben wir noch keinen Fall gesehen, gerade in den USA nicht. Aber all diese Systeme werden jetzt getestet. Und der letzte Punkt: Die Frage ist natürlich, machen die Notenbanken jetzt weiter bei den Zinserhöhungen? Trauen sie sich das? Denn es geht ja zunächst mal darum, die Inflation zu bekämpfen, und die Inflation ist immer noch sehr, sehr hoch. Die geht zwar etwas zurück, bei 8,5 Prozent ist die aber auch noch meilenweit entfern vom Ziel. Und im Übrigen liegt das hauptsächlich an den Energiepreisen. Wir haben noch einen Anstieg der Kerninflation, also insbesondere bei Dienstleistungen, und wir haben hohe Lohnabschlüsse.
Also wenn die Notenbank will, dass die Inflation sich nicht auf dem erhöhten Niveau verfestigt, muss sie die Zinsen noch ein gutes Stück weiter erhöhen. EZB letzte Woche und Fed diese Woche haben klar gemacht, insbesondere die EZB mit 50 Basispunkten, aber auch die Fed mit 25, dass sie die Zinsen weiter erhöhen wollen. Aber das ist natürlich noch nicht getan damit.
Carsten Roemheld: Jetzt vielleicht die wichtigste Frage. Wir haben jetzt gerade über die Instrumentarien gesprochen und darüber, dass bisher zumindest die Abfederungsmaßnahmen auch notfallmäßig ganz gut funktioniert haben. Aber die wichtigste Frage, und das war ja auch die Ausgangsthese von Ihnen: Sind die Zentralbanken im Moment noch glaubwürdig? Wir haben heftige Kurswechsel erlebt. Natürlich, wir haben Prognosen erlebt, die eigentlich mehr anstatt forward guidance an forward guessing erinnern. Jetzt haben wir schon wieder einiges an quantitativ tightening rückgängig gemacht, also wieder Liquidität ins System gegeben, obwohl es ja eigentlich rausgenommen werden sollte. Was sagen Sie? Hat die Glaubwürdigkeit der Notenbanken in den letzten Wochen und Monaten gelitten aus Ihrer Sicht, oder sagen Sie, sie haben es einigermaßen gut erklärt, was sie tun?
Volker Wieland: Na ja, in den letzten Monaten haben die Notenbanken eher wieder an Glaubwürdigkeit gewonnen. Das Problem war ja: Über das Jahr 2021 haben uns die Notenbankerinnen und -banker erzählt, ja, da ist jetzt vielleicht ein Inflationsanstieg, das ist alles temporär, alles kein Problem, wir müssen gar nichts machen. Sie erinnern sich, die Fed hat sehr lange gewartet, die EZB noch viel länger. Die Zinsen wurden ja erst im Juli 2022 erhöht, von sage und schreibe minus 0,5 auf 0, also gerade in ungeahnte Höhen. Und wir hatten die Inflation ja schon Ende 2021 bei 5 Prozent.
Also, die Glaubwürdigkeit der Notenbanker hat über das Jahr 2021 gelitten und auch noch 2022. Wenn man zu spät kommt, bestraft einen das Leben, und so kam es leider dann auch, dass durch diesen russischen Angriff die Inflation nochmal nach oben geschnellt ist. Aber die Grundlagen waren ja bereits gelegt. Und jetzt in den letzten Monaten, sagen wir seit Sommer 2022, hat man gesehen, also zunächst mal erst bei der Fed, aber dann auch bei der EZB, dass sie wirklich dieses Inflationsproblem anpacken wollen, und sie haben dann auch wirklich in Rekordzeit die Zinsen erhöht. Und das hat zunächst mal, denke ich, auch die Glaubwürdigkeit wieder gestärkt. Auch die Entscheidungen der EZB letzte Woche haben nochmal gezeigt, dass es ihr tatsächlich um die Inflation geht. Sie sagt ja auch: Wir bekämpfen die Inflation, das ist unsere Hauptaufgabe. Wir haben andere Instrumente, wie gesagt, Liquidität, da helfen wir den Banken. Wir haben auch bessere Kapitalvorsorgen getroffen. Die EZB müsste es wissen, weil sie ja die großen Banken alle überwacht, also hoffen wir, dass sie das wirklich dort so genau sehen. Ich als außenstehende Person, als Akademiker, aber auch andere werden es da nicht so einfach haben - vielleicht weiß auch nicht jede Bank selbst, wie unsicher sie ist. Sonst würden manche vielleicht solche Fehler wie jetzt bei der Silicon-Valley-Bank nicht machen. Das ging ja zumindest für die Eigentümer schlecht aus. Wenigstens das.
Die Instrumente sind da, und im Moment sagen die Notenbanken und versuchen, das zu signalisieren, wir machen weiter, wir bleiben glaubwürdig, und das ist auch notwendig, sonst wird das nicht funktionieren. Das Problem auf der anderen Seite ist, dass im schlimmsten Fall der Staat wieder stark eingreifen muss, auch Steuerzahler heranziehen muss. Wie gesagt, im Moment sind wir nicht so weit: Wenn man viel aus den Finanzmarktdaten herauslesen will, ist wieder ein bisschen mehr Vertrauen in die Stabilität der Banken da, als noch am Wochenende, als Crédit Suisse behandelt wurde. Aber das kann sich immer schnell ändern.
Im Moment würde ich jetzt keinesfalls sagen, die nächste Finanzkrise ist ausgebrochen. Aber jeder sagt ihnen das: Die Banken sind unter Stress. Und es ist nicht so wahrscheinlich, dass alle Schwachen sich sozusagen schon geoutet haben.
Carsten Roemheld: Kommen wir mal zu den Parallelen und zu den Unterschieden zur Finanzkrise von 2008. Also ein wesentlicher Unterschied ist ja sicherlich, dass damals eher die Asset-Basis der Banken schlecht war und dass sozusagen die Sicherheiten im Hintergrund nicht gut waren, und sich damit eben ein Dominoeffekt ergeben hat. Das ist heute nicht unbedingt so. In den aktuellen Fällen war es ja eher so, dass eher Treasuries oder andere Papiere, die zu Höchstkursen eingekauft wurden, in den Bilanzen gelagert haben. Also von der Qualität der Asset-Basis, wie gesagt, und auch eben von der Kapitalanforderung her sind die Banken ja heute viel stabiler. Trotzdem ist natürlich erschreckend, dass das Ganze so schnell ging und dass es in kürzester Zeit dann plötzlich zu diesem Run kam. Vielleicht aus Ihrer Sicht noch mal, was sind so die großen Unterschiede, oder wo sehen Sie Gemeinsamkeiten zur Finanzkrise 2008?
