Wirtschaft und Märkte im Krisenmodus
Aktuelle Einschätzungen und Kommentare zu den Auswirkungen des Russland-Ukraine-Krieges
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Carsten Roemheld - Kapitalmarktstratege Fidelity International
23. Februar 2022
Hinweis: Dieser Podcast wurde am 23. Februar 2022 aufgezeichnet, einen Tag vor Beginn des Krieges in der Ukraine.
Die Inflation steigt so stark wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Die Hälfte des Preisanstiegs verursachten in den vergangenen Monaten massiv gestiegene Energiepreise, und angesichts der aktuellen weltpolitischen Lage dürfte das noch weitergehen. Wenige Stunden vor dem Einmarsch Russlands in die Ukraine hat Ökonomin Kerstin Bernoth im Podcast erklärt, wie sich der Preisauftrieb auf Dauer bremsen lässt. Und wie der Staat kurzfristig und zielgerichtet soziale Härten abfedern kann.
Die Europäische Zentralbank (EZB) sollte sich nur um ein einziges Ziel kümmern: die Preisstabilität. Dabei dürfen andere Themen wie die Verschuldung der Staaten keine Rolle spielen, sagt Ökonomin Kerstin Bernoth. Besondere Herausforderung: Vieles von dem, was die Notenbanken tun können, wirkt erst zeitverzögert. Kurzfristiger wirkt der Wettbewerb.
Hinweis: Dieser Podcast wurde am 23. Februar 2022 aufgezeichnet, einen Tag vor Beginn des Krieges in der Ukraine.
Carsten Roemheld: Waren Sie heute schon tanken oder beim Bäcker? Dann haben Sie es sehr konkret gemerkt: Die Inflation ist da und sie wird uns in den kommenden Wochen weiter begleiten. Zeit, sich grundsätzlicher damit zu beschäftigen. Warum steigen die Preise aktuell so stark? Was bedeutet das konkret und was hat die Zinspolitik damit zu tun? Wie misst man Inflation eigentlich richtig? Und was hat es mit der sogenannten gefühlten Inflation auf sich? Kann man die nur fühlen oder auch messen?
Fragen über Fragen, die ich heute hier im Podcast mit einer Expertin zu dem Thema besprechen möchte: Frau Prof. Dr. Kerstin Bernoth, sie ist mir zugeschaltet aus Berlin, wo sie als stellvertretende Leiterin der Abteilung Makroökonomie und Vize-Dekanin des Graduate Center am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) arbeitet. Kerstin Bernoth forscht seit vielen Jahren intensiv zum Thema Inflation. Sie hat sich mit vielen fundamentalen Fragen zum Thema schon befasst, als die Inflation überhaupt kein Thema in der Öffentlichkeit war. Und sie kennt auch viele Tricks zur Eindämmung der Preise und ihre Tücken.
Mein Name ist Carsten Roemheld, ich bin Kapitalmarkt-Stratege bei Fidelity und ich freue mich sehr auf die kommenden 45 Minuten. Denn es geht um ein Thema, von dem ich sagen kann, es gibt kaum einen Tag, an dem ich mich nicht selbst damit befasse, und daher eine perfekte Zeit, um sich noch einmal intensiver mit den wissenschaftlichen Hintergründen zu befassen.
Carsten Roemheld: Herzlich willkommen, Frau Professor Bernoth.
Kerstin Bernoth: Ja, hallo! Ich freue mich auch, hier zu sein!
Carsten Roemheld: Ich freue mich sehr, dass Sie heute bei uns sind. Lassen Sie uns mal einsteigen mit einer persönlichen Frage: Wie geht es Ihnen eigentlich? Steigt die Nachfrage nach Ihrem Forschungsthema gerade auch so stark an? Spüren Sie sozusagen, wie die Inflation der Inflationsberichterstattung einfach mehr wird?
Kerstin Bernoth: Absolut. Also das ist wirklich seit letztem Herbst, da ist das Thema überall und ich kriege wirklich mehrfach die Woche Anfragen, dazu etwas zu sagen. Und ich muss echt sagen, Geldpolitik war stinklangweilig. Also es war schon mehr los jetzt als vielleicht noch vor zehn Jahren in den letzten Jahren, aber ich denke, man merkt an den Anfragen, dass Geldpolitik doch wieder mehr in den Wahrnehmungsbereich der Leute jetzt rückt.
Carsten Roemheld: Lassen Sie uns mal über eine konkrete Frage sprechen, die besonders viele meiner Kolleginnen und Kollegen umtreibt und auch mich jetzt ehrlich gesagt; jetzt, wo das Ketchup aus der Flasche ist. Man fühlt sich ja an diese legendäre Metapher erinnert, bei der man die Flasche schüttelt, und erst kommt lange nichts und dann kommt so viel, dass der ganze Teller voll ist. Also die Frage: Kommen wir nach dem heftigen Anstieg der vergangenen Monate wieder auf ein normales Inflationsniveau zurück? Und vor allem wann?
Kerstin Bernoth: Das ist eine sehr gute Frage. Die Unsicherheit derzeit ist enorm, weil wir es einfach gerade auch mit einigen Faktoren zu tun haben, die eher politischer Natur sind, wie zum Beispiel die Entwicklung der Energiepreise. Also die Energiepreisinflation macht 50 % des derzeitigen Preisanstiegs aus und gerade hier in dem Sektor, würde ich sagen, ist die Entwicklung ganz schwer vorauszusehen. Aber ansonsten gibt es viele Faktoren, die derzeit für die hohe Inflation sorgen. Da können wir auch nachher noch mal im Detail drüber sprechen.
Viele dieser Faktoren werden abebben irgendwann, aber dennoch, wie Sie meinten mit der Ketchupflasche, ein Problem ist dieser Schwupp, wenn der jetzt doch sehr enorm rauskommt; dass der das Verhalten der Menschen jetzt so ändern kann, dass es doch kein temporäres Phänomen mehr bleibt. Das haben wir immer wiederholt, dass viele Faktoren temporär sind, aber je länger diese temporären Faktoren anhalten oder jetzt noch neue Probleme wie der drohende Krieg mit Russland und Europa anhält, kann es doch dauern, bis die Inflation wieder verschwindet.
