Nachhaltigkeit in China: vom Klimasünder zum Musterschüler
Carsten Roemheld: Herzlich willkommen zur neuen Ausgabe des monatlichen Kapitalmarkt-Podcasts der Fondsgesellschaft Fidelity International. Mein Name ist Carsten Roemheld, ich bin Kapitalmarkt-Stratege bei Fidelity und ich suche an dieser Stelle einmal im Monat Antworten auf eine entscheidende Frage: Was bedeuten die wirtschaftlichen Entwicklungen von heute für die Anlagestrategie von morgen?
Die Welt mit den Augen der anderen zu betrachten, mit den Augen der Mitspieler und der Gegenspieler. Das, so sagte der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt einmal, sei eine Kunst, die man nur im Gespräch mit Menschen anderer Kulturkreise erlernen könne. Der Mann, mit dem ich mich zu meinem heutigen Podcast verabredet habe, teilt diese Auffassung. Das weiß ich aus einem Gesprächsband, den er gemeinsam mit Helmut Schmidt über unseren Nachbarn China verfasst hat. Das Wort Nachbar deutet es dabei schon an: China ist uns tatsächlich viel näher, als wir manchmal meinen.
Für meinen Gesprächsgast Frank Sieren gilt das auch im räumlichen Sinne. Er lebt seit einem Vierteljahrhundert in China, arbeitet von dort aus als Journalist und Publizist und ist wohl einer der profiliertesten Chinakenner Deutschlands. In seinem neuesten, überaus lesenswerten Buch widmet sich Sieren der 12-Millionen-Metropole Shenzhen, die er als chinesisches Silicon Valley beschreibt. Wir haben aber nicht nur über Chinas immense technologische Fortschritte gesprochen, sondern vor allem auch über das Thema Nachhaltigkeit. Denn China ist mit seinen über 1,4 Milliarden Menschen inzwischen der größte Umweltverschmutzer der Welt. Von der Frage, wie schnell dieser Staat seine Umweltprobleme löst, wird also ganz maßgeblich abhängen, ob sich der Klimawandel weltweit noch bremsen lässt.
Was aber können wir von China in Sachen Nachhaltigkeit erwarten? Eine ganze Menge, sagt Frank Sieren. Er beschreibt eindrücklich, wie der Handlungsdruck im Land gewachsen ist. Da sind die Menschen, die mit steigendem Wohlstand ein steigendes Umweltbewusstsein entwickeln. Nicht im westlichen politisch-ideologischen Sinn, sondern zunächst einmal mit einem ganz pragmatischen, ja höchst eigennützigen Kalkül. Auch in China will man schlicht in einer intakten Natur leben, mit sauberer Luft und Zugang zu frischem Wasser. Da ist der wachsende Verkehr: Der Staat ist gezwungen, durch neue Mobilitätskonzepte die Straßen in den Städten zu entlasten und den Flugverkehr einzudämmen. Denn sonst droht der Verkehrsinfarkt. Als Antwort darauf entsteht gerade beispielsweise der Hyperloop, ein Hochgeschwindigkeitszug, der als eine Art Weiterentwicklung des Transrapid schon bald die Metropolen des Landes effizient verbinden soll. Und schließlich ist da der Einfluss westlicher Investoren. Die bringen nicht nur frisches Kapital ins Land, sondern exportieren auch ihre, also unsere weltliche Moral.
So entstehen derzeit jede Menge neue Fabriken nach neuesten westlichen Umwelt- und Sicherheitsstandards. Die heimischen Anbieter müssen in diesem Wettbewerb nachziehen. Frank Sieren sagte mir, uns muss klar sein, wir brauchen den chinesischen Markt, wenn wir weiter so leben wollen, wie wir leben – und die Chinesen brauchen uns. Ich teile diese Beobachtung und füge hinzu: Alle gemeinsam brauchen einen intakten Planeten. Das sollte ausreichen, um miteinander zum Ziel zu kommen.
Ich wünsche auch Ihnen in den folgenden 40 Minuten viele Aha-Momente und gute Unterhaltung mit Frank Sieren und dem chinesischen Weg zu mehr Nachhaltigkeit.
Carsten Roemheld: Herr Sieren, in der EU und auch in den USA unter Joe Biden spielen Klimawandel und CO2-Reduktion eine immer größere Rolle und China ist unterdessen gemessen an den Emissionen heute der
Klimasünder Nummer eins weltweit und für nahezu ein Drittel der globalen CO2-Emissionen verantwortlich. Gilt der Wunsch der Volksrepublik nach Unabhängigkeit vom Westen auch für die Klimafrage? Und wie weit hängt China in Bezug auf ESG-Kriterien dem Westen aus Ihrer Sicht wirklich hinterher?
Frank Sieren: Na ja, also die Klimafrage kann man ja nicht alleine lösen, das liegt in der Natur der Sache. Insofern ist da die Frage der Unabhängigkeit nicht gegeben, sondern da ist es genau umgekehrt. Und das hat sich ja auch in der Regierungszeit von Donald Trump sehr gut herauskristallisiert. Da ist China sehr, sehr dran interessiert, mit der Welt zusammenzuarbeiten. Der chinesische Präsident Xi Jinping hat die Klimaneutralität bis 2060 verkündet. Das war jetzt nicht nur an die internationale Gemeinschaft gerichtet, sondern damit hat er auch die Zügel innerhalb des Landes angezogen.
Das hat man sehr gut gemerkt jetzt im Frühjahr, als der Fünfjahresplan verabschiedet wurde, dass jetzt an allen Ecken und Enden darum gekämpft wird, irgendwie dieses Ziel erreichen zu können und den Rückstand, den China hat, möglichst schnell aufzuholen. Denn China ist ein Land, das noch 70 Prozent seiner Energie über Kohle generiert, ist aber eben gleichzeitig auch ein Land, das in der Elektroauto-Industrie führend ist. Wobei man da wieder die Situation hat, dass auch der Strom für die Batterie natürlich irgendwo herkommen muss und der jetzt auch überwiegend noch aus Kohle kommt. Doch gleichzeitig ist China eben auch Weltmarktführer, was Solarenergie betrifft, was Windenergie betrifft, was Wasserenergie betrifft und versucht dort, technologisch so schnell wie möglich voranzukommen. Aber eben auch bei Themen z. B., die jetzt noch sehr starke Zukunftsmusik sind.
