Teil 1
Carsten Roemheld: Kriege im Nahen Osten und in der Ukraine, Klimakrise, Energiepreisschock, Inflation, Wirtschaftskrise, Flüchtlingsdramen. Wir leben, so scheint es, in einer Zeit besonders vieler Krisen und Katastrophen. Und das ausgerechnet nach drei zehrenden Jahren, in denen wir eine weltumspannende Pandemie zu bewältigen hatten. Wie kommen wir als Menschen mit dem nicht enden wollenden Strom schlechter Nachrichten klar? Was lässt uns verzweifeln, was gibt Hoffnung? Was macht diese schnelle Abfolge immer neuer Krisen mit unserer Gesellschaft? Und wie blicken wir trotz allem positiv nach vorn und investieren in eine bessere Zukunft? Große Fragen, die uns alle in diesen Tagen ganz besonders beschäftigen.
Auch der Mann, der heute in meinem Podcast zu Gast ist, kennt diese Fragen nur zu gut, denn er sucht beruflich nach Antworten darauf. Die Wochenzeitung „Die Zeit„ nennt ihn den obersten Psychologen des Landes. Er ist Autor mehrerer Bestseller. Und er ist bekannt dafür, die Deutschen regelmäßig auf die Couch zu legen. Stephan Grünewald ist Diplompsychologe und ausgebildeter Therapeut, Mitgründer und Gesellschafter des Kölner Rheingold Instituts für qualitative Markt- und Medienanalysen und der vielleicht bekannteste Gesellschaftsanalytiker des Landes.
Die jüngste Studie zur Lage im Land hat Herr Grünewald mit seinem Institut im Sommer veröffentlicht. Das war sogar noch vor der jüngsten Eskalation in Israel und im Gazastreifen. Und bereits da war die Zustandsbeschreibung dramatisch. Die Deutschen, so der Befund, erleben eine Zeit der Krisenpermanenz. Klimakrise, Kriege, Inflation und vieles mehr treiben Menschen in eine depressive Grundstimmung. Als einzige Quelle für Zuversicht bleibt das private Umfeld, das die Menschen immerhin deutlich positiver erleben als den allgemeinen Zustand der Welt.
Die Folge: Mit Blick auf die Geschehnisse in der Welt registriert Stephan Grünewald eine passiv resignative Haltung. Zugleich genießen viele ihr privates Glück solange es noch geht. Wenn das so ist, was bedeutet das dann für unser gesellschaftliches Engagement, für Lernbereitschaft, Aufstiegslust oder auch so etwas wie die vielbeschworene Willkommenskultur? Und wie gehen Menschen in dieser Lage mit zukunftsgerichteten Aktivitäten um? Betreiben sie noch Vermögensaufbau und Vorsorge? Sparen und investieren sie weiterhin? Und schließlich: Wie kommen wir raus aus der Resignation? Wie stärken wir unsere Resilienz und lernen, uns wieder positiv und produktiv mit unserer eigenen Zukunft zu befassen? Um all das geht es in den kommenden 45 Minuten. Heute ist Dienstag, der 31. Oktober 2023. Mein Name ist Carsten Roemheld. Ich bin Kapitalmarktstratege bei Fidelity. Und ich freue mich sehr auf mein Gespräch mit Stephan Grünewald beim Kapitalmarktpodcast von Fidelity. Herzlich willkommen, Herr Grünewald!
Stephan Grünewald: Vielen Dank für die Ankündigung.
Carsten Roemheld: Starten wir eine Bestandsaufnahme über den psychologischen Zustand unseres Landes, und wir beginnen beim Blick auf die Vielzahl an Krisen, mit denen wir es gerade zu tun haben. Der renommierte Wirtschaftshistoriker Adam Tooze sieht uns in einer Gegenwart der Polykrise. Er spricht von einer besonders schnellen Abfolge von Schocks, die sich gegenseitig potenzieren, weil alles mit allem irgendwie zusammenhängt. Wie ist denn ihre Zustandsbeschreibung der Welt in diesen Tagen? Leben wir tatsächlich in außergewöhnlich krisenhaften Zeiten. Oder ist das übertrieben?