Fangen wir mal bei den Gemeinsamkeiten an. Davon gibt es ja eine ganze Reihe. Erstens mal ist es so: Auch vor der Finanzkrise wurden über einen längeren Zeitraum die Zinsen deutlich erhöht, sind stetig angestiegen. Heute sind die Zinsen nochmal deutlich schneller erhöht worden oder in den vergangenen Monaten, das heißt, es ist eher noch schwieriger von Seiten dieser Herausforderung. Wir hatten 2007, 2006, 2005 schon vorher einen Immobilienboom in den USA, aber auch in Ländern wie Irland, Spanien, zum geringeren Maße Italien, Frankreich, nicht in Deutschland damals - also, wir hatten einen starken Immobilienboom, und da ist auch viel Schindluder getrieben worden, wissen wir inzwischen ja alle. Die Hoffnung hier ist zumindest, dass - auch wenn wir jetzt auch aufgrund dieser langen Niedrigzinsen einen Immobilienboom hatten, also auch da eine Parallele - die Kredite mit etwas mehr Vorsicht vergeben wurden und auch mit etwas mehr Sicherheiten hinterlegt. Und dass das, was da an Risiken besteht, nicht an Schwache, sondern eine Starke weitergegeben wurde. Auch das war ja ein Problem in der Finanzkrise, dass diese Risiken sich angesammelt haben. Keiner wusste, wo, und dementsprechend traut keine Bank der anderen.
Das ist hoffentlich jetzt nicht ganz so schlimm. Dafür haben wir diese ganzen Überwachungen und diese Vorgaben an die Banken, dass sie gegen riskante Anlagen Kapital halten. Da hoffe ich doch sehr, wir sind besser aufgestellt. Wir haben auch natürlich generell höhere Eigenkapitalvorschriften, und haben auch Puffer, auf die man auch zurückgreifen kann. Das hatte man in dem Sinne damals nicht. Das war gerade bei den ganz Großen am schlimmsten. Also, da, denke ich, gibt's auch bessere Elemente.
Damals war es dann allerdings so: Sobald die Finanzkrise ausgebrochen ist, haben die Notenbank die Zinsen, die höher waren, deutlich senken können. Also, sie hatten sehr viel Spielraum für Zinssenkungen. Der Spielraum ist jetzt nicht so groß. Zweitens ist es so, dass damals dieser Einbruch der Finanzkrise auch ein Einbruch der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage war. Viele haben gemerkt, wir sind nicht nur hoch verschuldet, sondern die Anlagen sind nicht sehr profitabel und haben dementsprechend Investitionen zurückgefahren und die Nachfrage zurückgefahren. Und das hat auch gleichzeitig zum Rückgang der Inflation geführt. Auf der Seite sind wir jetzt nicht so gut aufgestellt, denn wir leiden ja unter einem Angebotsschock, einem negativen Angebotsschock sowohl von der Coronakrise, aber insbesondere auch von der Energiekrise. Das treibt die Inflation nach oben und drückt die wirtschaftlichen Möglichkeiten, also das gesamtwirtschaftliche Angebot nach unten. Das heißt, die Notenbank hat hier nicht so viel Spielraum: Sie muss weiterhin diese Inflation bekämpfen. Wenn wir jetzt schlimmere Zustände an den Finanzmärkten hätten, dann wird das nicht automatisch in der gleichen Weise die Inflation oder Kontrolle bringen, sowie das 2008 passiert ist.
Carsten Roemheld: Wie sehen Sie die großen Unterschiede zwischen den USA und Europa, vielleicht auch was das Bankensystem betrifft? Ich meine, die USA haben ja dieses Bankensystem aus vielen Regionalbanken, die auch viel im Bereich der Real Estate abwickeln und alle möglichen Sachen. Und in der Eurozone haben wir ein ganz anderes Bankensystem, wo mehr Kreditgeschäft erfolgt, während es in den USA mehr kapitalmarktgetrieben ist. Wie fällt Ihr Vergleich aus? Wo sind größere Gefahren vorhanden? Und wo kann man wirkungsvoller eingreifen?
Volker Wieland: Also auf der einen Seite ist USA natürlich viel mehr kapitalmarktbasiert. Das heißt, Unternehmen finanzieren sich am Kapitalmarkt und nicht über Bankdarlehen. Das ist natürlich auch eine gewisse Stärke, weil am Kapitalmarkt große Institutionen unterwegs sind. Also zum Beispiel werden die Ersparnisse der Bürger gesammelt und angelegt von Pensionsfonds, die natürlich auch Verluste verkraften können. Das heißt: Bei allem, was über den Kapitalmarkt finanziert ist, ist zumindest die Hoffnung da, dass dort viel mehr Akteure unterwegs sind, die auch die Verluste verkraften können.
Es kommt aber immer darauf an, wie stark die selbst gehebelt sind, also wie stark die selbst wiederum auf Bankdarlehen zurückgreifen, um ihre Portfolien zu finanzieren, ihre Anlagen. Wenn sie stark gehebelt sind, das kennen wir ja aus anderen Krisen, LTGM und so weiter, ist das natürlich auch ein mögliches Desaster in the making. Aber generell ist das eine Stärke, wenn es sehr stark kapitalmarktfinanziert ist.
Was die Banken betrifft, ist es so in USA, das kann ich jetzt nicht zwar direkt aus eigener Forschung oder Analyse bestätigen, aber das, was man so hört, ist, dass die kleinen und mittleren Banken nicht in der gleichen Stärke herangezogen wurden, mit neuen Regeln, dem Abbau von Risiken und dem Aufbau an Kapital - das ist nicht ganz so anspruchsvoll wie in Europa, sagt man. Ich bin da immer ein bisschen vorsichtig. Denn ich denke zurück an 2006, 2007, wo ich viele Fragen bekam von den Medien hier als Professor in Frankfurt zur Finanzkrise. Und am Anfang der Finanzkrise, damals, also 2007, da war ein gewisser Hochmut zu bemerken in Europa. Man hat gedacht, man ist viel besser aufgestellt. Und in den USA, da war dieser verrückte Immobilienmarkt, und wir haben ja das große Bankensystem, das sehr sicher ist. Da gab es Sprüche wie: Europa oder die Eurozone hat eine gute Krise. Es ist nicht so schlimm wie in USA.
Das hat sich dann wenig später als ein eine Einbildung erwiesen, und deswegen bin ich da ein bisschen vorsichtig. Das ist nicht auf Fakten basiert. Also ich würde jetzt nicht sagen, die Aufseher liegen falsch, wenn sie uns sagen, wir haben besser vorgesorgt. Aber es ist trotz allem immer gut, da ein bisschen vorsichtig zu sein und abzuwarten.
In dem Sinne finde ich zum Beispiel das sogenannte European Systemic Risk Board ganz gut, das auch Warnungen vergeben soll, und die haben tatsächlich im September eine Warnung veröffentlicht, dass es zu Makro-Finanzproblemen kommen kann. Das ist schon mal gut. Ob man sich so viel drauf einbilden kann, ist auch wieder nicht so sicher, denn zwischen September und jetzt war auch nicht mehr so viel Zeit, was man da noch ändern konnte. Jedenfalls konnte man nicht den Zinserhöhungszyklus bremsen, der ist ja dringend notwendig.