Der Hyperloop, also Transrapid 2.0 in gewisser Hinsicht, das ist ein Transrapid, der in einer Röhre fährt, die in einem Vakuum ist, und da kann man im Grunde dann 800, 900, 1000 Kilometer pro Stunde fahren mit dem Zug. Und im jetzigen Fünfjahresplan bzw. ich muss sagen, nein, es ist der Zehnjahresplan, dort ist es schon drin: dass man 2030 von Peking in den Süden nach Hongkong mit 800 Stundenkilometern im Durchschnitt fahren soll. Und die Ingenieure müssen das jetzt irgendwie hinbekommen. Die sind jetzt unter Druck und haben sich in ihrem Druck – und das ist ganz spannend – dann wiederum an die Europäer gewandt. Also an die alten Transrapid-Leute, aber auch an die neue Technologie von Hyperloop in Holland, wo ja Frank Thelen z. B. beteiligt ist, und wollen mit denen zusammenarbeiten, weil sie das Gefühl haben, sie kriegen das alleine nicht schnell genug hin. Und es gibt sogar die Überlegung, die alte Transrapid-Strecke als Hyperloop-Strecke zu reaktivieren.
Und daran sieht man bei diesem Klimathema, da geht‘s darum, die Flugzeuge vom Himmel zu holen und möglichst mehr auf Schiene zu machen, weil das natürlich viel weniger CO2 produziert. Aber daran sieht man schon, dass diese Anstrengungen nur zusammen hinzubekommen sind unter diesem sehr großen Zeitdruck. Und ich glaube, das haben die Chinesen inzwischen verstanden, dass sie zusammenarbeiten müssen; vielleicht sogar mehr verstanden als die Amerikaner.
Carsten Roemheld: Wo liegen denn aus Ihrer Sicht, Sie haben schon paar Punkte erwähnt, die größten aktuellen Herausforderungen für China beim Thema Nachhaltigkeit? Wer kann die lösen?
Frank Sieren: Na ja, die großen Herausforderungen liegen in so vielen Bereichen, dass ich die eigentlich gar nicht aufzählen kann – wo es darum geht, jetzt nachzubessern, effizienter zu werden und die Umwelt zu schonen. Aber wenn ich ein Wort nennen müsste, das unter Umständen nicht nur das Nadelöhr ist, um die Klimaziele zu erreichen, sondern auch das Nadelöhr sein könnte für den Aufstieg Chinas generell als die neue Weltwirtschaftsmacht, dann würde ich eben mit einem Wort antworten und das Wort heißt: Wasser. Das heißt, wenn den Chinesen das Wasser ausgeht, dann ist das nicht mal eben ersetzbar. Man kann sehr lange, ich habe das selbst erlebt, in sehr schlechter Luft sehr gut leben – sehr gut nicht, aber man kann leben.
Wenn man kein sauberes Wasser mehr hat, dann kommt man sehr, sehr schnell in Schwierigkeiten, und zwar in der Industrie gleichermaßen wie in der Landwirtschaft. Und es ist dann nicht möglich, diese Mengen Wasser, die man braucht, über Entsalzungsanlagen oder über Tankschiffe mal eben heranzuschiffen, heranzufahren oder herzustellen. Und das Problem ist, dass niemand weiß, wann und wo da der Tipping-Point ist. Weil das sozusagen sehr schlecht zu berechnen ist, wann das Wasser kippt, welche Seen, welche Flüsse in einem Zustand sind, dass man sie nur noch sehr schlecht wieder in die Trinkwasserqualität zurückführen kann. Und das bedeutet, dass die Chinesen jetzt angefangen haben, das Wasser aus dem dritten Pol, aus dem Himalaya – da fließen mehrere große Flüsse weg nach Südostasien, z. B. der Mekong –, dass sie dieses Wasser umleiten, bevor es überhaupt die südostasiatischen Länder Bangladesch, Thailand, etc. erreicht.
Und da gibt es auch schon Streit drüber, ich halte ein Konfliktszenario um Wasser für sehr, sehr viel wahrscheinlicher als ein Konflikt um Taiwan oder um das Südchinesische Meer, weil da im Grunde beide Seiten doch kein Interesse daran haben, an dieser Stelle sozusagen zu zündeln. Aber bei dem Wasser muss man sehr genau hingucken. Und dann gibt's natürlich, das würde jetzt zu weit führen, noch viele andere Bereiche, die für China sehr schwierig sind.
Carsten Roemheld: Sie haben gerade das Wasserthema angesprochen: Das wirtschaftliche Wachstum setzt ja wahnsinnig auf mehr Wasserverbrauch auf Dauer. Das ist auf jeden Fall für die Chinesen unheimlich wichtig, Zugang zu Wasserreserven zu haben. Und Sie sagten schon, das Konfliktpotenzial hier zu erwähnen ist sicherlich sehr, sehr interessant, weil es eben noch nicht so im täglichen Sprachgebrauch ist. Es gab sogar Berichte, dass China die Schuld trage an der Dürre in Asien, weil sie das ganze Wasser sozusagen für sich abzapfen. Können Sie das bestätigen? Ist das tatsächlich einer der Vorwürfe an China?
Frank Sieren: Also die Dürre jetzt in ganz Asien ist vielleicht ein bisschen übertrieben, aber es gab in Thailand Dürre-Jahre, bei denen natürlich klimatische Veränderungen eine Rolle gespielt haben, aber eben dann auch die Tatsache, dass die Flüsse weniger Wasser führen, weil sie nämlich in den Dürre-Jahren sowieso weniger Wasser führen und dann natürlich die Chinesen ein größeres Interesse noch haben, das Wasser zu behalten. Also, wenn man da mehrere Faktoren zusammenrechnet oder zusammenfasst, dann kann man das schon so bestätigen.
Carsten Roemheld: Das ist sehr interessant, das müssen wir auf jeden Fall im Auge behalten. Lassen Sie uns kurz zum Thema Verkehr kommen. China gilt als der größte Absatzmarkt für Autos, eben auch für E-Autos. Wie sehr hat sich schon die Elektromobilität im Straßenbild durchgesetzt?