Stephan Grünewald: Nein, wenn man von dem ausgeht, was die Menschen erleben und fühlen, ist das nicht übertrieben. Wir erleben nicht nur eine Häufung von Krisen, sondern diese Krisen werden aus Sicht der Menschen zu ewigen Wiedergängern. Die haben fast eine zombiehafte Qualität, das heißt, die verschwinden nicht mehr. Also, man hatte zum Beispiel, als Corona anbrach, die Hoffnung, durch entschiedene Maßnahmen, durch Schutz und Impfung sind wir in einem oder vielleicht in zwei Jahren damit fertig. Heute merken wir: Das ist ein Thema, das uns das ganze weitere Leben beschäftigen wird. Zu Beginn des Ukraine-Kriegs war die Hoffnung groß, dass China einlenkt oder vermittelt, dass der Krieg zu einem schnellen Ende kommt. Auch da stellt man sich auf einen immerwährenden Stellungskrieg ein. Ähnliches scheint jetzt im Nahost als Dauerkonflikt die Menschen zu betrüben.
Der Klimawandel dagegen ist im Moment immer noch – gerade, wenn aus deutscher Perspektive – eher eine abstrakte Drohkulisse. Viele erleben sich im Moment noch als Krisengewinnler, weil die Winter milder sind und die Sommer verlängert sind und man Heizkosten spart. Aber als Drohkulisse merkt man schon an den zunehmenden Wetterkapriolen, an Überschwemmungen und Naturkatastrophen, dass das ein Problem ist, was uns eher in Zukunft noch stärker beschäftigen wird. Das heißt: Das Grundgefühl ist, wir leben in einer Krisenpermanenz. Aber wir haben überhaupt keine Vorstellung, wie wir diese ganzen Krisenberge abtragen können. Wir erleben ein zugespitztes Machbarkeitsdilemma.
Carsten Roemheld: Sie haben ja gerade die Ängste und Sorgen sehr gut beschrieben. Aber was genau macht den Deutschen besonders Angst? Kann man vielleicht beschreiben, auch wie sich das unterscheidet, auch von anderen Ländern? Gibt es hier Unterschiede?
Stephan Grünewald: Einen großen Unterschied haben Sie schon beschrieben, und der hat uns auch in unserer Studie überrascht: Es gib die riesige Diskrepanz zwischen einer sehr großen privaten Zuversicht und wenig Zuversicht im öffentlichen Raum. 87 Prozent der Menschen blicken eigentlich optimistisch in ihr privates Leben, in ihr privates Glück, während nur 23 Prozent Zuversicht im Hinblick auf Politik und Gesellschaft haben. Diese Kluft hat ein neues Höchstmaß entwickelt. Und was wir festgestellt haben, ist: Die Menschen trennen sehr stark zwischen der Welt da draußen und ihrer privaten Welt, spannen buchstäblich einen Vorhang der Verdrängung und sind geneigt, viele der Krisen, gerade weil sie nicht als wandelbar oder lösbar erscheinen, auszublenden.
Dieser Verdrängungsvorhang ist nach unten hin transparent. Das bedeutet: Die großen globalen Krisen werden weitgehend ausgeblendet, die Kriegsschauplätze, der Klimawandel, auch die Migrationskrise ist sehr lange weggeblendet worden. Jetzt kann man davor nicht mehr die Augen verschließen, weil das auch in den Medien ein Dauerthema geworden ist. Aber durchlässig ist man eben nur für Krisen, die das private Leben, das persönliche Schneckenhaus, in das man sich zurückgezogen hat, tangieren: Also die hohen Mieten, die Inflation, die wirtschaftlichen Momente. Das spüren die Leute schon.
Carsten Roemheld: Das finde ich sehr interessant, auch diese Unterscheidung. Darauf kommen wir später nochmal zurück. Aber ich würde gerne mal auf diesen unmittelbar in Deutschland herrschenden Substanzverlust eingehen, der ja konkret auch im Alltag immer wieder zu erleben ist: Wir haben marode Straßen, verspätete Züge, wir haben eine überforderte Verwaltung, wie wir alle in der einen oder anderen Form schon festgestellt haben. Aber der Protest gegen diese Dinge scheint ja nicht sonderlich laut zu sein. Also, der Verfall der Infrastruktur ist ja auch nicht bei uns nur festzustellen, sondern auch in vielen anderen Ländern, und es gehen auch wenige Leute auf die Straße gegen den Bildungsnotstand beispielsweise, gegen marode Schulen. Ist das etwas, was die Menschen nicht so unmittelbar betrifft oder was sie nicht so wichtig finden, oder ist da ein Gewöhnungseffekt eingetreten, der in gewisser Weise dann müde macht?