Carsten Roemheld: Wir haben Inflationsraten wie seit Jahrzehnten nicht mehr: In Deutschland jetzt, glaube ich, 30 Jahre, in den USA seit 40 Jahren wurden keine so hohen Inflationsraten mehr notiert. Zugleich haben sich die Notenbanken zumindest vor den letzten Veränderungen immer an diesem berühmten Zwei-Prozent-Ziel orientiert. Jetzt wollte ich Sie mal fragen: Woher kommt eigentlich diese Verständigung auf 2 %, die immer so als das Ziel galt für Inflationsraten? Und sind die fundamentalen Faktoren der Inflationsentwicklung, die diesem Ziel mal zugrunde lagen, sind die denn noch zeitgemäß?
Kerstin Bernoth: Ja, die Frage ist, warum hat man nicht gesagt, 0 % Inflation ist das Ziel; dass wir gar keine Geldentwertung beobachten. Der Grund ist, dass man sich so eine Art Puffer verschaffen möchte, dass man nicht in die Deflation rutscht. Also Inflation ist ja nie statisch. Das heißt, manche Preise variieren und auch die Inflationsmessung ist nicht genau. Und wenn man sagt, wir peilen 2 % an, dann hat man einen Sicherheitspuffer einerseits, um nicht doch aus Versehen in der Deflation zu landen. Das heißt, wenn Preise sinken (und das haben wir im Fall von Japan gesehen), ist das für eine Wirtschaft ganz schädlich auch und schwer, da wieder rauszukommen, weil keiner mehr konsumiert und investiert und man denkt: „Morgen ist mein Geld mehr wert, ich warte.“ Und es heißt, mit 2 % hat man sich einmal schon so einen Sicherheitsabstand geschaffen.
Der andere Grund ist auch gerade im Euroraum, wir sind 19 Mitgliedstaaten: Nicht jedes Land hat gerade dieselbe Inflationsrate. Auch dort ist es wieder, dass man sagen kann, manche Länder haben niedrigere Inflation, andere höhere und durch 2 % im Mittel vermeiden wir auch, dass einzelne Volkswirtschaften im Deflationsbereich enden. Und last, but not least: Eine milde, moderate Inflation ist wachstumsfördernd, weil jeder einfach sagt: „Bevor ich mein Geld auf dem Sparbuch lasse, werde ich doch besser investieren in Wertpapiere. Ich werde mein Geld zur Bank tragen, das die Bank wieder in Form von Krediten weiterreichen kann. Ich kaufe Aktien, ich investiere in irgendwas Rentables.“ Also: Es kreiert Wachstum.
Carsten Roemheld: Besonders, wenn die Realrenditen wie jetzt gerade tief im negativen Bereich sind, dann ist die Motivation natürlich besonders hoch. Kommen wir mal auf die aktuelle Diskussion. Es gibt ja immer wieder auch Forderungen, dass der Staat eingreifen soll gerade. Sie haben vorhin die hohen Energiepreise erwähnt, die ja sozial auch durchaus kritisch zu sehen sind und dass der Staat eben in bestimmten Sektoren einfach Preise festlegen sollte. Ich bin natürlich von solchen Vorschlägen etwas irritiert, weil man damit eigentlich die wichtige Signalwirkung von Preisen untergräbt und halt staatlich eingreift. Wie sehen Sie denn das? Ist der Staat möglicherweise eben aus sozialen Gründen irgendwann gezwungen, Preiskontrollen einzuführen?
Kerstin Bernoth: Ich bin komplett auf Ihrer Linie, dass ich auch sagen würde, dass Preiskontrollen kein adäquates Mittel jetzt sind, um steigenden Preisen vorzubeugen. Es führt einfach nur zu Marktverzerrungen. Viel besser wäre es, den Gründen nachzugehen, warum die Preise gerade so stark steigen. Also gerade, wenn wir sagen, es gibt einen Markt mit Wettbewerb, sind steigende Preise immer ein Signal, dass es mehr Nachfrage als Angebot gibt. Das haben wir jetzt auch in der Pandemie erlebt. Es gab Probleme bei der Zulieferung von Zwischenprodukten, von Rohstoffen, warum dann die komplette Industrieproduktion ins Stocken geriet. Also wir haben ein verknapptes Angebot und gleichzeitig eine sehr kräftige Nachfrage, weil die Leute sehr viel gespart haben während der Pandemie und die nicht mehr ins Restaurant, nicht mehr ins Theater sind, und dann sagen die Leute: „Dann kaufe ich mir jetzt ein Auto stattdessen.“ Und das Auto kann gerade aber nicht geliefert werden. Und das sind dann so Probleme, die sektoral zum Preissprung führen. Da wäre dann im Prinzip die Lösung, dass man jetzt einfach hofft, dass die Transportwege wieder geöffnet sind, wenn die Pandemie abebbt, und dass die Lieferengpässe wieder abebben.
Aber ein großer Teil geht natürlich auf die Energiepreise zurück. Auch dort kann man theoretisch sagen: „Ja, was machen wir gegen diese hohen Energiepreise?“ Hier haben wir auch wieder das, dass wir sagen, wir haben ein zu knappes Angebot der Nachfrage. Da haben wir schon gerade vorhin die Gründe erwähnt: der Konflikt mit Russland. Hier wäre natürlich jetzt die Lösung, dass man sagt, wir bauen uns mehrere Optionen in Zukunft, dass wir nicht so abhängig sind von einzelnen Erdgaslieferanten. Das kann geschehen durch den Ausbau erneuerbarer Energie zum Beispiel, aber das dauert Zeit. Also das ist jetzt nichts, was wir sofort jetzt gerade in dieser Energiekrise machen können. Und von daher haben Sie einen guten Punkt: Was machen wir mit dem sozialen Druck, der gerade entsteht? Gerade bei den ärmeren Haushalten, die angewiesen sind, zur Arbeit mit dem Auto zu fahren, und an der Tankstelle einfach bald nicht mehr wissen, wie sie das zahlen sollen.