Frank Sieren: Ja, sie ist eigentlich aus dem Straßenbild – ich muss jetzt mal sagen, für die großen Städte – nicht mehr wegzudenken. Also da ist ein Tesla allgegenwärtig. Das ist, oder das muss man sagen, war bisher das meistverkaufte Auto oder ist noch immer das meistverkaufte richtige Auto. Weil es ist jetzt von einem neuen, ja, ich sage, chinesischen Volkswagen überholt worden, ein Joint Venture aus GM und SAIC, einem Shanghaier Hersteller. Die haben ein Auto, einen 4-Sitzer, der nur 20 Zentimeter länger ist als der Smart, für 4500 Dollar gebaut und das ist im Moment mit großem Abstand das meistverkaufte Auto in China. Das war eigentlich geplant für mittelalte Bauern auf dem Land, wird jetzt gekauft von jungen städtischen Frauen und wird gerade total hip und wird ganz bunt angemalt.
So richtig schön ist es nicht für einen deutschen Autopuristen. Aber es funktioniert und zeigt, wie dieses Thema einschlägt. Und dazwischen sind natürlich eine ganze Reihe chinesischer Hersteller, die übrigens jetzt auch auf den europäischen Markt kommen, deren Autos im mittleren Segment, aber auch schon im oberen Segment durchaus wettbewerbsfähig sind. Einfach deswegen, weil gar kein Motor mehr gebraucht wird, sondern das Auto im Grunde nur noch aus drei Bereichen besteht: nämlich aus der Batterie, aus der Vernetzung und aus dem Design. Und Batterie und Vernetzung sind zwei Themen, da sind die Chinesen inzwischen weltführend. Also, wenn es darum geht, die Autos über 5G miteinander zu vernetzen, aber auch die Vernetzung über die autonomen Systeme, autonomen Fahrsysteme, die im Auto selber sind, da spielen die Chinesen inzwischen eine zentrale Rolle und werden auch noch eine größere Rolle spielen. Und das wird es einfach deswegen, weil der Handlungsdruck so groß ist; die Städte sind verstopft. Man kann natürlich, wenn man den Verkehr über 5G steuert – wenn es sozusagen ein Computer-Gehirn der künstlichen Intelligenz gibt, das an jeder Stelle weiß, welches Auto sich gerade wo befindet und wo es hinwill, und unter Umständen auch schon im Voraus weiß, was diese Autos so machen, weil es das nämlich über die Zeit gelernt hat –, dann ist es natürlich möglich, den Verkehr viel, viel effizienter zu steuern und die Städte damit lebenswerter zu machen.
Und unter diesem Druck steht China viel stärker als der Westen. Und deswegen kommen die Innovationen aus dieser Richtung und treffen jetzt in diesem Jahr in Form von preisgünstigen, aber sehr guten Elektroautos, chinesischen Elektroautos, in Europa ein. Ich will da ein Beispiel nennen: Lynk & Co. Da ist die Muttergesellschaft Geely, denen gehört auch Volvo und die haben auf die Plattform von Volvo einen neuen Hut, einen Design-Hut draufgesetzt, einen im Grunde jungen, modernen Volvo gebaut, den man jetzt auch nicht mehr kaufen muss, sondern den man tutto completti für 500 Euro im Monat mieten kann und wieder untervermieten kann, wenn man ihn nicht braucht. Also da kommen ganz, ganz neue Konzepte aus Asien – mit voller Wucht, weil natürlich die Chinesen in ihrem Land Volumina herstellen, die es möglich machen, die Autos in Europa dann relativ preisgünstig anzubieten. Und da werden die nächsten Jahre eine große Herausforderung für die deutsche Automobilindustrie und da wird es dramatische Veränderungen geben. Und ich bin sehr gespannt, wie das ausgeht.
Carsten Roemheld: Ich wollte gerade fragen: Haben die Chinesen alles, um auch hier in den westlichen Märkten erfolgreich zu sein? Oder braucht man hier weitere Kooperation mit hiesigen Herstellern, um sozusagen das Tüpfelchen auf dem I zu haben?
Frank Sieren: Nein, am Ende ist es nur noch Marketing und Brand-Building. Das ist natürlich ein Problem. Der letzte große Spieler, der aus Asien das erfolgreich hingekriegt hat, war Kia. Daran sieht man, das geht. Daewoo war davor, die Japaner und einige andere kamen früher. Aber im Grunde hat es selbst Toyota nie ganz in die Spitze geschafft, auch in das Premiumsegment. Daran sieht man, welche Stärke eine Marke noch hat. Das heißt, die chinesischen Hersteller werden sich vor allem über den Preis in den Markt schieben und in dem Maße, indem ein Auto ein Gadget wird und nicht mehr so das klassische Statussymbol von Vati früher; sondern ein Produkt, wo man eben nicht sein ganzes Leben Benz fährt oder BMW oder Audi, sondern eben: Man wechselt die Marken, es ist mehr Gadget, es ist mehr Lifestyle, das Auto gehört einem gar nicht mehr. Man braucht nicht mehr Autos, die bei 220 noch gut durch die Kurve kommen unter Umständen.
So, das heißt, das Auto wird eher ein Entertainment-Raum sein, ein Wohnzimmer, wo man unter Umständen dann nach der Arbeit in sein Auto steigt, gar nicht mehr selber nach Hause fährt, sondern in sein Wohnzimmer steigt. Und da kommen dann die Chinesen ins Spiel und da wird es diese Veränderungen geben. Das wird man im Premiumsegment, also in der S-Klasse oder bei ‘nem A8 oder beim 7er-BMW, da wird das sicherlich noch lange dauern. Aber bei den normalen Autos wird es dramatische Veränderungen geben; bis hin dazu, dass man gar kein eigenes Auto mehr hat, sondern da irgendwelche Eier herumfahren, in die man sich dann reinsetzt und die man buchen kann und die dann eben, wenn sie frei sind, selber in den Keller fahren, um sich aufzuladen.