Carsten Roemheld: Vielleicht kommen wir da zum Schluss nochmal zu. Und es war gut, dass Sie daran erinnert haben, wie das damals auch aus europäischer Sicht war, einfach mal, um ein bisschen auch Demut zu haben in so einer Situation. Die Situation für die europäische Zentralbank würde mich nochmal interessieren, wie Sie die aktuell einschätzen. Die Europäische Zentralbank ist ja ein Stück weit natürlich hinten dran und hat demnach auch noch vielleicht ein bisschen mehr Bedarf, Zinsen zu höhen. Andererseits haben wir natürlich die Peripheriegefahren nach wie vor, das Nord-Süd-Gefälle, das die Zinsen in der südlichen Zone noch stärker ansteigen lässt als bei uns. Wie kann die Europäische Zentralbank jetzt wirkungsvoll vorgehen? Was sollten aus Ihrer Sicht jetzt Präferenzen und Prioritäten sein? Denn das Dilemma ist ja schon groß.
Volker Wieland: Das Dilemma ist natürlich da, weil man hätte früher agieren müssen, aber das ist ja nun passiert. Man muss es trotzdem mal sagen, denn es gab dafür Institutionen. Ich war ja auch mal im Sachverständigenrat und wir haben tatsächlich 2016, 2017 jahrelang gesagt: Leute, wir haben jetzt eine lange Niedrigzinsphase, ihr müsst irgendwann mal die Zinsen erhöhen, besser jetzt schon ganz langsam als später schnell. Jetzt ist es aber genauso gekommen - später schnell. Man hat diese Warnungen nicht berücksichtigt, und die Warnung basierte immer auf den Bankenproblemen und den Vermögenspreisen.
Rasche Änderungen sind schlecht, denn niemand kann sich schnell darauf einstellen. Man kann dann nur noch reagieren, aber nicht mehr viel agieren. Deswegen ist es immer besser, sich ein bisschen vorbereiten zu können, und in dem Sinne ist natürlich jetzt die Notenbank in den USA ein bisschen besser dran, weil sie schon weiter oben sind. Die können leichter ein bisschen warten und dann die Zinsen weiter erhöhen. Für die EZB ist das schwierig. Aber was man noch machen kann, ist zu sagen: Okay, auf der einen Seite vielleicht ein bisschen langsamer vorgehen, aber auf der anderen Seite ziemlich stark signalisieren, dass mittelfristig die Zinsen deutlich höher sein werden. Das kann ein bisschen helfen, aber so arg viel Spielraum hat die Notenbank nicht, was den Zinserhöhungszyklus betrifft.
Es kann auch sein, darauf weisen viele hin, wenn jetzt die Banken Stress haben, dann vergeben sie weniger Kredite und setzen die Kreditanforderungen viel höher an Unternehmen, und das führt auch zu einem Rückgang der Nachfrage, und das muss ja jetzt passieren. Die Nachfrage ist immer noch zu hoch, relativ zum Angebot. Also, es kann sein, dass, wenn es gut läuft für die Notenbanken, dass die Verschlimmerung der Konditionen am Finanzmarkt die Geldpolitik verstärkt und sie deswegen vielleicht nicht ganz so viel machen muss. Aber sie muss trotzdem die Glaubwürdigkeit erhalten, dass sie die Zinsen weit genug erhöht, dass die Inflation auf 2 Prozent zurückgeht. Denn sonst passiert folgendes: Sonst bleiben die Zinsen letztendlich hoch, weil die Inflation höher bleibt.
Carsten Roemheld: Warum hat die EZB sich denn so lange Zeit gelassen? Sie sagen, Sie waren im Sachverständigenrat und haben das empfohlen. Also was war der Grund für das Zögern? War das wirklich so, dass sie die Inflation einfach nicht so stark haben kommen sehen und gedacht haben, die Basiseffekte lassen nach und wir müssen nicht viel tun?
Volker Wieland: Ich glaube, es sind mehrere Gründe. Also zum einen gab es diese lange Phase mit niedriger Inflation, wo man immer wieder auch Prognosen hatte, dass die Inflation, auch weil die Geldpolitik so locker war, doch zurückkommen müsste, und immer wieder ist sie nicht zurückgekommen, oder die Inflation lag so um ein Prozent, und dann wurden die Notenbanker vorsichtiger und sagten, vielleicht hat sich die Welt verändert, und was als lockere Geldpolitik erscheint, ist gar nicht so locker.
Der zweite Punkt ist, dass man gesagt hat, es muss andere Kräfte geben, die Zinsen und Inflation niedrig halten, also zum Beispiel der demografische Wandel, und die Kräfte sind so stark, dass wir da vielleicht gar nicht mehr raus rauskommen. Die Welt hat sich geändert. Also man hat auch dann diejenigen, die gesagt haben, ja, die Welt hat sich nicht so sehr geändert, dann gesagt, ihr habt es halt noch nicht so begriffen. Dann hatten wir noch die Coronakrise. Und dann sagte man: Oje, jetzt schon wieder, jetzt müssen wirklich endlich mal dafür sorgen, dass die Inflation zurückkommt. Und man hat in dem Punkt unterschätzt, wie stark sozusagen die sehr expansive Fiskalpolitik, die vielen Stützungsmaßnahmen in der Coronakrise verbunden mit dem massiven Aufkauf von Staatsanleihen durch die Notenbanken, also der Monetarisierung dieser Schulden und dieser staatlichen Transfers an Unternehmen und Haushalte, man hat unterschätzt, wie inflationär das wirken kann. Und tatsächlich ist sozusagen in der Coronakrise nicht nur die Nachfrage zurückgegangen, sondern auch das Angebot. Die Betriebe haben ja vielfach erst mal gestoppt, und wir haben das Geld angespart, und dann kam die Nachfrage sehr stark zurück. Und schon während der Krise, als wir noch alle zu Hause saßen, haben wir angefangen, Dinge zu bestellen, ob es jetzt Fahrräder waren oder ob es anderes Equipment war. Also, die Nachfrage ging auf langlebige Güter über und ist seither hoch.
Und wir sehen jetzt, seit die Wirtschaft wieder geöffnet ist, auch Knappheiten an Personal, auch im Dienstleistungsbereich. All das treibt die Inflation weiter nach oben. Man hat das unterschätzt. Ich denke trotzdem, man hätte es sehen können, 2021, und früher reagieren. Das ist jetzt zu spät. Aber fürs nächste Mal sollte diese Art von Politik, dass man also auch bei der Geldpolitik so eine Art „leaning against the wind“ betreibt, also auch ein bisschen gegen Übertreibungen an den Finanzmärkten dagegenhält, das, denke ich, sollte man nächstes Mal stärker in Blick nehmen. Stattdessen hat man gesagt, wir bauen Eigenkapital auf, wir haben eine makropotenzielle Politik. Und jetzt werden wir sehen, wie gut die war, denn das sind jetzt die Puffer, die getestet werden.