Ja, ich kann auch gerne jetzt was dazu sagen, was ich denke, was das Sinnvollste ist, statt jetzt hier zu sagen, wir deckeln die Preise und der Staat bezahlt im Prinzip den Rest. Das ist keine sinnvolle Maßnahme. Die Koalition hat schon Maßnahmen ergriffen, indem sie jetzt gesagt hat, dass Haushalte im unteren Einkommenssegment einen Zuschuss erhalten. Das ist sicherlich hilfreich, gerade für die ärmeren Haushalte, aber generell gilt jetzt, wenn man sich weitere Maßnahmen überlegt, dass staatliche Stützungsmaßnahmen die sogenannten „drei Ts“ erfüllen müssen. Es sind also: timely, temporary und targeted. Also wir sollten zügig, zeitlich befristet und gezielt bezahlt werden. Und eine Lösung, die diskutiert wird, ist, dass man zum Beispiel Tankgutscheine oder so austeilt. Das halte ich ehrlich gesagt für keine gute Lösung. Der psychologische Effekt bleibt nämlich bestehen. Ich habe dann zwar den Scheck von 150 €, geh da vielleicht einmal von in den Supermarkt, aber ich geh trotzdem an die Tankstelle und sehe die enorm hohen Preise. Ich sehe meine Stromrechnung, das bleibt – das heißt: im Kopf der Leute ist diese Inflationswahrnehmung. Was effektiver wäre, wäre zum Beispiel, die Steuern auf Strom temporär zu senken, solange wir eben diese Energiepreise jetzt haben. Das geht schnell (also: temporary) und kann auch schnell wieder zurückgenommen werden und kann auch schnell umgesetzt werden. Das könnte man jetzt überlegen.
Carsten Roemheld: Sehr gut, also zumindest eine kurzfristige Möglichkeit, zu reagieren. Sie hatten ja schon längerfristig angesprochen, dass man die Alternativen ausbauen muss, dass man eben sehen muss, ein möglichst diverses Angebot bereitzustellen. Jetzt frage ich mich, wie die Klimapolitik aus Ihrer Sicht langfristig mit der Inflationsentwicklung in Verbindung zu bringen ist. Denn ich könnte mir vorstellen, man hat ja schon gesehen, dass auch CO₂-Preise auf Dauer natürlich steigen müssen insgesamt und dass da noch ein weiterer Druck insgesamt auf die Energiepreise in Zukunft bei dem Rennen nach ‚Net Zero‘ sozusagen auf uns zukommen wird. Glauben Sie, dass die künftige Klimapolitik oder die aktuelle und künftige Klimapolitik eher inflationstreibend sein wird?
Kerstin Bernoth: Ja, also definitiv, zu Recht spricht man von einer ‚Green Inflation‘. Wenn jetzt schrittweise in den nächsten Jahren die CO₂-Bepreisung angehoben wird, das hat ja gerade den Zweck, dass man sagt, man möchte die fossilen Brennstoffe verteuern, damit die Leute unter Druck geraten, um ihre Häuser zu dämmen, um Energie einzusparen und vielleicht ein E-Auto statt einem Benziner zu kaufen. Das ist ja gerade der Zweck. Nur ist jetzt gerade die Situation sehr ungünstig, dass diese Green Inflation zusätzlich mit den weiteren Problemen zusammenstößt, die wir gerade im Energiebereich haben.
Carsten Roemheld: In der Tat. Also die Probleme kumulieren sich momentan. Eine Frage noch, auch zu den Bürgern und zu dem, wie man die Inflationsentwicklung wahrnimmt in der allgemeinen Gesellschaft momentan. Das wird ja überall auch kommentiert. Und auch, wenn einige Kommentatoren sagen, dass sich einige der Inflationstreiber in Zukunft wieder zurückentwickeln werden, ist es doch zumindest möglich, dass die Arbeitnehmer momentan einfach eine Kompensation auch für die höheren Preise haben wollen und sich damit so eine Art Lohn-Preis-Spirale ergeben könnte, die dann wiederum sozusagen ein verstärkender Effekt noch wäre für Inflation. Wie hoch sehen Sie die Gefahr, dass eine solche Lohn-Preis-Spirale passieren kann?
Kerstin Bernoth: Ja, die Gefahr ist absolut da. Denn je länger jetzt diese erhöhte Inflation da ist, umso wahrscheinlicher wird das; dass die Leute — meistens verhandeln ja nicht einzelne Arbeitnehmer mit dem Arbeitgeber, sondern es werden zum Teil ja tariflich Löhne ausgehandelt — dass die aber dann irgendwann natürlich sagen, wir möchten eine Kompensation für den Preisverfall unserer Löhne haben. Das heißt, je länger das jetzt gerade so anhält, diese erhöhte Inflation, umso wahrscheinlicher wird es, dass diese Inflation in den nächsten Tarifverhandlungen Einfluss haben wird.
Carsten Roemheld: Also durchaus möglich, dass wir hier noch einen weiteren Push sehen werden, was die Inflationsentwicklung durch die Löhne eben betrifft, die ja bisher noch nicht — zumindest in Europa noch nicht — so massiv reagiert haben. In den USA sieht man das schon, in Ansätzen jedenfalls. Ein weiterer Punkt ist vielleicht für Deutschland relativ typisch. Wir haben ja diese ‚German Angst‘, die immer beschrieben wird. Wir haben die Angst vor Hyperinflation, die ein bisschen, wie soll ich sagen, anders als in anderen Regionen jedenfalls hier vielleicht noch deutlicher wahrgenommen wird. Auch das: Wir hatten Währungsreformen in Deutschland, die vielleicht auch die Gedanken zu dem Thema geprägt haben. So eine Art Trauma auch in Deutschland vor Hyperinflation. Ist da was dran, dass es wirklich eine unterschiedliche Wahrnehmung gibt, auch in Deutschland, und diese Angst vor Inflation so ausgeprägt ist?