Carsten Roemheld: Vielleicht komme ich mal zu einer anderen Frage, die mehr über die Elektroautos hinausgeht. Wie groß ist denn die Nachfrage der Konsumenten überhaupt nach nachhaltigen Produkten? Also Elektroautos haben wir jetzt schon besprochen, die verkaufen sich gut. Effizientere Klimaanlagen und andere Produkte: Was ist da das Verständnis der Bevölkerung oder wie ist die Nachfrage der Konsumenten nach nachhaltigen Produkten?
Frank Sieren: Das ist sehr, sehr spannend. Als ich nach China kam, also Anfang/Mitte der 90er Jahre, da gab es in China praktisch gar kein Umweltbewusstsein. Da war nur Wachstum, Wachstum, Wachstum. Jeder wollte Geld verdienen und der Dreck wurde hinter ein Haus in den See gekippt und damit war das Thema erledigt.
Das Auto wurde auch noch hineingeschoben, das alte Auto, und guckte dann noch ein bisschen raus. Die Luft wurde unerträglich. Man konnte dann vor 10, 15 Jahren wirklich an bestimmten Tagen nur mit Maske vor die Tür gehen und musste riesige Filteranlagen haben. Die Essensqualität war auch sehr schlecht. Es gab immer wieder auch Milchpulver-Skandale. Und plötzlich, in dem Maße, in dem eine Mittelschicht entstanden ist, hat sich dann auch ein Umweltbewusstsein entwickelt. Und dieses Umweltbewusstsein wird immer stärker. Spielt eine immer stärkere Rolle und zwingt natürlich auch die Hersteller, sich darauf einzustellen. Das ist klar. Dazu muss man allerdings sagen: Ich glaube, die Batterie-Autos wären jetzt von alleine nicht gekommen. Das hat der Staat angeschoben, im wahrsten Sinne des Wortes, indem er dann Subventionen gegeben hat bzw. Nummernschilder. Also Nummernschilder, das muss man kurz erklären, sind sehr knapp in den Städten, da die Zahl der Autos begrenzt war bzw. begrenzt ist und wenn man dann ein Elektroauto gekauft hat, ist man eben viel leichter an ein Nummernschild gekommen. Und das hat man dann eben gemacht, um den Markt anzukurbeln. Aber diese beiden Bewegungen – also das Umweltbewusstsein der Menschen wächst und der Staat versucht, über staatliche Anreize die Entwicklungen anzuschieben – das sind wirklich zwei eigentlich Entwicklungen, die einen positiv stimmen.
Carsten Roemheld: Und welches Verständnis hat eigentlich die Bevölkerung vom Begriff Nachhaltigkeit? Spielt das eine große Rolle? Gibt es da eine unterschiedliche Sichtweise oder Herangehensweise vom westlichen ‚Role Model‘ sozusagen?
Frank Sieren: Es ist, glaube ich, alltagspraktischer als im Westen. Also, man will einfach saubere Luft haben und sauberes Wasser, um im Grunde sorgloser konsumieren zu können. Es gibt keine Umweltbewegung, die jetzt wie in Deutschland oder im Westen vielleicht aus der Studentenbewegung kommt, sondern es ist eher so ein Bedürfnis der Lebensqualität von Leuten, die in anderen Bereichen jetzt vielleicht auch schon einiges erreicht haben. Es ist auch viel weniger politisch.
Carsten Roemheld: Ja, also Eigennutz, wenn man so will auch, nicht?!
Frank Sieren: Ja, ja. Also viel, viel eigennütziger, viel, viel weniger ideologisch auch erstaunlicherweise.
Carsten Roemheld: Wie hoch ist denn der Druck auf das Land von außen, sein Energieproblem zu lösen? Also wenn man auf die Anstrengung schaut in Europa oder die USA, schaut man da mit Bewunderung hin oder eher mit Erstaunen?
Frank Sieren: Na ja, man hat erst mal mit Sorge hingeschaut und die Sorge bleibt auch noch, weil – daran gibt's nichts zu rütteln – China ist der größte Umweltverschmutzer der Welt. Und das ist die eine Seite, das wird sich auch erst mal nicht so schnell ändern. Die andere Seite ist, dass China sicherlich auch das Land ist, das die größten Anstrengungen unternimmt. Und das ist eben nicht einfach bei so vielen Menschen, 1,41 Milliarden Menschen, um aus dieser Klimafalle herauszukommen, indem eben Solarenergie gepusht wird, indem die Windenergie gepusht wird, die Wasserenergie. Atomkraft ist übrigens auch eine grüne Energie in China; ganz anders als im Westen, besonders in Deutschland.
Die haben, nachdem Merkel die Reißleine gezogen hat, die Kugelhaufen-Technologie der Deutschen übernommen und weiterentwickelt und bauen jetzt gerade 30, 40 Atomkraftwerke, weil sie es als Brückentechnologie sehen und sagen: Es ist immer noch besser, wir haben Atomkraft als Kohle.
Carsten Roemheld: Aber sie bauen natürlich auch trotzdem noch mit hohem Tempo Kohlekraftwerke. Inwieweit wird das jetzt gesehen? Oder sind das jetzt modernste Kohlekraftwerke, die jetzt gewisse Umweltstandards schon berücksichtigen? Wie sehen Sie diese Entwicklung?
Frank Sieren: Das versucht man natürlich zu bremsen, das ist klar. Also man versucht es natürlich runterzufahren. Aber es geht eben nicht, damit sozusagen aufzuhören, weil das sich nicht von heute auf morgen auf null fahren lässt. Das ist ein Riesenproblem und es sind eben noch 70 Prozent. Und die müssen jetzt irgendwie damit leben. Das heißt, die Kohlekraftwerke werden moderner, gehören auch zu den modernsten der Welt inzwischen. Gleichzeitig versucht man, es runterzufahren. Aber 70 Prozent auf null kriegt man in so einem Land mal eben nicht in drei Jahren hin. Das geht leider nicht.
Carsten Roemheld: Welche Rolle spielt denn die Kernfusion dabei? Man ist ja, glaube ich, dabei, bei einem Projekt, das ITER-Projekt, Kernfusion weiter zu erforschen. Kann das vielleicht auch eine
Lösungsmöglichkeit der Zukunft darstellen?