Stephan Grünewald: Wir sprechen eher von einem Erosionsprozess. Der Substanzverlust ist eine schleichende Entwicklung, die sich immer wieder manifestiert in den Phänomenen, die sie geschildert haben. Also man merkt, der sonst so stolze Blick auf Deutschland, der erodiert, der schwindet. Ich habe 2018 und 2019 noch vom Auenland gesprochen. Da hatte man das Gefühl, Deutschland ist eines der letzten Paradiese, wir sind Exportweltmeister, wirtschaftlich sehr stabil und so weiter. Jetzt merkt man in vielen Feldern, ob das jetzt die Infrastruktur ist, ob es die Digitalisierung ist, ob es die Verkehrswege, die Schulgebäude sind: Vieles ist nicht mehr auf dem neuesten Stand oder verrottet buchstäblich. Dieser eher nicht mehr so stolze und argwöhnische Blick auf die Potenz und Substanz in Deutschland, der manifestiert sich nochmal in symbolträchtigen Dingen. Also: Die Deutsche Bahn als Taktgeber der Nation gerät immer stärker aus dem Takt. Die Fußballmannschaften, egal ob Frauen oder Männer, scheiden auf einmal vorzeitig aus Turnieren aus. Das alles kratzt an der deutschen Seele.
Wir haben dabei eine Hierarchie der Ängste ausmachen können. Die grundsätzlichste Angst ist die Angst – und da sind die Menschen sehr bei sich – vor dem Autonomieverlust, die Angst vor der Ohnmacht. Man will nicht wieder wie in der Corona-Zeit in eine Situation reingeraten, in der man handlungsunfähig ist, wo man von Dingen bedroht wird, die man noch nicht mal sehen, riechen, schmecken kann. Das ist ganz schlimm. Die zweite Angst gilt dem Miteinander. Hier erleben die Menschen eine zunehmende Radikalisierung, Verrohung, eine Zunahme der Aggressivität. Sie haben wirklich Angst, dass die Gesellschaft auseinanderdriftet, dass wir uns entzweien. Und die dritte Angst, die haben wir gerade besprochen, das ist die Angst vor dem deutschen Substanzverlust.
Carsten Roemheld: Jetzt haben sie ja, um noch mal auf das erste Thema zurückzukommen, einen Prozess beschrieben, der vor wenigen Jahren noch anders aussah. Sie haben vom Auenland gesprochen, das ist ja noch gar nicht so lange her. Hat sich da was beschleunigt in den letzten Jahren, auch durch die Krisen, die jetzt dazugekommen haben? Denn wie gesagt, sie beschreiben ja Phänomene von 2018 und 2019, die noch nicht allzu lange her sind.
Stephan Grünewald: Also, das Auenland war damals schon so eine Vorstellung, die die Krisen realisierte, aber diese waren sozusagen outgesourced, in räumlicher oder zeitlicher Dimension. Man hatte das Gefühl, jenseits unseres Auenland ist das Grauenland. Aber das ist weit weg, und es kommt vielleicht erst in einigen Jahren näher. Wir haben vor allen Dingen seit der Corona-Zeit erlebt, dass das Auenland geschrumpft ist. Das ist jetzt nur noch mein Schneckenhaus, die private Wohlfühloase. Da fühlt man sich noch sicher, da hat man das Gefühl von Daseinskontrolle und Berechenbarkeit.
Carsten Roemheld: Sie haben in der jüngsten Studie konkret nach Themen gefragt, die aus der persönlichen Sicht der Befragten am dringendsten angegangen werden müssen. Bei den Topthemen hieß es: Inflation und Altersarmut – und zwar noch vor Themen wie Klimawandel, Energiekrise und Kriegen. 90 Prozent sagen, die Politik engagiert sich zu wenig gegen Altersarmut. Das ist eines der Themen, das als am stärksten vernachlässigt gilt. Die Menschen sorgen sich also dann doch vielleicht mehr um den eigenen Wohlstand als um die Lage der Welt. Sehen Sie das auch so? Und wenn ja: Wie erklären Sie das?