Kerstin Bernoth: Ja, also ich denke generell manchmal, dass die Deutschen ein sehr ängstliches Volk sind; im Vergleich jetzt zu den ausgelassenen Italienern oder Griechen.
Carsten Roemheld: Die haben auch besseres Wetter!
Kerstin Bernoth: Aber es hat natürlich auch mit der Geschichte zu tun, dass man das in Deutschland einfach auch erlebt hatte. Aber ich denke, dass die Sorge vor einer Hyperinflation derzeit komplett unangebracht ist. Also wir haben eine andere Situation als damals nach dem Ersten Weltkrieg, wo Deutschland gezwungen war, riesige Reparationszahlungen zu leisten und das dann nur lösen konnte, indem es Geld gedruckt hat und dadurch diese Hyperinflation in Gang kam. Die Situation haben wir nicht. Wir haben eine unabhängige Zentralbank mit einem ganz klaren Mandat der Preisstabilität, die auch immer noch ein sehr hohes Maß an Vertrauen besitzt, auch wenn da viele gerade dran zweifeln, glaube ich. Aber wir müssen jetzt keine Angst haben, dass wir in die nächste Hyperinflation rutschen, weil wir jetzt doch nach Jahren zu niedriger Inflation jetzt mal drüber sind.
Carsten Roemheld: Ja, ich glaube auch, dass diese Angst etwas übertrieben ist in dem Sinne. Also selbst, wenn man hohe einstellige Prozentzahlen bekommt, dann ist man noch weit entfernt von dem, was wir vielleicht damals erlebt haben. Eine Frage zur Einleitung, wo ich ja was von gefühlter Inflation gesagt habe: Was glauben Sie, wie die Wahrnehmung von Inflation sich jetzt auch speziell durch die Pandemie entwickelt hat? Kann es sein, dass unser Blick auf die Bewertung von Preisen sich verändert hat? Dass sich vielleicht auch der Wandel der Weltwirtschaft irgendwie verändert hat? Glauben Sie, dass diese Dinge eine Rolle gespielt haben bei der aktuellen Diskussion
Kerstin Bernoth: Ich glaube eher, dass die Inflation gar kein Thema war in den Köpfen der Menschen, weil wir eben eine sehr niedrige Inflation über Jahre hinweg hatten, historisch niedrig. Auch zu D-Mark-Zeiten hatten wir eine höhere Inflation. Das glauben viele einfach gar nicht. Ich hatte neulich erst eine Diskussion mit einem Verwandten: „Ja und es geht alles den Berg runter.“ Und dann habe ich gesagt: „Also 3,1 % Inflation, was wir jetzt im Euroraum 2021 hatten, hatten wir zu D-Mark-Zeiten häufig.“ Und der: „Quatsch“. Und ich so: „Doch!“ Ich habe die Zahlen runtergeladen und ich meinte, das war — dann hat er’s verstanden — ganz normal damals im Prinzip.
Aber ich denke eher, Inflation war so aus den Köpfen raus, weil wir ja immer nur eben zwischen 1 und 2 % schwankten, manchmal sogar niedriger in den letzten Jahren. Und jetzt ist es schlagartig da, weil wir auch direkt so einen massiven Preissprung haben. Das ist schon was, das medial natürlich sehr präsentiert wird, in jeder Talkshow kommt man nicht drum herum. Aber auch zu Recht, weil es natürlich die Leute gerade im Energiesektor; es gibt so Untersuchungen, die sagen, dass gerade an der Tankstelle fällt den Leuten ein Preissprung enorm auf. Man guckt immer an die Anzeigetafel, weiß genau, was Super, Benzin, Diesel kostet und dort ist ja gerade der Preissprung am größten.
Ja, also von daher hat sich die Wahrnehmung tatsächlich geändert. Aber was das jetzt mit der Weltwirtschaft zu tun hat, da habe ich mir auch Gedanken drüber gemacht; ob sich da der Blick geändert hat. Ich denke: ja. Wir hatten einen enormen Globalisierungsschub und das wirkte eher deflationär in den letzten Jahren. Also die Textilindustrie, alle arbeitsintensiven Tätigkeiten wurden ins Ausland verschoben und in Deutschland, in den entwickelten Staaten wurden dann eher die kapitalintensiven Schritte vollzogen. Das heißt, Produktion wurde immer billiger. Und während der Pandemie hat sich das komplett gedreht, dass man plötzlich gesehen hat: Oh, hier gibt’s doch ein Risiko in diesem neuen Modell, dass man sagt, man produziert immer billiger das Handy und das iPhone, weil’s in Asien hergestellt wird; weil plötzlich die Lieferketten zusammenbrachen und dann kam der Boomerang zurück; dass jetzt einzelne Produkte gar nicht mehr zur Verfügung standen oder nur mit enormen Preisaufschlägen. Ich glaube, die Wahrnehmung hier hat sich dann auch verändert, dass man auch hier sehen sollte, man sollte sich vielleicht auch nicht so abhängig machen und verschiedene Anbieter immer in petto haben und nicht alles nur global auslagern. Es hat sich, glaube ich, schon in den Köpfen viel getan.
Carsten Roemheld: Ja, die Tatsache, dass wir jetzt auf einige Güter warten müssen oder auch für Dienstleistungen irgendwie warten müssen, ist etwas, was nicht so gewohnt ist. Man hat wirklich durch diese Globalisierung wahrscheinlich erlebt, dass alles in Hülle und Fülle vorhanden ist und man alles sofort zu jeder Zeit an jedem Ort bekommt. Und das war vielleicht das Pro der Globalisierung, die sich jetzt so ein bisschen wieder von diesem Peak möglicherweise wegbewegt und wir uns einfach wieder auf ein paar andere Dinge einstellen müssen, die vielleicht auch angebracht sind.