Frank Sieren: Also wir wissen ja, dass das noch ein bisschen dauert. Die Europäer haben ja ein gemeinsames Projekt. Die Chinesen haben auch ein eigenes; haben relativ schnell aufgeholt und hatten den Vorteil, dass sie nicht so viel koordinieren mussten wie die Europäer. Aber bis das Thema serienreif und alltagstauglich ist, wird es noch eine Weile dauern. Und insofern macht es keinen Sinn, sich jetzt sofort darauf zu verlassen. Die nächste Stufe wird sicherlich erst mal sein, dass man versucht, den Schwerlastverkehr auf Wasserstoff umzustellen; also da ist die Entscheidung in China gefallen: Batterien für Autos, Wasserstoff, sehr wahrscheinlich für Lastwagen. Und da gehen auch jetzt die ersten Feldversuche schon los. Und auch in dem Bereich ist man relativ weit. Wieder aus dem einfachen Grund, weil man es sich gar nicht leisten kann, nicht mit vorne dabei zu sein.
Es hängt die Zukunftsfähigkeit des Landes daran, es hängt die politische Stabilität daran. Es ist zwar eine Diktatur, ein autoritäres System, aber der Unmut der Bevölkerung kann die Dinge jederzeit kippen und deswegen verwendet die Partei und die Regierung sehr viel Energie darauf, die Stimmungen der Bevölkerung zu erfassen und relativ früh darauf zu reagieren. Und die Umweltprobleme sind sicherlich ein entscheidender Faktor, bei dem dieser Unmut entstehen könnte. Und dadurch entsteht eben dieser Druck; und dieser Druck führt dazu, wenn man das koordiniert hinkriegt, und das ist ja eine Stärke der Chinesen mit ihrer alten Verwaltung, dass dann relativ schnell Ergebnisse kommen, die man dann wiederum umsetzen kann.
Carsten Roemheld: Sie haben gerade ein sehr wichtiges Thema angesprochen, weil es auch bei unseren Investoren immer mehr eine Rolle spielt: nämlich Wasserstoff. China produziert ja überwiegend konventionell auch über große Mengen grauen Wasserstoff. Wie wahrscheinlich ist es denn, dass Sie da eher auf die grüne Technologie umschwenken? Wie möchte China in den kommenden Jahren den Einsatz von Wasserstoff weiter fördern?
Frank Sieren: Hier muss ich wieder die gleiche Antwort geben: Sie möchten, aber es dauert eben in so ‘nem Land. Das ist eben leider so. Und jetzt hat man die absurde Situation, dass in Shenzhen im Süden Chinas 16.000 Elektrobusse fahren und 21.000 Elektrotaxis, und die fahren eben zu einem großen Teil auch mit Strom, der dann wiederum aus Kohle hergestellt ist.
Das ist tatsächlich eine vorübergehende absurde Situation – und dann wieder nicht ganz so absurd, weil natürlich sich das Mikroklima in der Stadt … also, die Geräuschbelastung und die CO2-Belastung, sich dramatisch verbessert. Aber irgendwo steht dann doch wieder ein Kohlekraftwerk, gibt es Kohleminen; und das dauert in so einem Land und da muss man auch Geduld haben. Aber ich glaube, dass der Wille, der politische Wille, das zu ändern, da ist; dass man auch verstanden hat, was für eine Bedrohungslage da entstanden ist.
Carsten Roemheld: Lassen Sie uns mal auf das Thema ‚nachhaltige Arbeitswelt und Menschenrechte kommen. Wie sieht denn die chinesische Arbeitskultur eigentlich aus? Das können wir uns wahrscheinlich, die wir nicht in dem Land leben, schwer vorstellen. Welche Rechte genießen die Arbeitnehmer? Welchen Schutz erfahren die Arbeitnehmer? Wie verändern sich gerade die Arbeitsbedingungen? Vielleicht können sie da ein bisschen aus dem Alltag erzählen.
Frank Sieren: Ja, also die Rechte der Arbeiter in den Fabriken, die sind eigentlich ziemlich weit fortgeschritten. Also das hat auch damit zu tun, dass sich heute kein Textilunternehmen, kein Handy-, kein Smartphone-Hersteller mehr erlauben kann, Produkte unter Bedingungen herstellen zu lassen, die überhaupt nicht unseren Standards entsprechen. Das heißt, da ist sehr, sehr viel passiert. Auch im Lohnbereich ist sehr viel passiert. Da hat man in Südchina sogar staatlicherseits zwangsweise Lohnsteigerungen den Unternehmen verordnet. 15 Prozent zum Teil im Jahr, weil man die Textil-, die einfache Produktion aus Südchina raushaben wollte. Die ist jetzt in den Westen gewandert und da werden jetzt die einfacheren Produkte hergestellt.
Also das ist, ich sage mal, natürlich nicht auf dem Niveau wie bei Daimler-Benz in Sindelfingen, das ist klar. Aber wenn man sieht, in den letzten drei Jahrzehnten, welchen Weg chinesische Arbeiter da gegangen sind, dann muss man schon sagen, das ist schon ein sehr, sehr großer Fortschritt. Es gibt immer wieder Ausnahmen, aber z. B. Kinderarbeit ist eigentlich fast verschwunden, komplett verschwunden in China. In anderen asiatischen Ländern ist das noch ein großes Problem. Insofern an der Stelle gibt es jetzt keine so großen Probleme mehr oder man ist zumindest auf dem richtigen Weg. Was es immer noch gibt, da bei Staatsbetrieben, dass die mal nicht zahlen, dass es da Demonstrationen gibt, weil die Leute ihr Geld nicht bekommen; das passiert immer wieder.