Carsten Roemheld: Jetzt bin ich ja sehr froh, dass wir mit Ihnen auch einen großen Inflationsexperten an Bord haben heute, der uns sicherlich ganz gut sagen kann, was die Inflationserwartungen sein werden in Zukunft. Wir haben ja immer noch, wie Sie selbst sagten, hier in Europa sehr hohe Inflationsraten: 8,7 Prozent. Es gibt viele, die sagen, und wir sagen das auch, dass die Inflationserwartungen in Zukunft höher liegen werden als vor der Covidkrise, aus strukturellen Gründen. Frage: Aus Ihrer Sicht, über die nächsten zehn Jahre betrachtet, wo werden wir grob bei den Inflationsraten landen? Was sind aus Ihrer Sicht die Treiber für höhere Inflationsraten gegenüber vor der Coronakrise? Und was glauben sie, was jetzt kurzfristig, vielleicht auch durch die Einschränkung der Wirtschaft und durch dies Zurückfahren der Kreditaktivitäten, was da dafür Inflationszahlen erreicht werden können? Kommen wir da in die Nähe der Notenbank-Erwartungen? Sind überhaupt noch zeitgemäß mit 2 Prozent? Oder müssen wir da nicht auch mal irgendwie längerfristig ein bisschen höher ansetzen?
Volker Wieland: Ich freue mich natürlich, wenn Sie mich als Inflationsprognostiker so loben. Ich glaube, dann weiß man vor allem, wie schwer das Geschäft ist, und wie wenig man eigentlich weiß - auch wenn man das ganze Instrumentarium, was die Ökonometrie und Ökonomie so entwickelt hat, benutzt. Da muss man schon sehr bescheiden sein. Bei der Inflation kann man sich es aber auch, wenn man will, über die lange Frist einfach machen.
Also, ich gehöre schon zu denen, und ich glaube, das sagt auch unsere wissenschaftliche Kenntnis in ihrer Breite, dass die Inflationsraten letztendlich von den Notenbanken bestimmt werden. Also, langfristig ist es innerhalb der Macht der Notenbanken, die Inflation dorthin zu bekommen, wo sie sie haben wollen, denn ohne Geld keine Inflation. Letztendlich: Was ist Inflation? Inflation ist die Veränderung der Kaufkraft des Geldes, und das Geld wird natürlich von den Notenbanken geschaffen. Das ist nicht mehr so viel Bargeld. Also, man spricht immer vom Gelddrucken, aber das ist heute viel einfacher. Man schafft das Geld sozusagen aus der Luft, indem man im Computer eine Zahl nach oben fährt, also die Zahl auf dem Konto. Da hat eine Bank ein Konto bei der Notenbank, und das wird halt mal digital erhöht.
Das heißt, Geld und Inflation hängen letztendlich zusammen, und es ist letztendlich in der Macht der Notenbank, das auf 2 Prozent zurückzubekommen. Deswegen ist es auch nicht überraschend, dass langfristige Papiere an den Finanzmärken -gut, da kommt es drauf an, weil da gibt es natürlich auch Risikoprämien, die eingebaut sind, aber auch Prognosen von Experten - wenn es um die lange Frist geht, sagen die: Naja, wenn die EZB sagt, 2 Prozent ist ihr Ziel, dann kann sie das schaffen. Und solange wir Vertrauen haben, dass sie es auch wirklich macht, wird sie es auch schaffen.
Aber, und das ist der zweite Punkt, dieses Vertrauen: Das kann sich schnell ändern. Und es hängt natürlich auch sehr stark davon ab, wie bereit die EZB ist. Und die meisten Notenbanken der führenden Industrienationen haben genau dieses Problem und sind auch alle nicht unbedingt so viel besser aufgestellt als die in der aktuellen Situation. Aber letztendlich ist es halt nicht einfach die Party zu beenden oder zu sagen, die Schmerzen den Patienten mehr oder weniger zuzufügen, wenn es darum geht, die Nachfrage in Einklang mit dem Angebot zu bringen. Und deshalb ist es immer getestet - und die Erwartungen können sich sehr schnell ändern, und auch wenn sie vergleichen.
Ich würde vielleicht noch zwei Erwartungsquellen nennen: die Finanzmärkte. Da können wir uns das anschauen, was in dem Handel von Derivaten für Inflations- und Risikoerwartungen drin sind. Das ist nicht ganz einfach, denn man muss da Risiko und Inflation auseinandernehmen, und da kann man sich auch verrechnen. Aber grundsätzlich sind die Erwartungen an den Finanzmärkten recht optimistisch, dass die Inflation tatsächlich ziemlich schnell zurückkommt, ähnlich wie die EZB das erwartet, und wir 2025 wieder in der Nähe von 2 Prozent sind, also ziemlich nah. Das wurde natürlich auch schon vor zwei Jahren erwartet. Man kann sich da täuschen. Die Finanzmärkte sind also relativ optimistisch, vielleicht zu optimistisch.
Wenn wir wiederum Daten von Umfragen anschauen: Die Bundesbank macht Umfragen in Haushalten, da sieht man, dass die Haushalte vielleicht sogar zu pessimistisch sind. Die Haushalte schauen natürlich sehr stark darauf, was ist die aktuelle Inflationsrate, und tendieren vielleicht stärker dazu, dass einfach nach vorne zu spielen, mit einem gewissen Abschlag. Dementsprechend sind dort die Erwartungen in den Umfragen deutlich höher und etwas pessimistischer als die typischen Finanzmarkt-Prognosen, die wir im Moment bekommen. Die sehen praktisch, dass wir bei 2025 bei 2 Prozent sind. Da wäre ich mir nicht so sicher. Das erfordert meines Erachtens wirklich, dass die Notenbank in den Bereich steuert, wo der Realzins, also Nominalzins abzüglich Inflationserwartung, positiv ist. Und das sind wir noch nicht.
Carsten Roemheld: Da sind wir noch lange nicht. Inwieweit sehen Sie denn eine Mitschuld auch der Zentralbanken an der Entwicklung, die wir heute haben, also sprich an den hohen Inflationsraten? Natürlich haben wir ein paar Sonderfaktoren über Covidkrise, Lockdowns und ähnlichen Dingen gehabt, die angebotsgetrieben sind. Aber natürlich darf man nicht vergessen, dass wir eine ganz schöne Geldschwemme auch gesehen haben, die sich dann noch mal verstärkt hat. Vielleicht ist das Phänomen Inflation auch zum guten Stück von den Notenbanken selbst verursacht.
Volker Wieland: Ja, ich denke schon, aber das kann man ja immer nachher besser sehen als im Vorhinein. Natürlich hatten wir 2020 mit der Coronakrise etwas völlig Unvorhergesehenes. Es gab immer Menschen, die gesagt haben, Pandemien können kommen und können schwere Auswirkungen haben, auch wirtschaftlich. Aber so hat man es nicht gesehen. Und jegliche Pandemie bricht ja auf einen Schlag aus. Also man kann die nicht ein Jahr vorhersagen. Man kann nur generell davor warnen, und man hat natürlich dann alle Register gezogen, und da hat man an mehreren Punkten übertrieben. Es gab auch Institutionen, die gesagt haben, die Unterstützungsprogramme früher zu beenden.