Herzlichen Dank, Frau Bernoth, für Ihren Blick auf die Inflationsentwicklung. Halten temporäre Faktoren wie die Rohstoffknappheit und der Nachfrageüberschuss an, kann es noch dauern, bis die Inflation wieder verschwindet. Besonders die hohen Energiepreise und die drohende Lohn-Preis-Spirale könnten die Erhöhung längerfristig machen. Staatliche Eingriffe sind darauf nicht die universale Antwort, wobei befristete Steuersenkungen auf Strom ein geeignetes Instrument wären, sagt Frau Bernoth.
Im zweiten Teil des Podcasts sprechen wir darüber, wie die Inflationsmessung funktioniert, welche Schwächen sie hat und wie die Zentralbanken Einfluss nehmen sollten.
Wir hören uns!
Ihr Carsten Roemheld
Hinweis: Dieser Podcast wurde am 23. Februar 2022 aufgezeichnet, einen Tag vor Beginn des Krieges in der Ukraine.
Carsten Roemheld: Preisdeckelungen und Gutscheine eignen sich nicht, um die erhöhten Preise der Verbraucher auszugleichen, davon ist Kerstin Bernoth vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) überzeugt. Neben Staatseingriffen können auch die Zentralbanken die Inflationsentwicklung beeinflussen. Doch wie sollte sich die EZB in der aktuellen Situation verhalten?
Um diese Frage zu beantworten, sprechen wir im zweiten Teil des Podcasts zuerst über die Theorie hinter der Inflationsberechnung und anschließend über die Rolle der Zentralbanken. Auch, wenn ihr Handlungsspielraum hinsichtlich der Rohstoffknappheit gering ist, sollten sie gerade jetzt wachsam sein und sich auf ihr oberstes Ziel fokussieren: die Preisniveaustabilität.
Hören Sie, warum Kerstin Bernoth das für sinnvoll hält.
Carsten Roemheld: Viele haben ja eine andere Wahrnehmung von Inflation. Also die persönliche oder die gefühlte Inflation ist immer schon höher gewesen als das, was in den Warenkörben berichtet wurde. Ist das Maß, mit dem die Inflation offiziell gemessen wird, noch das richtige? Können Sie uns vielleicht ein bisschen mehr mit reinholen, was die Warenkörbe betrifft? Sind die noch am Puls der Zeit? Sind die Gewichtungen noch aktuell? Was sind so die Unterschiede zu dem „gefühlten Inflationsthema“?
Kerstin Bernoth: Ja, also wir messen Inflation bzw. worauf jetzt Zentralbanken schauen, ob sie ihr Mandat der Preisstabilität erfüllen, dafür betrachtet man den sogenannten Verbraucherpreisindex. Und das kann man sich vorstellen wie einen großen Warenkorb, wo 650 Produkte und Dienstleistungen, die Haushalte so konsumieren, drin liegen, und dann werden die gewichtet nach dem Konsumentenverhalten des Durchschnittshaushalts sozusagen. Und dieser Korb wird alle fünf Jahre angepasst, die Gewichtung, um einfach auch Einkaufveränderungen zu berücksichtigen der Haushalte. Da kann man natürlich drüber diskutieren: Reichen fünf Jahre zum Beispiel?! Jetzt während der Pandemie hat sich das Konsumverhalten auf jeden Fall verändert. Wir gehen weniger ins Restaurant, dafür hat man vielleicht mehr — weiß ich nicht — digitale Produkte gekauft etc. Aber generell sagt man, alle fünf Jahre schaut man, ob das noch so passt. Das heißt im Prinzip: Dieser Korb misst die Kaufkraft meines Geldes an immer einem gleichen Korb. Und da gibt es schon Kritik.
Zum einen, was viele immer sagen: „Ja, das misst aber doch nicht tatsächlich unsere Ausgabenbelastungen, da fehlen zum Beispiel die selbst genutzten Wohneigentümer.“ Das heißt, wenn ich jetzt Hauseigentümer bin und möchte gerne ein Haus kaufen oder eine Wohnung kaufen — die sind ja enorm gestiegen die Hauspreise, die wurden aber nicht erfasst bisher — und da sagte man zu Recht: Ein Teil der Inflation, den wir erleben, geht nicht in diesen Korb hinein. In dem Korb sind zum Beispiel nur die Mieten erfasst. Mieten sind aber nicht genauso stark gestiegen wie Hauspreise. Und das Problem hat jetzt die EZB auch erkannt und tatsächlich im letzten Sommer hat sie ihre Strategie überarbeitet und auch angekündigt, dass sie in Zukunft selbstgenutztes Wohneigentum mit in den Warenkorb hineinnehmen möchte. Aber man sucht jetzt noch nach Lösungen, wie man das am besten misst, weil der Warenkorb misst nicht Investitionskosten, sondern nur Konsumkosten.
Und wie trennt man jetzt, wenn ich jetzt ein Haus kaufe, was ist Konsum und was ist Investition?! Das versucht man noch, auseinanderzuklamüsern. Aber wir haben am DIW, da haben sich zwei Kollegen schon mal angesehen, was das für einen Einfluss auf die Inflation gehabt hätte, würde man eben dieses selbstgenutzte Wohneigentum berücksichtigen und man kommt im Schnitt auf eine Inflation, die in Deutschland um 0,3 Prozentpunkte höher gelegen hätte. Und das ist auch das, glaube ich, was die Leute fühlen: dass die Inflation eigentlich höher ist.