Bei den modernen Arbeitern, den Techies, den Researchern und Developern, da ist es jetzt sogar so, dass der Staat auch eingreifen musste in Shenzhen, weil die so viel arbeiten, dass viele von ihnen krank geworden sind. Das ist jetzt nicht so sehr das klassische Verhältnis ‚Arbeitnehmer – Arbeitgeber‘, sondern das ist einfach diese Stimmung und dieser Wettbewerb, der dazu führt, dass sie heute praktisch in einem geradezu rauschhaften Zustand sich in diesen Innovationszyklen bewegen und alles vergessen; vergessen, zu essen und zu schlafen, in Urlaub zu fahren. Und da hat der Staat jetzt zum ersten Mal eingegriffen und der verpflichtet jetzt die Unternehmen, dafür zu sorgen, dass ihre Techies ausreichend ihren Urlaub auch nehmen und nicht freiwillig darauf – freiwillig in Anführungszeichen auch – verzichten, dass sie sozusagen nur eine bestimmte Anzahl von Stunden arbeiten. Auch in dem Bereich wird das jetzt sozusagen gesetzlich gefasst. Wobei, wenn wir von Urlaub reden, sind das eher Zustände wie in den USA. Also da kommt man dann irgendwie mit 10 Tagen, fängt man an und dann kommt vielleicht ein Tag pro Arbeitsjahr dazu, also das sind nicht die Standards, die wir in Europa und vor allem in Deutschland haben, das muss man auch sagen.
Carsten Roemheld: Es klingt ja fast wie, ja, ‘ne amerikanische Investmentbank, dass Leute nicht schlafen, keinen Urlaub nehmen und so weiter.
Frank Sieren: Ja, das ist auch die Stimmung, das ist auch sozusagen die Stimmung an der vordersten Innovationsfront; und auch die Euphorie, die entsteht. Im Grunde ist der ‚American Way of Life‘ eben jetzt auch in China angekommen, auch diese Aufstiegsmöglichkeiten. Das ist ja auch eine Motivation, zu sagen: Wenn ich jetzt durchhalte, wenn ich es jetzt hier schaffe – uns ist das ja ein bisschen fremder als den Amerikanern –, dann kann ich ganz oben rauskommen. China ist ja voll von diesen Geschichten, von Leuten, von Bauernsöhnen, die dann im Grunde ein großes Technologieunternehmen anführen. Es sind natürlich auch viele Leute, die stecken bleiben, zusammengefasst kann man sagen, da gibt es natürlich noch viele Probleme, aber die Entwicklungsrichtung und das, was sie bisher geschafft haben, sind schon beeindruckend.
Carsten Roemheld: Also es ist inzwischen nur noch ein Vorurteil, dass die Arbeitswelt dort eben als sehr hart und nicht sehr arbeitnehmerfreundlich gilt; zumindest, wenn man den Weg betrachtet, das muss man sagen. Also der Wettbewerbsvorteil ist vielleicht dann auch nicht mehr so ausgeprägt, wie er vielleicht vorher mal war, gegenüber der westlichen Welt!?
Frank Sieren: Er ist nicht mehr so ausgeprägt, aber er ist natürlich noch da. Es gibt inzwischen eine Knappheit an Wanderarbeitern und das führt natürlich dazu, dass man dann als Unternehmen gezwungen ist, sich um seine Arbeiter zu kümmern und die entsprechend zu versorgen, dass sie bleiben. Das hat sich in den letzten Jahren gedreht. Jetzt noch mal, um es ganz klar und deutlich zu sagen: Das kann man natürlich immer von zwei Seiten sehen. Man kann natürlich von dem ‚sophisticated Niveau‘ Deutschlands auf China gucken oder man kann gucken, was China in den letzten 30, 40 Jahren geschafft hat. Und natürlich ist da noch viel Luft im Vergleich zu Deutschland, das ist klar. Aber im Vergleich zu vor 30 Jahren und auch im Vergleich zu den Nachbarländern, Vietnam, vor allem Bangladesch, Indien, über Indien müssen wir gar nicht reden, ist da schon eine ganze Menge passiert, sodass China auch innerhalb Asiens ganz gut dasteht, was die Arbeitnehmer- und Arbeiterrechte betrifft.
Carsten Roemheld: Es wird ja immer viel über Menschenrechte gesprochen und China ignoriert ja nach Einschätzung vieler westlicher Beobachter zunehmend auch universelle Menschenrechte. Besorgt Sie das? Was können Sie dazu sagen? Wie kann der Westen damit umgehen?
Frank Sieren: Ja, natürlich besorgt mich das, weil es ja meinen Wertevorstellungen nicht entspricht. Die Bürgerbewegung in Hongkong einzusperren, die Pressefreiheit dort einzuschränken oder in Xinjiang eben Minderheiten in Lager zu sperren, das entspricht nicht unseren Vorstellungen. Das entspricht nicht den universellen Menschenrechten, die wir uns im Westen überlegt haben. Da muss man ja auch sagen, es handelt sich nicht um Menschenrechte, über die sich die ganze Welt geeinigt hat. Diesen Prozess haben wir noch vor uns, diesen Aushandlungsprozess. Aber es sind Werte, die uns lieb und teuer sind und von denen wir nicht wollen, dass sie mit Füßen getreten werden. In China ist der Blick darauf anders. Da ist sozusagen die Angst vor Terrorismus und vor Unruhen, vor politisch motivierten Religionen, die ist eben größer und es wird härter durchgegriffen. Aber ich glaube, wir müssen ganz klar und deutlich sagen, dass wir das anders sehen. Was aber, glaube ich, nicht funktioniert, ist, das über den Weg der Sanktionen zu versuchen, was jetzt ja passiert ist im Frühjahr. Dazu ist China schon zu groß und zu eigenständig und dazu überschneiden sich die Interessen in der Bevölkerung und in der Regierung zu stark. Das ist eben auch etwas, was wir unterschätzen.
Das heißt, wir können nicht mehr drohen, wir können nicht mehr zwingen, wie wir das früher konnten, sondern wir müssen überzeugen. Das ist leider sehr viel aufwendiger. Wir müssen den Dialog suchen und überzeugen, dass die Politik, die die Chinesen in Hongkong machen und in Xinjiang machen, um nur zwei Beispiele zu nennen. Es ist ja auch die Pressefreiheit stark eingeschränkt im ganzen Land, das ist ja ein anderes Thema. Und so kann man auch noch viele andere Themen nennen. Grundsätzlich steht die Gemeinschaft stärker im Mittelpunkt im Vergleich zum Individuum; bei uns ist die Balance mehr in Richtung Individuum. Wir müssen eben im Dialog die Regierung oder die Akteure davon überzeugen, dass unser Weg der langfristig bessere ist. Und ich bin auch überzeugt, dass man das kann. Nur ich glaube, wenn wir jetzt in dieser konfrontativen Situationen verharren, in der sozusagen es unter Umständen eine Sanktionsspirale gibt – wenn der eine sagt, jetzt noch mehr, dann sagt der andere, dann kann ich auch noch mehr drauflegen –, dass wir dann in eine Situation kommen, wo ein Dialog nicht möglich ist.