Stephan Grünewald: Der beschriebene Verdrängungsvorhang führt dazu, dass man mit der beunruhigenden Außenwelt möglichst nichts mehr zu tun haben will. Da ist diese passive Resignation, die Sie eingangs beschrieben haben, sehr stark ausgeprägt. Im privaten Sektor hat man zumindest noch die Hoffnung, hier kann man stabilisieren, hier kann man erhalten, hier kann man im Kleinen noch aufbauen und ein Bäumchen pflanzen, wie Luther mal gesagt hat. Da ist dann aber auch die Empfindlichkeit viel stärker, wenn man merkt, auch der private Sektor wird bedroht von Inflation, durch hohe Mieten, durch Altersarmut.
Carsten Roemheld: Das finde ich besonders interessant, dass sie sagen, dass man im privaten Bereich noch vielleicht mehr verändern kann, und der ist einem näher. Wie kann man denn eine Gesellschaft dazu bringen, wieder stärker als Gemeinschaft zu denken? Also was Sie beschreiben, ist ja, ich will nicht sagen, egoistisches Verhalten, aber doch ein Verhalten, das auf einen selbst gerichtet ist. Für eine Gesellschaft ist es aber schädlich, wenn sich die Menschen darauf geeinigt haben, dass man eh nichts ändern und nur noch im Privaten irgendwas erreichen machen kann. Wie kann man die Leute darauf einstellen? Und wie gefährlich ist es für eine Gesellschaft, wenn man sich in diesem Niedergang einrichtet?
Stephan Grünewald: Ich sehe eine große Gefahr für die Demokratie und für das gesellschaftliche Miteinander. Es ist nachvollziehbar und seelisch betrachtet erst mal gesund, dass man sich selbst stärkt. Wir haben mehrere Themen identifiziert, die für die private Zuversicht verantwortlich sind:
Das ist einmal die Selbstmodellierung. In einer krisenhaften, komplexen Welt wird das eigene Ich zum Drehpunkt. Da habe ich was in der Hand, da erlebe ich Erfolgserlebnisse. Ich gehe ins Fitnessstudio und freue mich, wenn der Bizeps wächst. Oder ich geh auf den Trimm-Dich-Pfad und freue mich, wenn die Ausdauer zunimmt. Oder ich mache Yoga. Das sind alles Dinge, die man sehr gut selbst im Griff hat.
Dann sind Menschen auch bereit, sehr viel zu investieren in die eigene Wohlfühloase, all das, was das private Umfeld verschönert. Da ist man bereit, auch viel Liebe und Hingabe zu investieren.
Interessanterweise – und das ist durchaus jetzt zwiespältig – erleben wir auch eine Bewegung, dass man sich sehr stark überlegt, auf wen ich bauen und vertrauen kann. Die sozialen Kreise festigen sich. Diese Festigungsbewegung führt aber auch dazu, dass die Freundes- und Kollegenkreise in sich hermetischer werden. Das heißt, die Menschen beschreiben uns in den Tiefen-Interviews, wie sie dazu übergehen, andere aus ihrem Bekanntenkreis auszusortieren, wenn man merkt, die sind anstrengend, die vertreten andere Meinungen. Diese Hermetik ist schwierig, weil unser Gemeinwesen auf eine produktive Streitkultur, auf einen Perspektivwechsel ausgelegt ist. Nur wenn wir im Gespräch bleiben, wenn wir das Fremde und Andere verstehen, sind wir auch kompromissfähig. Wenn wir uns aber immer stärker in hermetische Silos zurückziehen, dann gibt es zwar Solidarität, die ist aber auf die Silos beschränkt. Ich spreche seit einigen Wochen von daher immer von einer Silodarität, die wir haben, die auf Kosten des großen Gemeinsinns geht.
Carsten Roemheld: Das ist ein sehr guter Begriff, den man sich merken sollte. Aber genau da sehe ich auch ein ganz großes Problem, nämlich dass auf diese Weise die produktive Diskussion mehr oder weniger abgeschottet und vermieden wird. Und man sich nur noch Meinungen entgegenwirft, ohne zum Kompromiss zu kommen. Gibt es denn Rezepte, wie man da wieder rauskommen kann, zumal auch die Sozialen Medien ja immer sehr polarisieren?