Carsten Roemheld: Genau! Deswegen wäre auch die Frage an Sie gewesen: Wäre es Ihrer Meinung nach sinnvoll, die Messung der Inflation zu verändern? Und Sie haben es schon teilweise beantwortet, dass man da dran sitzt. Aber was könnte aus Ihrer Sicht noch verändert werden? Um es noch ein bisschen alltagstauglicher zu machen vielleicht?
Kerstin Bernoth: Ja, also wir berechnen einen Korb, der für alle Haushalte gleich ist. Und auch hier sehen wir ja in der aktuellen Debatte, dass gerade für Haushalte in Niedrigeinkommenssektor der Anteil an Energie wesentlich höher ist relativ ihres Einkommens als für reichere Haushalte. Und das wird nicht berücksichtigt, also dass man vielleicht die Belastung oder die Preisentwicklung auch noch auf unterschiedliche Einkommenssegmente aufteilt.
Carsten Roemheld: Und nicht nur, dass der Strompreis oder die Energiepreise teurer geworden sind, die Leute sind auch noch mehr zu Hause gewesen in der Pandemie und haben deswegen noch mal einen Hebel, einen weiteren Hebel gehabt, der diese Preise für sie noch bedeutender gemacht hat. Also insofern durchaus ein paar Kritikpunkte vielleicht an der Art, wie wir Inflation messen. Wie wird denn der technische Fortschritt erfasst? Der kann ja stark preissenkend wirken, der ist ja nicht im Verbraucherpreisindex enthalten.
Kerstin Bernoth: Doch, der ist enthalten. Es gibt Berechnungen, dass man genau diesen technischen Fortschritt oder Qualitätsveränderungen von den Produkten miterfasst und demnach die Preise anpasst. Man kann sich das so vorstellen: Also heute, wenn man ein Auto kauft, kaufe ich ja fast schon die Standard-Klimaanlage im Display mit Navigationsgerät, da sind schon kleine Computer im Prinzip im Hintergrund tätig. Früher war man zufrieden mit einem kleinen Radio mit einem Drehknopf. Das heißt, die Qualität der Autos ist wesentlich besser geworden, der Wert ist aber auch dann dementsprechend höher geworden und das wird schon bei der Berechnung berücksichtigt; dass man versucht, wenn man jetzt den Warenkorb von heute mit dem Warenkorb letztes Jahr vergleicht, diese Qualitätsveränderungen und technischen Fortschritte herauszurechnen. Aber das sind Messungen, die haben immer Messfehler. Gerade bei Produkten, die starke Entwicklungssprünge mitmachen, schafft man das nicht immer — und bei sehr schnellen Sprüngen.
Carsten Roemheld: Jetzt haben wir über einige Inflationstreiber gesprochen und ich würde gerne mal eine Frage stellen zum Thema „demografische Entwicklung“. Wie wirkt sich denn die demografische Entwicklung aus Ihrer Sicht auf die längerfristige Inflationserwartung aus?
Kerstin Bernoth: Da ist man sich noch gar nicht so einig. Wir haben das neulich auch in der Gemeinschaftsdiagnose versucht zu beantworten. Es gibt da verschiedene Theorien. Eine Theorie ist, dass es erst mal so eine Übergangszeit gibt. Aber nehmen wir an, wir sind jetzt schon in einem Prozess, wo wir viele Rentner haben. Die Rentner entsparen tendenziell. Das heißt, sie sparen nicht so viel und geben mehr aus. Und das wird sich dann natürlich zinssenkend auswirken und dann auch eher inflations… — ja, also da müssen wir uns überlegen, was … — ja, wenn mehr konsumiert wird, weniger gespart wird, eher positiv auf die Inflation. Dann gibt’s aber auch die andere Theorie, dass in dem ganzen Prozess dann auch gleichzeitig die Arbeitskraft abnimmt, das längerfristige Produktionspotenzial einer Wirtschaft, was sich dann eher wieder senkend auf die Inflation auswirkt. Also da ist man sich noch gar nicht so einig, ehrlich gesagt, was das genau bedeutet. Aber auf jeden Fall wird es einen Einfluss haben.
Carsten Roemheld: Sehr gut. Kommen wir mal zu der Rolle der Zentralbanken, die ja wirklich im Zentrum auch der Marktentwicklungen stehen, die wir momentan haben; dieses Jahr stark geprägt von Zinssteigerungsfantasien, vor allem bei der Fed, aber jetzt zunehmend auch bei der EZB. Die EZB stand jetzt lange in der Kritik, dass sie sozusagen die Inflationsentwicklung mehr oder weniger ignoriert hat. Sie haben, glaube ich, in einem aktuellen Beitrag jüngst auch EZB-Chefin Christine Lagarde und EU-Kommissarin Margrethe Vestager zum Handeln aufgefordert. Was sollen die beiden Ihrer Meinung nach aktuell tun?