Und uns muss klar sein, wir brauchen die Chinesen, wir brauchen den chinesischen Markt; wenn wir so leben wollen, wie wir leben wollen. Und die Chinesen brauchen auch uns. Und das ist, glaube ich, ein entscheidendes Ergebnis, auch des Corona-Jahres. Dass diese Decoupling-Fantasien, die sich mancher wünscht, dass die in der Realität, im Alltag, so nicht umsetzbar sind.
Carsten Roemheld: Da fällt mir noch eine Frage ein, ein bisschen unabhängiger davon. Und zwar zum Thema Datenschutz. Die Chinesen haben ja auch immer relativ große Vorteile davon, dass sie den Datenschutz eben nicht so eng fassen, wie das hier in Europa der Fall ist. Ist das sozusagen etwas, was auf freiwilliger Basis so erfolgt? Die Leute geben gerne ihre Daten, weil sie wissen, dass sie dafür einen gewissen Convenience-Faktor bekommen? Oder wie ist das Thema Datenschutz generell zu sehen in China?
Frank Sieren: Also erst einmal muss man sagen, das ist ja auch in Europa sehr heterogen. Das ist, glaube ich, eine ganz wichtige Einschätzung, die wir sehen müssen. Unter den zehn Städten mit den meisten Kameras sind neun chinesische und eine europäische, nämlich London. Und das hat eben mit der Geschichte der jeweiligen Nationen zu tun. In London hat man Angst vor Terrorismus; da ist die Angst vor dem Terrorismus stärker als die Angst vor dem Datenmissbrauch. In Deutschland hatte man das Thema nicht so. In Deutschland hatte man zwei Regime, das Dritte Reich und die DDR, in denen Daten missbraucht wurden. Da neigt es sich mehr in Richtung Datenschutz.
Die Chinesen sind eher in Richtung der angelsächsischen Seite orientiert im Moment. Aber ich glaube, auch da wird ein Datenschutz-Bewusstsein wachsen, so wie das Umweltschutz-Bewusstsein gewachsen ist. Und das sieht man daran, dass die chinesische Regierung jetzt gerade gezwungen war, ein Datenschutzgesetz überhaupt mal einzuführen. Und die haben erstaunlicherweise in weiten Teilen das europäische Datenschutzgesetz übernommen. Sie werden es natürlich nicht so umsetzen eins zu eins, sondern es ist erst mal gedacht, um Unternehmen zu kontrollieren, und der Staat hat sich fein rausgenommen. Aber man sieht, es gibt einen bestimmten Entwicklungsdruck in die Richtung. Und was wir sozusagen bei den Technologien machen müssen, die da aus China kommen, wir müssen überlegen, wie wir sie mit unserem Wertesystem kombinieren können. Ich glaube, wir sind nicht gut beraten, wenn wir neue Technologien wie 5G komplett ablehnen und glauben, wir könnten sie damit verhindern. Das wird nicht so sein. Gute, sinnvolle Technologien setzen sich durch.
Es hat in England in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts 30 Jahre ein Gesetz gegeben, da musste ein Mensch mit einer roten Flagge vor einem Auto herlaufen, sozusagen. Das hat natürlich der Kutscher-Industrie sehr gut gefallen, aber das hat am Ende das Auto nicht verhindert. Und so ist das auch mit diesen Technologien. Wir müssen sagen: Ja, 5G ist sinnvoll, aber es gibt Datenschutz-Risiken, die wir nicht wollen, und zwar unter keinen Umständen. Also müssen wir Gesetze verabschieden, am besten auf der europäischen Ebene, die dazu führen, dass die Risiken minimiert werden und die Stärken ausgebaut werden können. Das ist, glaube ich, der richtige Umgang mit Technologie aus China und im Übrigen auch mit Technologie aus Amerika.
Da haben wir es ja auch in der ersten Runde schon verpasst mit Google, Facebook und Konsorten. Die haben wir einfach über uns drüberrollen lassen und uns dann gewundert, was sie mit unseren Daten machen. Das darf in Zukunft nicht mehr passieren. Da müssen wir Europäer uns zusammensetzen und sagen: Okay, das wollen wir; das wollen wir nicht; und wer bei uns diese Technologien verkaufen, anwenden möchte, muss sich bitte schön an unsere Spielregeln halten. Was wir nicht hinkriegen werden: Die Chinesen zu zwingen, sich an unsere Datenschutz-Vorstellungen in China zu halten. Das schaffen wir nicht mehr. Aber wir können es bei uns durchsetzen. Und ich glaube, die Chance, dass wir da mit gutem Beispiel vorangehen und dass die Chinesen uns sehen, ah, das ist gar nicht so schlecht, was die machen, die sind relativ groß.
Carsten Roemheld: Sehr spannend! Herr Sieren, ich würde gern zum Abschluss noch zwei persönliche Fragen an Sie richten. Sie sind ja Journalist vor Ort in China. Wie erleben Sie, wie frei bewegen Sie sich in China? Sind Sie irgendwelchen Einschränkungen ausgesetzt? Wie erleben Sie denn das tägliche Leben sozusagen als Journalist?
Frank Sieren: Also ich bin ein bisschen ein Sonderfall als Journalist, weil ich so lange da bin und natürlich sehr, sehr gut vernetzt bin und mich sehr gut auskenne. Also für die Kollegen, die nur 3, 4 Jahre hier sind, ist das sehr viel schwieriger und da muss man auch sagen, ist der Spielraum geringer geworden. In diesen ganzen Bereichen – Medien, Rechtssystem, also Anwälte, NGOs und so – hat die chinesische Regierung die Zügel härter angezogen. Das hat mit einer fast auch irrationalen Angst vor Chaos, vor Unruhen zu tun. Und das passiert im Grunde parallel und gleichzeitig zu der Entwicklung einer größeren Freiheit im Bereich der Innovation und ist in so einen deutschen Kopf fast nicht reinzukriegen zusammen; diese Widersprüche.