Stephan Grünewald: Es braucht vor allen Dingen Begegnungsräume, und die werden geschaffen durch gemeinschaftliche Events, aber auch durch gemeinschaftliche Aufgaben. Das ist vielleicht auch eine fatale Spätfolge der Coronazeit: Die Restaurants, die Kneipen, die Theater, die Kinos, das war ja alles zu – und die Menschen haben sich ganz gut eingerichtet im Privaten und haben gelernt, wie man mit Netflix und Co. wunderbar die Zeit verbringt. Eine große Frage ist nun: Wie schaffen wir auch wieder Anreize, gemeinsam was zu machen? Interessanterweise war bei der Flutkatastrophe vor zwei Jahren im Ahrtal für jeden, der das miterlebt hatte, sofort klar und sinnfällig: Hier muss man beispringen, hier muss man helfen, hier muss man mit anpacken. Dann haben wir wieder eine große, auch wenig egoistische Solidarität erlebt.
Die Menschen sind also durchaus bereit, im Zuge einer erlebten Not anzupacken. Wir haben Ähnliches erlebt im letzten Jahr bei der Energiekrise. Da hatte man auch das Gefühl: Das ist eine Krise, die wir nur gemeinsam meistern können. Aber das ist auch eine Krise, die nicht abstrakt ist, sondern bei der jeder einen eigenen Beitrag leisten kann, weil jeder den starken Arm hat, um an der Armatur oder am Thermostat zu drehen. Das heißt: Wenn es gelingt, Gemeinschaft mit Selbstwirksamkeit zu verbinden, wenn es gelingt, Events zu kreieren, bei denen die Menschen das Gefühl haben, hier werde ich gebraucht, hier habe ich eine sinnvolle Aufgabe, dann entsteht wieder ein sozialer Wirkungsraum.
Carsten Roemheld: Das klingt ja sehr positiv. Glauben Sie also, dass diese Krisen unter Umständen auch als Weckruf dienen können, um Leute aus ihrer Isolation herauszuführen und das Gemeinwesen wieder zu fördern? Wie bei der Flutkatastrophe oder ähnlichen Dingen, wo an die Grundmoral der Bevölkerung appelliert wird, die jeder bei sich im Verborgenen hat, die vielleicht aber durch den Rückzug in die Wohlfühloasen ein bisschen verkümmern ist?
Stephan Grünewald: Krisen funktionieren als Weckruf, wenn die Menschen das Gefühl haben, irgendwie eingreifen zu können, irgendwie der Krise was entgegensetzen zu können. Das ist bei der Energiekrise oder bei einer begrenzten Flut einfacher als beim globalen Klimawandel. Wobei die Menschen selbst da das Gefühl haben, dass sie ihr Verhalten umstellen können, dass sie mehr Fahrrad fahren oder weniger Fleisch essen oder auf die ein oder andere Flugreise verzichten. Mitunter ist das aber eher so ein symbolischer Ablasshandel, den man betreibt, um das Gefühl zu haben, seine Zukunftsschuldigkeit getan zu haben.
Teil 2
Carsten Roemheld: Im zweiten Teil unseres Gesprächs lassen Sie uns zunächst die Bestandaufnahme abschließen. Sie haben gesagt, dass viele Menschen im Land ziehen sich aus der Öffentlichkeit zurückziehen und die schlechten Nachrichten verdrängen – weil sie diesmal das Gefühl haben, gegen die aktuellen Krisen kaum etwas ausrichten zu können. Nun werden wir alle auch nicht das Klima retten, indem wir weniger Fleisch essen, und auch keinen Krieg beenden, wenn wir weniger heizen. Trotzdem haben Menschen genau das in der Vergangenheit aber getan, auch weil politische Entscheidungsträger vermittelt haben, dass es etwas ausmacht. Fehlt uns diesmal die passende politische Erzählung zur Krisenbewältigung?
Stephan Grünewald: In Krisenzeiten wünschen sich die Menschen Klarheit und Geschlossenheit und einen unmittelbaren Elan, die Dinge nach einer bestimmten Rezeptur anzupacken. Das ist im Moment das große Dilemma der Ampel und führt zum Teil zu den extrem niedrigen Vertrauenswerten: dass man eher den Zank wahrnimmt. Noch nicht mal den Streit, denn Streit ist immer produktiv, weil er auf Kompromiss und auf Aussöhnung aus ist, bringt die unterschiedlichen Perspektiven in einem gedeihlichen Austausch. Zank ist eher von Bitternis durchtränkt. Da geht's darum, die andere Seite zu schwächen oder eigene Positionen zu festigen. Und das, während die Politik in der Krise fast so etwas wie eine elterliche Funktion hat: Die Bundesbürger und Landeskinder sollen Orientierung bekommen, sollen motiviert werden, etwas zu machen. Das ist schwierig, wenn man gar nicht die Richtungsvorgabe kennt.