Die USA hat dann zum Beispiel auch unter Biden nochmal so hohe Transfers draufgesattelt, obwohl Trump ja schon sehr viel gemacht hatte. Auch das hat die Inflation beschleunigt, also von fiskalischer Seite, und die Notenbanken haben das natürlich massiv unterstützt. Ich denke, in der Krise war das völlig verständlich, man wusste ja nicht so viel über diese Art von Krisen. Also man konnte sich zwar vorstellen, dass es einfach nur ein Stopp der Wirtschaft ist für eine gewisse Zeit, und dann geht es wieder zurück. Für meinen Geschmack wurde das zu lange betrieben, hätte man auch früher beenden können. Aber es ist auch verständlich, wenn da die Risikoaversion eher zu dem Gedanken führte: Behalten wir die Unterstützung erst mal bei.
Gut, ich denke, es wäre relativ klar gewesen, im Sommer 2021, dass man agieren müsste und nicht erst im Sommer 2022. Also man hätte vielleicht diesen Zinserhöhungszyklus sechs Monate bis ein dreiviertel Jahr früher starten können. Dann wäre manches leichter. Die Inflation wäre wahrscheinlich zumindest nicht ganz so hoch gestiegen, weil dieser Grundbetrag oder diese Basis, die 2021 geschaffen wurde, die hätte man früher in den Griff bekommen. Aber man hätte natürlich jetzt geldpolitisch den Initialschock des Ukraine-Kriegs, also dass die Energiepreise nach oben gegangen sind, der Gas-Lieferstopp - das hat erst mal eine Schockwirkung, und wenn der Schock erstmal einritt, fällt er aus, so groß wie er halt ist. Die Notenbank hat, wenn sie früher reagiert hat, natürlich eine Chance, dass es schneller zurückgeht. Aber auf der anderen Seite hätte natürlich so oder so, auch wenn die Notenbanken früher gestartet wären, hätte der Gaslieferstopp und der russische Angriff auf die Ukraine trotzdem die Inflationsrate um gut 5 Prozentpunkte weiter nach oben geschossen.
Carsten Roemheld: Lassen Sie uns im letzten Block noch ein bisschen über die großen Zusammenhänge reden, auch die Aufgaben der Zentralbanken und wie sie eingeordnet werden können in das gesamtpolitische Umfeld. Sehen Sie denn eine gewisse Gefahr für die Unabhängigkeit der Notenbanken, dass sie sich der Geldwertstabilität allein verpflichten und nicht auch Nebenaspekte der Politik mit in ihre Politik mit aufnehmen? Und brauchen die Notenbanken auch aktive Mithilfe der Regierungen?
Volker Wieland: Ja, absolut absolut! Dafür gibt's zwei Fachbegriffe: Die sogenannte fiskalische Dominanz oder die finanzielle Dominanz. Das heißt im einen Fall, dass die Geldpolitik eben nicht mehr der Preisstabilität verpflichtet ist, sondern versucht, die Staatsfinanzierung möglichst leicht zu machen. Oder - im Begriff der finanziellen Dominanz -, dass die Geldpolitik ihre Inflationskontrolle aufgibt, weil es jetzt erst mal wichtiger ist, die Banken rauszuhauen, die Zinsen zu senken, damit es den Banken besser geht, damit es dem Finanzsystem besser geht. Die Gefahr besteht doppelt, und es ist auch so, man sieht das schon im Juni 2022, bevor die EZB überhaupt angefangen hat, die Zinsen anzuheben, hatten sie eine Notfallsitzung. Bei der Notfallsitzung ging es aber gar nicht um die Inflation, sondern es ging darum, dass im Zuge des Anstiegs der Inflation die Zinsaufschläge für Staatsanleihen nach oben gehen, insbesondere italienische Staatsanleihen oder generell Staatsanleihen von höher verschuldeten Staaten. Diese Aufschläge, die die zahlen müssen gegenüber Deutschland, die sind im Mai/Juni 2022 bereits nach oben gegangen, und dann hieß es, das können wir nicht tragen, obwohl das Zinsniveau noch deutlich niedriger war. Und dann hat die EZB infolge ihrer Notfallsitzung gleich mal ein neues Programm vorgestellt, dass sie auch in Zukunft noch, speziell, um in solchen Situationen die Aufschläge zu begrenzen, intervenieren kann und die Anleihen dieses betroffenen Landes kauft.
Für die Fachleute: Es gab schon mal so was ähnliches unter Mario Draghi, die sogenannten „Outright Monetariy Trancactions“ oder OMT, die in Deutschland auch vorm Bundesverfassungsgericht gelandet sind. Also, die wurden damals schon eingeführt, und man hätte ja sagen können, reicht doch! Aber Draghi hat damals noch dafür gesorgt, dass da erst die Mitgliedsstaaten zustimmen müssen, weil er gesagt hat: Wir koppeln das an ein sogenanntes Rettungsprogramm des europäischen Stabilitätsmechanismus, also ein fiskalisches Stützungsprogramm. Und nur wenn das da ist, und darüber müssen die Mitgliedsstaaten abstimmen, die Regierungen, machen wir solche groß angelegten Anleihekäufe für ein betroffenes Land, das jetzt Probleme hat, seine Schuldenpapiere zu platzieren am Markt. Das hat man abgeschafft.
Das musste bisher nicht genutzt werden. Aber sie sehen, da ist ein Programm, das im Schaufenster steht, und natürlich werden Regierungen danach rufen, wenn sie jetzt auch in Schwierigkeiten kommen. Und das kann passieren. Es ist nicht akut, weil die Inflation den Regierungen ja hilft. Die Regierungen sind Schuldner, und Inflation hilft dem Schuldner und schadet dem Gläubiger. Und insofern stehen die Staaten im Moment einen Tick besser da, denn die Schuldenquoten fallen in den meisten europäischen Mitgliedstaaten. Und auch ohne Steuererhöhungen bekommen sie mehr Einnahmen, weil die Inflation vielleicht in gewisser Weise die Löhne nach oben treibt. Und dann rutscht man nominal, aber nicht real, im Steuertarif nach oben, und dementsprechend zahlt man mehr Steuern, obwohl man von der Kaufkraft her ja gar nicht mehr Geld hat. Also, die Staaten stellen sich im Moment ganz gut, aber mittelfristig haben die natürlich auch das Problem, dass sie höhere Zinsen zahlen müssen. Das dauert noch zwei, drei Jahre, aber dann schlägt sich das generell in den Zinskosten nieder. Und dann kommen die auch wieder in Schwierigkeiten.