Kerstin Bernoth: Ja, die EZB mit Christine Lagarde als Präsidentin, die muss natürlich ihrem Hauptmandat, der Preisstabilität, nachkommen. Das ist ganz klar. Also jedwede Diskussion über — sei es Stabilität von Staatsverschuldung in den Euromitgliedern — darf überhaupt keine Rolle spielen; macht sie auch. Also das liest man nur oft, dass die EZB sich nicht traut, die Zinsen anzuheben, weil damit dann Italien Probleme kriegt und wir in die nächste Eurokrise schlittern. Diese Gedanken sind da und die sind mit Sicherheit auch in den gesamten Berechnungen der EZB bezüglich Finanzstabilität vorhanden, aber trotzdem ist das Hauptziel der EZB weiterhin Preisstabilität. Und deswegen sagen wir: „Okay, da muss sie aufpassen.“
Das Problem ist nur: Gegen kurzfristige Preissteigerungen in einzelnen Segmenten kann die EZB gar nicht so viel machen, die EZB muss mittelfristig denken. Das heißt, sie muss schauen, weil die Geldpolitik viel zu träge ist. Also, wenn man jetzt reagiert und man denkt „Okay, eigentlich ist aber in einem halben Jahr vielleicht die Krise mit Russland gelöst und die Produktionsengpässe lösen sich“ und dann plötzlich wird aber eine Straffung der Geldpolitik erst wirksam, kann das ein total kontraproduktiver Boomerang nach hinten werden. Das heißt, die EZB schaut auf die mittlere Frist und das macht es gerade so schwierig, dass man sagt: „Okay, wie geht das?“ Die Unsicherheit ist gerade enorm. Das heißt, am besten ist, was die EZB sowieso macht: zu schauen auf diese anfangs eher sektoralen Preissteigerungen. Wie fressen die sich weiter fort in die Breite, in die Wirtschaft? Also sehen wir jetzt Lohnsprünge, sehen wir da kräftigere Lohnforderungen, erhöhen auch die Produzenten nun alle auf breiter Front ihre Produkte, weil die Energie einfach zu teuer für die Produktion geworden ist oder Zwischenprodukte teurer geworden sind? Das ist jetzt etwas, wo die EZB tatsächlich schauen muss, weil das sind dann Inflationseffekte, die länger dann da sind; und mittelfristig, auch in der Langfrist, wo sie für zuständig ist. Deswegen haben wir gesagt, die EZB muss jetzt handeln, indem sie sehr wachsam ist und genau darauf achtet, wann sie einschreitet.
Und wir haben EU-Kommissarin Margrethe Vestager. Das ist im Prinzip bei der EU-Kommission die Kommissarin, die zuständig ist für Wettbewerb, weil es einfach wichtig ist, dass wir genug Wettbewerb wirklich auf allen Märkten haben, damit wir keinen Machtmissbrauch erleben in Form von höheren Preissteigerungen in einzelnen Segmenten. Im Energiebereich ist das derzeit so. Wir haben einige wenige Anbieter von Erdgas, Erdöl und die haben eine enorme Marktmacht, da kann man aber gerade nicht so viel machen. Aber, was wir in den USA jetzt beobachten, ist, dass viele Unternehmen gerade auf den Zug aufspringen und dass die Inflation eh gerade hoch ist und alle davon reden und dass sie ihre Preise erhöhen, unabhängig von gestiegenen Produktionskosten, und quasi das jetzt mitnehmen. Und diese Anzeichen zeigen sich jetzt in den USA und dagegen hilft Wettbewerb. Also wenn ich jetzt natürlich eine Dönerbude habe und sage „Hm, alle reden von Inflation, alle sind jetzt auch bereit, mehr zu zahlen, und alle verlangen höhere Löhne und ich verdoppele jetzt den Preis meines Döners einfach auch“ wird das nicht funktionieren, wenn nebenan die nächste Dönerbude steht.
Carsten Roemheld: Ja, Sie haben vollkommen recht, dass es sicherlich einige Unternehmen gibt, die die aktuelle Situation auch gut nutzen für Preissteigerungen — höher, als sie eigentlich angebracht wären. Eine Frage interessiert mich aber doch noch zum Thema „Angebotsengpässe und limitiertes Angebot“, weil wir sagten ja, die Inflation ist im Prinzip ein Resultat aus steigender Nachfrage durch größere Ersparnis nach dem Reopening und auf der anderen Seite limitierteres Angebot, was auch durch Produktionswertschöpfungsketten, die unterbrochen wurden, zustande gekommen ist. Die EZB oder die Zentralbanken können ja gar nicht so viel machen bei diesen unterbrochenen Engpässen oder bei diesen mangelnden Ressourcen, weil sie können ja nicht sozusagen Chips produzieren oder auch kein Öl aus dem Boden holen. Ist da nicht Zentralbankpolitik sowieso machtlos in diesem Teil des Inflationsgeschehens, sondern sie können eigentlich nur dann funktional eingreifen, wenn sozusagen die Nachfrage überschäumt, um dann durch den Kreditimpuls eben da wieder für einigermaßen Ordnung zu sorgen? Aber ist das Angebotsthema nicht eines, was die Zentralbanken mehr oder weniger ohnmächtig begleiten müssen?
Kerstin Bernoth: Ja, also da haben Sie vollkommen recht, dass die Zentralbank viel besser auch nach — wir nennen das „Nachfrageschocks“ — reagieren kann, wenn eben die Nachfrage enorm ist, und weniger auf sektorale Angebotsschocks von einzelnen Produkten, die eben einen Preissprung hervorrufen oder erst recht sogar Preissprünge, die eher aus Produkten, die wir importieren, herrühren; das ist noch schwieriger. Das heißt, sie kann dann eher reagieren. Wenn aber diese Preissprünge dann weitere Kreise ziehen in Form von Löhnen und Produktionskosten und so weiter oder gepaart werden, wie wir es aber auch zurzeit haben, mit sehr hohen Ersparnissen und Konsumverhalten und auch sehr laxe — „lax“ sollte ich jetzt vielleicht nicht sagen, weil die Kreditstandards der Banken sind immer noch sehr hoch — aber mit einer sehr großzügigen Kreditvergabe, das sind eher die Sachen, wo die Zentralbank darauf reagieren kann: Kreditvergabe, Konsum, Investitionsverhalten im Inland.
Carsten Roemheld: Jetzt ist hier ein Teil der großen Nachfrage und auch, glaube ich, der Inflation verursacht worden durch den großen Einfluss von Regierungen, durch Stimulierung, große Pakete — in den USA noch viel größer als hier in Europa, aber auch hier sind durch das Recovery-Programm relativ deutliche Stimulierungspakete ausgegeben worden. Glauben Sie, dass das noch eine Zeit lang sich auf Preise auswirken wird? Oder haben wir hier den Peak schon überschritten und der Inflationsdruck von diesen staatlichen Stimulierungsprogrammen lässt langsam auch wieder nach?