Man muss aber entschuldigend sagen, die Vertrauenswerte sind auch niedrig, weil dieser Verdrängungsvorhang dazu führt, dass Menschen im Nachhinein versuchen zu legitimieren, dass sie sich nicht mit der Politik beschäftigen, indem sie ein pauschales Ressentiment aktivieren und sagen: Da passiert sowieso nur Blödsinn. Also muss ich keine Nachrichten gucken und mich damit nicht beschäftigen. Das ist ein Teufelskreis. Je mehr ich den Kopf in den Sand stecke, desto stärker wird das Ressentiment über das, was jenseits des Landes in der Wirklichkeit stattfindet.
Carsten Roemheld: Das ist nochmal sehr interessanter Aspekt, den ich gerne aufgreifen möchte. Wie nah ist die Politik eigentlich an der Gesellschaft? Mein Eindruck ist, dass die Leute das Gefühl haben, dass Politiker überhaupt nicht mehr bei uns sind, in anderen Sphären leben, sich mit Themen beschäftigen, die nicht die Themen der Gesellschaft sind. Dass sie vielleicht die Bedürfnisse der kleinen Leute har nicht kennen, diese Themen gar nicht vertreten werden. Ist es aus Ihrer Sicht auch ein Problem, dass die Politik möglicherweise den gesellschaftlichen Boden unter den Füßen verloren hat?
Stephan Grünewald: Die Menschen haben den Eindruck, dass sie nicht mehr repräsentiert werden. Das hängt aber zum Teil auch mit dem eben beschriebenen pauschalen Ressentiment zusammen. Andererseits: Das, was wir erleben an Positionsverbunkerung und Stellungskampf innerhalb der Ampel, ist etwas, was der Energie entzogen wird, die man vielleicht zur Verfügung hätte, um mit den Menschen in Austausch zu treten. Insgesamt ist die Sehnsucht nach Anteilnahme, gemeinsamem Wirken und gemeinsamer Krisenbewältigung in der jetzigen Zeit viel größer. Wir waren lange Zeit damit zufrieden, dass mit Angela Merkel sozusagen eine Engelsgestalt überparteilich über dem Land schwebte und Ruhe und Vertrauen einflößte. Da gab es diesen Vertrauensvorschuss, dass Frau Merkel, weil sie keine erkennbare egoistische Agenda verfolgte, sich wirklich für das Land aufopferte, dass man ihr Vertrauen schenken kann. Im Moment sind die Anforderungen im Zuge der Krise viel größer an die Politik.
Carsten Roemheld: Das ist natürlich ein Dilemma, aus dem wir so schnell nicht rauskommen werden, und die über politische Fragen können wir uns wahrscheinlich noch Ewigkeiten austauschen. Ich würde mich gerne im letzten Themenblock noch mal etwas mehr über das Thema Selbstwirksamkeit unterhalten. Wir haben über die vielen konkreten Sorgen und Ängste schon gesprochen: Inflation, Altersarmut, Wohlstandsverlust. In der Psychologie geht es oft um Erwartungen an Selbstwirksamkeit, und die Frage ist, ob darin nicht auch ein gewisser Schlüssel für die Therapie liegt. In einer etwas depressiven Gesellschaft ist es dann zum Beispiel förderlich für die eigene psychische Gesundheit, wenn man die Altersvorsorge selbst in die Hand nimmt? Statt das jetzt nur dem Staat anzuvertrauen? Wäre das eine Möglichkeit, wie man Selbstwirksamkeit konkret erfahren kann – natürlich unter der Voraussetzung, dass man sich das leisten kann?
Stephan Grünewald: Wir können die generelle Investitionsbereitschaft am besten verstehen aus dem gesamtgesellschaftlichen Stimmungskontext, den ich versucht habe aufzuzeigen. Die Spaltung, von der ich gesprochen habe, dass die äußere Welt eher krisenhaft ist, führt dazu, dass die Zeitenwende bei den Menschen überhaupt nicht angekommen ist. Also gefühlt sind die Menschen eher in einer Art Nachspielzeit. Das heißt, sie hoffen, dass die Zustände, die sie kennen, irgendwie noch mal weitergehen, ein paar Monate, vielleicht ein Jahr oder ein paar Jahre.