Carsten Roemheld: Jetzt haben Sie ja ganz schön ein paar Instrumentarien speziell der EZB nochmal genannt. Ich würde nochmal ganz gerne noch auf den Unterschied zwischen der EZB und der Fed eingehen, weil die Fed ja ein etwas breiteres Mandat hat, neben der Geldwertstabilität eben auch zur Sicherung der maximalen Beschäftigung beizutragen. Ist das breitere Mandat sinnvoll? Oder glauben sie, dass die EZB durch Konzentration auf Geldwertstabilität das bessere Mandat hat?
Volker Wieland: Ich glaube, dass die EZB tatsächlich das bessere Mandat hat. Ich würde es so sagen: Ich habe vorher schon gesagt, ohne Geld keine Inflation. Also die Instrumente, die Möglichkeiten, die die EZB, die jede Notenbank hat, haben am ehesten eine Auswirkung auf die Inflation. Die kann man auch langfristig unter Kontrolle bringen. Das gilt aber nicht für reale Wirtschaftsgrößen wie die Beschäftigung, die Arbeitslosigkeit oder das reale Wirtschaftswachstum. Nominal gesehen wächst das BIP ja gerade mit der Inflation. Aber wenn man die Kaufkrafteffekte rausrechnet, stagnieren wir ja. Das heißt, die Geldpolitik hat eine Auswirkung auch langfristig auf nominale Größen, aber nicht auf reale Größen, also kaufkraftkorrigierte Größen. Und deswegen ist so ein Mandat, wie die Fed das hat, sowohl Beschäftigung als auch Inflation oder Preisstabilität - das ist schwierig zu erfüllen auf gleicher Ebene. Kurzfristig ja: Da gibt's einen trade off, weniger Zinserhöhungen sind vielleicht nicht so schlimm für die Beschäftigung, aber lassen die Inflation vielleicht stärker aus Kontrolle geraten. Aber langfristig gibt es keine Möglichkeiten der Notenbanken. Langfristig das Beste, was die Notenbank machen kann für die Wirtschaft insgesamt, für das Wirtschaftswachstum, ist Preisstabilität. Weil hohe Inflationsrate oder hohe Inflationsvariabilität immer schlecht ist. Also, da gibt's dann sozusagen diesen berühmten Tausch zwischen: Willst du hohe Inflation oder hohe Arbeitslosigkeit? Den gibt's da nicht. Deswegen finde ich das Mandat der EZB besser.
Aber in der Praxis hat die EZB natürlich auch den Auftrag, solange die Preisstabilität gewährleistet ist, die Wirtschaftspolitik der Union zu unterstützen, und sie hat ja selbst sich noch alle möglichen Punkte jetzt mit sozusagen auf die Palette gezogen. In den letzten Jahren hat sie davon gesprochen, dass sie jetzt auch den Klimawandel bekämpfen wollen. Also, liebe Leute, da sieht es ganz schlecht aus mit den Verbindungen zwischen den Instrumenten der EZB und dem Klimawandel. Aber gut, man will da dabei sein, man will Gutes tun. Es gibt auch viele, die sagen, ihr müsst auch was gegen die Ungleichheit tun. Das ist auch schwierig. Also kann man nur abraten. Ich glaube, das ist aber im Moment jedem klar: Weil, wenn die Inflationsrate jetzt gerade bei 10 Prozent war und nicht weit runter ist, dass es jetzt mal um Thema eins gehen muss. Und dass man dann, um das zu realisieren, natürlich auch ein funktionierendes Finanzsystem braucht - eine Krise ist jedenfalls auch nicht gut. Also eine echte in Krise darf die EZB oder die Fed jetzt auch nicht auslösen. Also zwei große Themen - und da sollte man andere Ziele deutlich zurückstellen.
Was die Beschäftigung betrifft, stehen wir im Moment extrem gut da. Wir haben Rekordbeschäftigung. Und das wird sich so schnell auch nicht ändern, weil die Demografie so läuft, dass uns die Fachkräfte und nicht nur die Fachkräfte, aber generell die Arbeitskräfte ja jedes Jahr wegbrechen, weil sie in Ruhestand gehen. Das heißt, da ist auch im Moment jetzt nicht so eine große Baustelle.
Carsten Roemheld: Jetzt habe ich am Anfang etwas von der sogenannten Orphanides-Regel erwähnt, und Sie sind ja Mitentwickler dieser Regel. Ich versuche mal kurz zu erklären, worum es geht. Also die Grundidee scheint mir zu sein, dass sich Geldpolitik weniger danach richtet, ob die gesamtwirtschaftlichen Kapazitäten gerade unterausgelastet sind, was sich zum Beispiel an hoher Arbeitslosigkeit zeigen könnte. Vielmehr sind Leitzinsänderungen laut dieser Regel eher eine Reaktion auf Abweichungen der Inflationsprognosen vom Ziel, vom Inflationsziel. Oder auf Abweichung des Wachstums von den Wachstumsprognosen. Habe ich das so einigermaßen richtig zusammengefasst?
Volker Wieland: Sie haben das exakt beschrieben, da brauche ich gar nichts hinzufügen. Ich würde vielleicht noch Folgendes hinzufügen: Also die wirklich berühmtere Regel ist eigentlich die Taylor-Regel. Ich habe auch mal bei John Taylor studiert, der hat das schon 1993 aufgestellt. Und die ist ein bisschen anders: Da wird das Zinsniveau in Zusammenhang gebracht mit der Abweichung von Inflation vom Inflationsziel - das ist also ähnlich. Aber dann wird in der Tat noch darauf geschaut, was ist das Niveau der Wirtschaftsleistung relativ zum Potenzial. Das ist also eine Regel, die das Niveau des Zinses festlegt, denen die Notenbank festlegen soll. Sie können sagen: Quatsch, Regeln, wozu brauchen wir das? Wir haben Experten, die Sitzen in diesen Notenbankräten, und die werden das schon richtig machen. Die entscheiden halt bei jedem Treffen diskretionär, nicht regelbasiert. Aber wenn ich zurückgehe zu Ihren Fragen am Anfang unseres Gespräches, was sind die Prognosen für die Inflation, und die Fragen stellen sich ja viele. Bleibt die Kaufkraft meines Einkommens stabil? Oder, wenn Sie Unternehmer sind, muss ich die Preise erhöhen? Wie viel, damit ich so wenigstens real gesehen die gleichen Einkünfte habe? Am Markt, überall werden Erwartungen gebildet, und wenn man Erwartungen bildet, muss man sich auch Gedanken darüber machen, wie könnte eine Notenbank darauf reagieren? Was ist also die Reaktionsweise oder Reaktionsfunktion? Und genau das ist eine Regel. Eine Regel versucht abzubilden, dass es eben nicht nur eine Aneinanderreihung von völlig unabhängigen Entscheidungen sein kann, sondern es muss systematisch reagiert werden auf die Entwicklungen in der Wirtschaft. Und das machen diese Regeln. Idealerweise sollten Notenbanken die gut im Blick haben.