Kerstin Bernoth: Ja, also am Anfang waren ja diese Konjunkturprogramme da, um wegfallendes Einkommen von vielen Leuten aufzufangen. Das war sicherlich konjunkturstützend und hat den Arbeitsmarkt gestützt. Jetzt im Laufe der Zeit sind diese öffentlichen Stützungsmaßnahmen rübergerutscht eher in den Investitionsbereich. Auch hier wirken die sicherlich preistreibend. Das heißt, weil der Staat jetzt auch ins Bauwesen und so weiter eingreift durch öffentliche Investitionen in Infrastruktur etc.
Aber gerade in den USA waren diese Konjunkturpakete noch viel größer. Da hatten wir damals auch berechnet, was das für die Inflation ausmacht, und kamen schon vor einem Jahr zu Zahlen, wo man dachte: „Oh je, das kann doch nicht sein!? So viel!?“ Die US-Wirtschaft lief sehr gut, also hatte schon kaum noch irgendwie Rückstand vor einem Jahr und dann hat aber noch mal die alte Trump-Regierung und die neue Biden-Regierung Stimulationspakete obendrauf gesetzt, wo man schon dachte: „Ups, das ist aber jetzt wirklich so, dass man damit die Produktion auf ein Level hebt, wo man sagt, sie würde über der Kapazität agieren und dann eben preissteigernd wirken.“
In Europa haben wir das auch berechnet: Die Fiskalmaßnahmen sind sehr großzügig, aber natürlich auch über Zeit gestreut und geschwächt. Sie werden Einfluss haben auf die Inflation, aber da eher mild, moderat. Sobald jetzt alle Prognosen — die prognostizieren das ja schon Mitte des Jahres, wenn die Coronapandemie abebbt —, auch die europäische Wirtschaft gut laufen wird, wäre es sicherlich falsch, wenn jetzt noch mit öffentlichen Stimulusmaßnahmen weiter die Wirtschaft stimuliert wird. Das wird dann definitiv preissteigernd wirken.
Carsten Roemheld: Vielleicht noch eine letzte Frage zum Mandat der Notenbanken ganz allgemein. Sie haben vorhin gesagt, die EZB hat natürlich Preisstabilität als Mandat ganz klar im Vordergrund. Glauben Sie, dass wir in Zukunft andere oder weitergehende Mandate brauchen? Die Fed ist ja schon ein bisschen weiter, die ja auch den Arbeitsmarkt noch stark im Fokus hat. Glauben Sie, dass die Mandate der Zentralbanken sich grundsätzlich ändern? Man hat ja auch den Eindruck, dass der Kapitalmarkt und seine Entwicklung durchaus immer eine Rolle spielen. Jedenfalls ist die Transparenz deutlich größer geworden. Auch die Kommunikation ist deutlich transparenter geworden in dem Sinne, dass man den Kapitalmarkt doch möglichst auch gut guiden möchte und ihm keine großen Überraschungen bereiten möchte. Ist man da auf dem richtigen Weg bei den Zentralbanken oder glauben Sie, dass sich die Mandate der Zentralbanken längerfristig wieder ändern werden?
Kerstin Bernoth: Ich glaube, in der Vergangenheit hatte man eigentlich gelernt, dass ein klares, deutliches Mandat, ein einziges, für eine Institution das Sinnvollste ist; um eben keine Zielkonflikte zu kreieren, dass man sagt, die Zentralbank ist für Preisstabilität zuständig und nicht für Wirtschaftswachstum. In den USA stimmt es, da hat die US-Fed ein multiples Mandat; dass sie sagt, sie soll für Preisstabilität, aber gleichzeitig für Wachstum und für niedrige Arbeitslosigkeit sorgen. Das ist teilweise — na ja, teilweise — das ist ein Zielkonflikt! Weil gerade Preisstabilität, also Inflation, konträr sich entwickelt zu Wirtschaftswachstum. Und deswegen hat die EZB sich damals konkret dagegen entschlossen und gesagt: „Nein, wir haben nur ein einziges Ziel, das ist die Preisstabilität.“
Und Sie haben aber recht: Sobald Preisstabilität garantiert ist, sorgt sie auch für Wirtschaftswachstum und stabile Finanzmärkte. Aber es gibt eine klare Hierarchie und ich glaube, das ist auch gut so und sollte auch so bleiben.
Carsten Roemheld: Und wichtig ist natürlich, dass die Notenbanken unabhängig bleiben, obwohl man natürlich schon manchmal den Eindruck hat, dass gewisse politische Überlegungen durchaus eine Rolle spielen bei den Kommentierungen der Zentralbanken.
Leider sind wir jetzt schon am Ende unserer Zeit angelangt. Frau Bernoth, vielen, vielen Dank für Ihre wertvollen Informationen und Analysen, die Sie uns heute vermittelt haben. Also ich bin sicher, dass wir alle heute viel lernen konnten. Für mich selbst kann ich das auf jeden Fall schon mal festhalten.
Und herzlichen Dank auch an unsere Hörer für Ihr Interesse und vor allem auch an alle Kollegen, die kräftig zum Gelingen dieses Podcasts beigetragen haben.
Bis zum nächsten Mal. Herzliche Grüße auch im Namen aller Fidelity-Kollegen.
Ihr Carsten Roemheld.
Kerstin Bernoth: Ja, vielen Dank!
Prof. Dr. Kerstin Bernoth ist stellvertretende Leiterin der Abteilung Makroökonomie und Vize-Dekanin des Graduate Center am DIW Berlin. Sie hat 2004 an der Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn promoviert, ihre Dissertation schrieb sie über den Informationsgehalt von Vermögenspreisen.
2004 bis 2009 war Kerstin Bernoth als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Forschungsabteilung der Niederländischen Zentralbank in Amsterdam angestellt. Ihre Forschungsinteressen liegen im Bereich empirische Finanzmarktforschung, Geld- und Fiskalpolitik sowie Finanzstabilität. Seit 2015 ist sie Mitglied des Monetary Expert Panel des Europäischen Parlaments.
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Stand: Februar 2022, MK13830