Das heißt: Man denkt überhaupt nicht in großen Zukunftshorizonten, sondern spielt auf Ergebnishalten. Und diese Nachspielzeit ist verbunden mit einem großen Retrotrend. Das visionäre Vakuum wird dadurch gefüllt, indem man Aufbruchsstimmungen oder Geborgenheitserfahrungen der 70er, 80er, 90er Jahre recycelt. Also von der Gesamtdynamik her sind wir jetzt nicht so unterwegs, dass wir sagen, wir glauben an die Zukunft und wir sind jetzt investitionsbereit und gehen ins Risiko. Sondern die Grundbewegung ist von einer sehr großen Absicherungslogik geprägt. Das, was wir an Mitteln zur Verfügung haben, soll immer verfügbar sein, damit diese Selbstwirksamkeit nicht ins Leere läuft.
Carsten Roemheld: Sowas ähnliches kennen wir auch im Kapitalmarktumfeld. Im Englischen wird das manchmal als Recency Bias beschrieben: Also, dass man die Entwicklung der letzten 10, 20 Jahre, die Realität anerkennt, während man größere Zeitsprünge oder Umwälzungen gar nicht so sehr wahrnimmt, sondern denkt, dass das Ganze noch eine Zeit weitergeht, sich nichts permanent und grundsätzlich ändert. Das wird dann auch im Finanzbereich ein Problem. Beispiel: Man sollte am besten für die eigene Altersvorsorge Geld zurücklegen, aber wenn man die Zukunft als ungewiss ansieht und eine Absicherungsmentalität hat, wird man wahrscheinlich eher nicht sparen, sondern konsumieren oder seinen aktuellen Status quo halten. Das ist eine gewisse Zwickmühle, weil man dann im Alter in eine Situation kommt, die einen unter Umständen sehr negativ betreffen kann. Wie kann man das psychologisch auflösen?
Stephan Grünewald: Ich würde das geringfügig anders als eine Doppelbewegung beschreiben. Die Menschen sind durchaus bereit, viel für das Hier und Jetzt zu investieren, aber eben nur im Dunstkreis ihres Schneckenhauses. Also investieren sie in die Wohlfühloase, in die eigene Selbstwirksamkeit. Sie fragen sich: Was kann ich mir in der Selbstmodellierung noch Gutes angedeihen lassen? Und sie sind auch bereit, im Kreise der Familie und Freunde zu investieren. Aber es sind nicht die Investitionen auf eine lange Zukunft, sondern man stabilisiert das Hier und Jetzt und denkt vielleicht für die nächsten zwei bis fünf Jahre, aber nicht weiter. Denn diese Nachspielzeit ist verbunden mit einer Art Endzeitstimmung. Menschen haben ein Gefühl wie beim russischen Roulette: Bisher ist der große Knall noch ausgeblieben und es geht uns trotz der ganzen Krisen halbwegs gut. Aber das Gefühl ist, eine Patrone ist noch scharf und irgendwann knallt es. Da gilt es, sich so aufzustellen, dass man letztlich noch einen Notgroschen zur Verfügung hat.
Carsten Roemheld: Das sehe ich ein, dass man das vielleicht auf diese zwei Ebenen beziehen muss, die persönliche, das persönliche Umfeld und dieses längerfristige Sparen. Ich glaube, dass wahrscheinlich auch die Zeithorizonte, in denen man denkt, kürzer werden durch diese ständigen Krisen, die es gar nicht mehr ermöglichen, eine langfristige Planung oder ähnliches durchzuführen.
Stephan Grünewald: Wir haben im vergangenen Jahr auch eine Studie gemacht zum Thema Sparen und haben gemerkt: Sparen kann ja auch ein Versuch der Selbststabilisierung sein. Denn Sparen heißt ja nicht nur, dass man das Geld zusammenhält, sondern Sparen schafft auch einen seelischen Mehrwert. Oder andersrum: Die Menschen sind erst bereit zu Sparen – egal, ob sie jetzt Geld oder Energie sparen –, wenn sie spüren, dass da ein seelischer Mehrwert für sie entsteht.