Das heißt, es gibt also Einschränkungen im Arbeitsalltag. Die einfachste Einschränkung ist, dass die meisten westlichen Webseiten gesperrt sind. Die dann einfache Lösung ist, ich habe ein VPN-Programm, das ich davorschalte, und dann komme ich eigentlich in der Regel dann doch wieder an alles ran. Das heißt aber, zwischen diesen Polen, also Überwachung und Innovation, Kontrolle und Innovation, zwischen diesen beiden Polen bewegt sich der chinesische Alltag und neigt sich mal in die eine Richtung und mal in die andere. Und es ist aber immer noch so, dass ich, wenn ich verhaftet werde und mit dem Gesetz in Konflikt gerate, dass dann eben die Chancen auf ein rechtsstaatliches Verfahren, wie wir uns das vorstellen, mit einem Anwalt, den ich mir aussuchen kann, mit Transparenz, dass die Chancen immer noch relativ gering sind. Vor allem, wenn es politisch wird. Im Wirtschaftsrecht wird es immer besser. Aber das sind noch riesige Schwachpunkte der chinesischen Entwicklung, wo man auch eigentlich offener sein könnte, als man heute ist. Also Thema ‚Pressefreiheit‘, Thema ‚Rule of Law‘, Thema ‚NGOs‘ und so weiter und so fort.
Carsten Roemheld: Und genau darüber machen sich ja viele auch Investoren Gedanken, gerade im Bereich Nachhaltigkeit. Kann man in diesem Land investieren, das eben solche Probleme sozusagen aufweist?! Ist es aus Ihrer Sicht ein Konflikt, den man als Investor eingehen sollte? Oder ist es vielleicht sogar notwendig, um eben die Einflussmöglichkeiten zu erhalten und in der Diskussion auch mit Unternehmen und dem Staat dauerhaft Verbesserungen zu erzielen?
Frank Sieren: Also ich habe ja eine ganz einfache Erfahrung gemacht: In der Regel bringt jeder, der investiert, in einen Bond oder in einen ‚fixed asset‘, seine Werte mit. Das geht heute gar nicht mehr anders, wenn sozusagen BASF, um jetzt mal etwas ganz ‚fixed asset‘-mäßiges zu sagen, nämlich einer der größten Verbundstandorte, die Fünf-Milliarden-Investition, wenn BASF ein Werk in China baut, dann ist das natürlich auf dem neuesten Umweltstandard. Und dann gelten natürlich die neuesten Sicherheitsstandards, weil sich so ein börsennotiertes Unternehmen gar nichts mehr anderes leisten kann.
Und deswegen glaube ich und ist meine Erfahrung: Nach China zu gehen und dort zu investieren führt in der Regel dazu, dass sich die Dinge in die Richtung entwickeln, in die wir das wollen. Manchmal gibt es Rück-Bewegungen, manchmal entwickelt es sich nicht so schnell, wie man sich das wünscht. Man darf ja auch nicht unterschätzen, wie groß das Land ist. Aber in der Regel ist es sinnvoll. Und deswegen kann man im Grunde nur jedem Investor raten, sich an diesem Thema zu beteiligen und sich daran zu beteiligen, dass China nachhaltiger wird. Weil das am Ende entscheidend ist für den Stopp des globalen Klimawandels. So schade das auch ist: Was wir an Strom sparen in Deutschland, ist im Vergleich dazu, oder an Klima-Maßnahmen machen, ist im Vergleich zu dem, was in China passiert, verschwindend gering.
Und da geht's eben auch um Themen wie: Wie viel Fleisch können wir essen? Gerade eine riesige
Bewegung, wo ich Investoren nur raten kann, genau hinzugucken, weil da entstehen gerade die großen Venture-Capital-Unternehmen, die in diesem Bereich des fleischlosen Fleisches, ‚Plant Meat‘, investieren. Und da geht's eben anders als in den Vereinigten Staaten nicht mehr nur um ‚Patties‘ in den Hamburgern, sondern da geht es um die ganzen Varianten des chinesischen Essens, die im Übrigen eine alte Tradition haben; hunderte, zum Teil über tausend Jahre alte Traditionen für fleischlose Fleischgerichte, die im Buddhismus entstanden sind und die mit moderner Technologie jetzt zu Massenprodukten verarbeitet werden. Und wenn den Chinesen das gelingt mit ihren 1,41 Milliarden Menschen, dann ist das natürlich ein entscheidender Schritt. Und da dabei zu sein ist unabhängig von diesem politischen System, das wir nicht gut finden, wahrscheinlich in der Regel eine richtige Entscheidung.
Carsten Roemheld: Sie haben es wunderbar gesagt und das ist auch genau der Ansatz, den Fidelity hat. Das Engagement, also die dauerhafte Konversation mit den Unternehmen, um auch Ziele, nachhaltige Ziele zu erreichen, ist, glaube ich, der einzige Weg, wie man tatsächlich zum Ergebnis und zum Ziel kommen kann, statt einfach gar nicht zu investieren und sich nicht drum zu kümmern. Ich glaube, das ist tatsächlich die beste Möglichkeit.
Herr Sieren, wir müssen leider schon zum Abschluss kommen. Sie haben wunderbare, tolle, spannende Einblicke heute geliefert. Ich danke Ihnen sehr, sehr herzlich für dieses sehr spannende und interessante Gespräch und freue mich, wenn wir das in Zukunft vielleicht irgendwann mal fortsetzen können. Vielen Dank für Ihre Zeit.
Frank Sieren: Sonst kann man ja auch mein neues Buch lesen. Da ist das Ganze auf 400 Seiten noch mal ausgebreitet: „Shenzhen – Zukunft Made in China“. Da gehe ich dann noch ein bisschen mehr ins Detail und das ist dann der erste Schritt, sich sozusagen mehr mit chinesischen Innovationen zu beschäftigen, weil da kommen wir auf Dauer nicht drumrum.
Carsten Roemheld: Absolut, sehr spannende Lektüre. Vielen Dank noch mal für den Hinweis. Herr
Sieren, vielen Dank. Bis zum nächsten Mal, bleiben Sie gesund und machen Sie es gut.