Der Unterschied, wie Sie schon sagten, bei der Orphanides-Regel, wo ich mitgewirkt habe, ist, dass man da auf die Zinsänderungsraten schaut und nicht spezifisch ein Niveau festlegt, sondern nur die Änderung betrachtet und fragt: Wie schnell müssen die Raten ansteigen oder fallen? Und dann gibt es ein paar Fragen, die man sich nicht stellen muss. Zum Beispiel: Was ist das langfristig reale Zinsniveau? Das ist so eine Größe, die extrem schwer abzuschätzen ist. Oder was ist die sogenannte natürliche Arbeitslosenquote oder das Wirtschaftspotenzial? Das muss man da nicht, zumindest im Niveau, kennen. Und deswegen war es in mancher Hinsicht eine leichter praktikable Regel als die Taylor-Regel, also eine Veränderung, ob es wirklich eine Verbesserung war, werden wir sehen. Zumindest schien eine Zeit lang so, dass wir mit unserer Regel eine Zeitlang ganz gut abgebildet haben, was die EZB macht, zumindest sagen wir so bis 2017, 2018. Aber das liegt nun schon einige Zeit zurück. Und es bleibt abzuwarten, ob sie sich weiterhin oder bald wieder so ähnlich verhalten oder nicht. Aber die Regel würde natürlich jetzt auch sagen: Es gibt noch Zinserhöhungsbedarf.
Carsten Roemheld: Ja, lassen wir zum Abschluss nochmal zwei etwas in die Zukunft gerichtete Fragen stellen. Die erste: Glauben sie, dass das Mandat der EZB sich in Zukunft ändern wird? Wir haben ja gesagt, im Moment ist es relativ klar, aber es kommen immer wieder neue Anforderungen oder Instrumente dazu. Oder glauben sie, dass sich zumindest das Inflationsziel vielleicht ändern wird in Zukunft? Was denken Sie dazu?
Volker Wieland: Das Mandat der EZB wird garantiert nicht verändert, es sei denn, die Währungsunion bricht auseinander. Denn am Mandat irgendwas zu ändern, erfordert Einstimmigkeit, und dementsprechend ist es nahezu unmöglich. Denn selbst wenn eine Mehrheit das ändern wollte, müssten wir alle anderen mit einkaufen, dass sie mitmachen. Da habe ich keine Sorge.
Zur Inflation: Das hat die EZB natürlich eine gewisse Interpretationsmöglichkeit. Da steht ja nicht im Gesetz, 2 Prozent ist die richtige Zahl. In den Verträgen steht nur Preisstabilität. Und dann, wenn Preisstabilität gewährleistet ist, noch andere Nebenziele. Die EZB hat also Interpretationsspielraum, den hat sie genutzt. Sie hat mal angefangen, wir wollen die Inflation unter 2 Prozent halten. Da war nicht ganz klar, wie weit runter. Dann haben sie gesagt, zwischen null und zwei. Später, also 2003, haben sie denn gesagt, relativ nah, aber knapp unter zwei. Und jetzt, zuletzt 2021, haben sie gesagt, na ja, genau zwei. Sie sehen schon, die Änderungen werden immer kleiner. Ich glaube, an der zwei wird sich nichts mehr ändern. Die Gefahr ist eher, dass zwar der Wille da ist, aber das Fleisch schwach. Es ist also nicht 100 Prozent sicher, dass die EZB es immer schafft, wenn da starke Kräfte vorhanden sind, die die Inflation immer wieder wegtreiben lassen, so dass man zwar immer wieder glaubt, in zwei Jahren sind wir wieder dort, aber immer wieder wird man weggetrieben. Das ist etwas, was eintreten kann.
Es gibt ein paar Kräfte, die jetzt wirken und wohl auch noch länger wirken werden in Zukunft. Wir haben zwar keine Deglobalisierung, aber wir haben eine gewisse Umstrukturierung der Globalisierung. Wir müssen jetzt aufpassen: Wo sind die Lieferketten, sind die gut verteilt, sind auch viele Freunde darunter, Und wer sind unsere Kunden? Sind das mögliche Opponenten? Also, da gibt jetzt viele Unwägbarkeiten, und es gibt einige Trends, so dass die Globalisierung nicht in der gleichen Weise fortschreiten wird. Das heißt: Wir hatten in den Jahren bis 2019 eine niedrige Inflation vor allem, weil immer wieder die Importpreise gefallen sind. Der Faktor ist weg.
Dann hatten wir auch durch die Globalisierung ein großes Arbeitskräfteangebot. Das ändert sich. Wir haben jetzt eine Situation aufgrund der demografischen Entwicklung, aber auch, weil es gar nicht so einfach ist zu wandern, weil die Konflikte zunehmen, also generell Arbeitskräfteknappheit in den Industrieländern. Das treibt die Inflation eher nach oben. Es gibt noch den demografischen Wandel, der vielleicht auch - weil die Menschen einfach mehr ansparen müssen fürs Alter - vielleicht auch die Inflation und die Zinsen drückt. Das war ein Faktor, den hatten wir in den zehn, 15 Jahren vor 2019, und der wird wohl auch weiter präsent bleiben.
Aber es gibt eine Reihe von Faktoren, die eher inflationär sind, zuletzt sicher auch die Klimapolitik. Also wenn man den Klimawandel bekämpfen wollen, wird das sehr hohe Preise auch für Energie erfordern, um die Transformation zu meistern. Das geht nur durch Anreize, dass also fossile Energie sehr teuer wird, ist ja jetzt auch schon passiert. Der Staat wollte es dann wieder reduzieren, hat er auch gemacht, hilft dann natürlich nicht dem Klimawandel, aber gut, wir wollten das so. Aber das sind Faktoren, die eher die Inflation nach oben treiben.
Und dann kann es natürlich immer wieder passieren, dass die Notenbank zwar glaubt, in zwei Jahren sind wir wieder auf Ziel, und dass, wenn kein weiterer Schock kommt, das vielleicht auch klappen würde. Aber wenn dann nochmal ein Schub kommt, schafft man es halt wieder nicht, muss wieder neu ansetzen. Und deswegen ist es durchaus möglich, dass wir so eine Phase mit höheren Durchschnitts-Inflationsraten vor uns haben. Aber sicher ist es nicht. Es ist vielleicht die höhere Wahrscheinlichkeit, aber umgekehrt gibt's mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit aus meiner Sicht jetzt natürlich auch das Szenario, dass wir vielleicht nach einem Inflationsschub von zwei, drei Jahren, der allen geholfen hat, die Schulden haben, diese Schulden ein bisschen reduzieren. Vielleicht fallen wir dann wieder auf eine Situation mit einem hohen Ersparnisangebot und relativ niedrigen Inflationsraten zurück. Das hoffen manche. Und ich glaube, das ist auch ein bisschen in vielen Prognosen mit eingearbeitet, weshalb die auch so optimistisch aussehen.
Carsten Roemheld: Das schauen wir uns sehr genau an und sprechen uns vielleicht in zwei, drei Jahren wieder zu dem Punkt. Sie haben einige Trends genannt, die für die Zukunft gelten. Einer dieser Trends ist auch sicherlich die Digitalisierung. Die geht auch nicht an der Währung vorbei. Der digitale Euro wird diskutiert bei den Zentralbanken. Was glauben Sie denn, welche Risiken und Chancen sich ergeben, wenn dieser digitale Euro eingeführt wird für das Finanzsystem insgesamt?