Wir haben sechs Arten des Sparens differenzieren können: Es gibt ein Sparen, das mir Daseinskontrolle bringt. Also: Wenn ich spare, habe ich einen Blick auf meine Finanzen und bin gefeit vor großen Überraschungen. Dieses Kontrollsparen schafft Beruhigung. Sparen kann aber Ausdruck auch einer höheren Moral sein. Ich bin kein Hallodri, oder beim Energiesparen bin ich jemand, der umweltbewusst ist, vielleicht auch familienbewusst, weil ich mein Geld zusammenhalte. Das heißt, das Sparen kann auch als Tugendgewinn erlebt werden. Sparen ist mitunter auch mit einer Weniger-ist-mehr-Logik verbunden, kann ein Beitrag der Entschleunigung sein. Ich komme von der Hochtourigkeit herunter und erspar mir im Leben den einen oder anderen Stress. Sparen kann auch ein Ausdruck von Solidarität sein, gerade in einer Zeit, wo ich merke, dass die Gesellschaft auseinanderdriftet, wo es Menschen gibt, die am Existenzminimum sind, sich vieles nicht mehr leisten können. Da erleben wir auch bei Menschen, die genug Geld haben, eine Tendenz, zu verzichten, um zu zeigen, dass sie solidarisch sind. Sparen kann fünftens ein Ausdruck der persönlichen Cleverness, der Smartness sein. Dann wird das Sparen als Hinweis verstanden auf die eigene Lebenskunst. Und schließlich: Wenn ich spare, wecke ich sozusagen den Spartaner in mir, Ich härte mich ab, steigere meine Widerstandskraft und Resilienz.
Carsten Roemheld: Das ist sehr spannend, dass sie nochmal die verschiedenen Versionen des Sparens aufgelistet haben. Denn im letzten Winter hatten wir ja genau dieses Phänomen. Da war das Sparen eine Art moralische Bürgerpflicht: Weniger Heizen sollte eben nicht bloß das Konto schonen, sondern auch die eigene Resilienz stärken und gegen Abhängigkeiten helfen, zum Beispiel von Gaslieferungen aus Russland. Man wollte in gewisser Weise auch Solidarität mit der Ukraine bekunden. Glauben Sie, dass ein ähnliches Thema wiederkommen kann? Wie könnte ein solches gesellschaftliches oder gemeinschaftliches Projekt aussehen, das uns aus der Trägheit holt und aus diesem Wartezustand befreit, den wir gerade haben?
Stephan Grünewald: Paradoxerweise waren die Menschen im letzten Jahr fast zufriedener, weil es dieses kollektive Projekt gab, weil jeder auf einmal das Gefühl hatte, aha, ich bin gefordert, ich kann einen Beitrag leisten, etwas, was auch in den Unternehmen noch stärker ist, wenn man das Gefühl hat, ein Unternehmen stellt sich neu auf, macht sich krisenfest, jeder weiß, wer welche Funktion hat. Da wächst wieder was zusammen. Und das ist ja im Moment so das Grundgefühl: Es driftet alles auseinander, jeder hängt in seinen Silos fest, es fehlt die übergreifende Klammer. Von daher ist eine Frage, nicht nur für die Unternehmen, wo es häufiger schon gelingt: Wo finden wir eine Losung, eine Mission, ein Etappenziel, bei dem die Menschen das Gefühl haben, sie können was bewegen. Da kommen sie aus der Depression heraus, da müssen sie nicht nur passiv auf die Erlösung hoffen, sondern sind Teil der Lösung. Ich glaube, das fehlt im Moment. Damit bin ich wieder am Ausgangspunkt: In vielen Momenten, gerade mit Blick auf die Krisen, fühlt man sich so seltsam ohnmächtig und hatte überhaupt nicht das Gefühl, da sinnvoll anpacken zu können.
Carsten Roemheld: Wenn wir das wieder hinkriegen würden, einen gesellschaftlichen, gemeinschaftlichen Wunsch daraus zu formieren, wie man da rauskommen kann, so wie Sie es für das vergangene Jahr teilweise beschrieben haben, dann wäre das natürlich was Positives insgesamt. Trotzdem bleiben viele Fragen offen. Sie haben uns aber hier heute sehr, sehr viele wunderbare Einblicke gegeben in die Psychologie dahinter. Insofern, Herr Grünewald, danke ich ihnen ganz herzlich für dieses sehr spannende Gespräch und hoffe auch, liebe Zuhörer, dass sie wieder mal ein paar spannende Einblicke und interessante Inhalte daraus mitgenommen haben. Wir hören uns sicherlich beim nächsten Mal wieder oder bei einem der anderen Formate, die wir für Sie bereitstellen.
Vielen Dank für ihre Aufmerksamkeit und viele Grüße, Ihr Carsten Roemheld.