Volker Wieland: Lassen Sie mich die Frage noch ein Tick breiter beantworten, wenn wir noch eine Minute haben. Also der digitale Euro ist ein Teil davon. Aber Sie haben ja zu Anfang gesagt, die Digitalisierung ist eine große Veränderung. Das ist vollkommen richtig. Und darin liegt auch eine gewisse Chance, auch in Bezug auf die Inflationsrate. Also wenn tatsächlich die Digitalisierung uns wirklich hilft, und auch denken wir jetzt KI, worüber sehr viel geredet wird, Künstliche Intelligenz ist jetzt gerade das absolut heiße Thema. Wenn uns das wirklich hilft, wieder deutlich produktiver zu werden, dann würde es dazu beitragen, höhere Wachstumsraten, reale Wachstumsraten zu erzielen und den Inflationsdruck zu reduzieren. Und da ist es so. Wir haben jetzt eigentlich über die letzten Dekaden, das läuft eigentlich schon so seit den Neunzigern, eher einen Rückgang der Produktivitätswachstumsraten. Die sind noch positiv, aber die sind gefallen weltweit, auch in Deutschland, auch in den USA. Und wenn Digitalisierung uns hilft, bei allem besser zu werden und schneller zu werden, und einzelne Arbeitskräfte noch produktiver werden, auch vielleicht im Dienstleistungsbereich, wo wir bisher noch kein solches Produktivitätswachstum hatten wir im industriellen Bereich, dann kann uns das helfen.
Aber es ist natürlich auch ein Kostenfaktor. Man muss das erst mal aufbauen, und dann dauert es, bis es sich wirklich dann in höheres Produktivitätswachstum umsetzt. Jetzt sagen, kann die Digitalwährung da einen Beitrag leisten? Das würde ich auch, wenn man ein bisschen breiter drauf schaut, nicht ausschließen. Dahinter steht ja eine Technologie, die Blockchain also. Im Prinzip ist es ja so: Man muss ja alle Finanztransaktionen buchen, und dazu gibt es normalerweise ein zentrales System. Die sogenannte Blockchain schafft nun digitale Methoden, die uns erlauben, das dezentral aufzubauen, und dazu muss das praktisch so verschlossen sein, dass man es nicht verändern kann, man nicht reinhacken kann und diese Buchungen, die da innerhalb der Blockchain festgeschrieben sind, nicht nachträglich ändern kann. Wenn es zentral läuft, muss man da erst mal einbrechen auf die eine und andere Weise. Also, das ist schon eine technologische Entwicklung, die kann vielfältigen Nutzen haben. Ob nun die Digitalwährung an sich tatsächlich die Welt so weit nach vorne gebracht hat, das sehe ich jetzt im Moment nicht, weil allein die Transaktionszahl ja sehr gering ist. Dann gibt's aber an Finanzmärkten inzwischen verschiedene Stable Coins, Digitalwährungen, die dann an eine staatliche Währung gekoppelt sind, und davor haben die Notenbanken eine gewisse Angst.
Erinnern Sie sich vielleicht an Libra, ein Name, der dann wieder verschwunden ist. Das war die Idee von Facebook, eine solche Stable Coin zu schaffen, die dann auch gleich mit den ganzen Kontakten von Facebook verstehen ist und mit Dienstleistungen, sodass die plötzlich einen großen Teil des Zahlungsgeschäfts bekommen hätten in einer anderen Währung, die zwar an den Euro oder Dollar gekoppelt ist - aber dann ist die Frage, wie stabil diese Kopplung ist. Zurecht wird das sehr gut beaufsichtigt, und ist so nicht zustande gekommen. Jetzt backen die erst mal kleinere Brötchen, machen das erst mal gekoppelt an den Dollar.
Aber diese Digitalwährungen sind natürlich auch für die Notenbanken eine gewisse Gefahr, weil sie sagen: Die graben uns das Wasser ab: Wenn viele Menschen diese privaten Digitalwährungen nutzen würden, dann entgeht uns was, weil die Notenbanken ja auch einen Profit schaffen. Die schaffen Geld aus dem Nichts, das Geld wird verwendet, und die Notenbanken haben idealerweise Zinserträge auf die Anleihen, die sie im Gegenzug erhalten. Das kann auch mal negativ sein, so wie jetzt. Aber generell ist da immer ein Profit für den Staat dabei, und da will man sich sozusagen nicht die Butter vom Brot nehmen lassen.
Auf der anderen Seite gibt viele Menschen in der Welt, die in Ländern leben, wo es gar keine gescheite stabile Währung gibt oder wo gerade Krieg herrscht, und die sie sagen, gut, ich bunkere Dollar. Das ist für die sehr schwierig. Wenn es nun private Digitalwährungen gibt oder staatliche gäbe wie einen digitalen Euro von der EZB oder einen digitalen Dollar von der Fed, dann kann es natürlich passieren, dass Menschen in vielen anderen Ländern der Welt diese Digitalwährungen nutzen werden. Dann verliert, was weiß ich, die Notenbank von Zimbabwe, aber die haben auch einen ziemlich schlechten Job gemacht, die haben ja Hyperinflation immer wieder mal. Das könnte natürlich dann zum Guten für viele Menschen sein.
Aber da sind wir noch nicht. Also die Notenbanken testen das, aber die sind sehr vorsichtig, denn da steht noch ein anderer möglicher Verlierer im Raum. Im Moment laufen die ganzen Transaktionen über die Bank, über das Bankensystem. Wir haben unsere Kunden bei der Bank, wir haben keine Kunden bei der Notenbank. Und wenn wir alle unsere Konten dann zur Notenbank bewegen würden, da würden die Banken ziemlich alt aussehen. Und das wollen wir ja nicht automatisch jetzt schon herbeiführen. Also auch da gilt es jetzt, nicht zu viel kaputt zu machen, und deswegen sind die Notenbanken da auch so extrem vorsichtig und haben das nicht wirklich gelauncht in den großen Industriestaaten.
Carsten Roemheld: Ja, das wird sehr spannend sein, die Entwicklung da weiter zu verfolgen, wie das mit den Digitalwährungen weitergeht. Also insofern bleibt noch einiges offen. Ich danke Ihnen sehr, sehr herzlich für dieses extrem spannende Gespräch. Die Zeit ist wie im Nichts verflogen, wir hätten noch stundenlang weiter sprechen können, aber wir müssen leider Schluss machen. Auch Ihnen, liebe Zuhörer, herzlichen Dank für das Interesse. Wir hoffen, wir haben wieder ein paar spannende Einblicke und interessante Insights heute gebracht, und wir sehen uns beim nächsten Mal wieder bei einem der anderen Formate, die wir für Sie bereitstellen.
Viele Grüße und alles Gute, Ihr Carsten Roemheld