Carsten Roemheld: Herzlich willkommen zum Fidelity Finanztalk. Mein Name ist Carsten Roemheld, ich bin Kapitalmarktstratege bei Fidelity International. Wir wollen uns heute einer Region widmen, die in den letzten Jahren für viel Gesprächsstoff gesorgt hat und die aufgrund der kontroversen Sichtweisen für den längerfristigen Investor sehr interessant bleiben dürfte: Die Volksrepublik China. Das Land blickt auf drei anstrengende Jahre zurück. Covid und die damit verbundene Null-Covid-Strategie der chinesischen Regierung ließen die Konjunktur einbrechen und verursachten weltweit Lieferengpässe. Menschen protestieren auf den Straßen des autokratisch geführten Regimes. Und der Handelskonflikt zwischen der Volksrepublik und den USA spitzt sich weiter zu. Jetzt, fünf Monate nach der Kehrtwende von Präsident Xis Coronapolitik, kehrt die Gesellschaft zum normalen Alltag zurück. Die Wirtschaft erholt sich, die Grenzen sind geöffnet.
Doch wie entwickelt sich das gesellschaftliche Klima nach der Wiedereröffnung des Landes? Was bleibt von den Protesten? Wie wird in Deutschland zukünftig mit Abhängigkeitsverhältnissen umgegangen, und welche Rolle wird eigentlich Europa im Machtkampf zwischen China und den USA einnehmen? Dazu haben wir uns heute einen exzellenten Gesprächspartner eingeladen. Frank Sieren gilt als einer der führenden deutschen China-Spezialisten. Über 20 Jahre war er Korrespondent für die Süddeutsche Zeitung, WirtschaftsWoche, Zeit, Handelsblatt und Tagesspiegel und hat außerdem für die Deutsche Welle gearbeitet. Seit 2021 schreibt er für das neue Startup China Table, das erste und einzige tägliche China Briefing in Deutschland. Frank Sieren lebt seit seit 1994 in Peking, länger als jeder andere deutsche Journalist. Im Oktober 2023 wird sein neues Buch "China to go" erscheinen. Und damit begrüße ich Frank Sieren und freue mich sehr, dass er den Weg in unser Kronberger Studio heute gefunden hat.
Frank Sieren: Vielen Dank, dass ich hier sein darf.
Carsten Roemheld: Wir hatten ja schon mal das Vergnügen. Deswegen sind wir beim Du, lieber Frank. Und wir wollen gleich mal mit einem Thema beginnen, das die meisten Investoren vor allen Dingen umtreibt. Die große Erwartung an die Erholung in China ist so ein bisschen verblichen jetzt, man könnte von einer gewissen Enttäuschung sprechen, nachdem er am Anfang eine gewisse Euphorie vorhanden war. Ist dieser Begriff der Enttäuschung angebracht, oder müssen wir einfach ein bisschen mehr Geduld mitbringen mit China in dem aktuellen wirtschaftlichen Zyklus?
Frank Sieren: Na ja, vielleicht war der Wunsch ein bisschen übertrieben, dass China ganz schnell nicht nur sich selbst, sondern auch die Weltwirtschaft aus der aus der Krise zieht. Aber wir haben eben jetzt gesehen, wenn so ein großer Tanker wie China mal ins Stocken kommt, dann ist eben nicht so ein einfach, ihn wieder ins Laufen zu bekommen. Wir dürfen ja nicht vergessen, dass selbst mit drei Prozent Wachstum da mal eben die Volkswirtschaft von Saudi-Arabien dazugekommen ist im vergangenen Jahr, und es eben Jahre der großen Verunsicherung gab. Da waren die Olympischen Spiele, dann die letzte Parlamentstagung, dann kam der Ukraine-Krieg, dann kam Covid mit den sehr drakonischen Maßnahmen in Shanghai, dann kam der große Parteitag, der nur alle fünf Jahre stattfindet. Dann ist auch noch einer der ehemaligen Spitzenpolitiker gestorben, der ehemalige Staatspräsident Jiang Zemin.
Das war also ein Jahr, das sehr, sehr ungewöhnlich war in den letzten drei Dekaden, wo am Ende die Leute gesagt haben: Wir wissen eigentlich gar nicht mehr, ob die Regierung noch auf ihrem pragmatischen Kurs ist oder ob sie sich in ihren ideologischen selbstgefälligen Spielen verlaufen hat. Und da haben die Menschen, die ja nicht wählen können in China, dann eine andere Methode gewählt, um ihren Unmut auszudrücken, eine viel effizientere Methode eigentlich: Sie haben einfach mal eben aufgehört, zu konsumieren und zu investieren. So ging es Ende letzten Jahres dann sehr, sehr schnell nach unten.
Zum Glück hat die Regierung das gesehen und hat dann auch relativ zügig beigedreht. Nur, wenn so ein Vertrauensverhältnis dann mal angeknackst ist, dann brauche ich eine Weile, bis Investoren sagen, das gefällt mir wieder, da mache ich wieder mit. Das heißt: Die Restaurants sind schon wieder voll, man geht wieder aus, man kriegt schon wieder keinen Tisch. Aber die großen Investitionen, da guckt man noch ein bisschen, schaut sich sozusagen die Großwetterlage an. Und es dauert auch länger als sonst, bis die Subventionen des Staates in die Verästelung dieses dann doch jetzt auch komplexen Landes durchgestellt sind. Früher war das einfacher. Heute ist das ja eine hochkomplexe Wirtschaft, eine ganz eigentümliche Mischung aus Staatswirtschaft und privater Marktwirtschaft.
Carsten Roemheld: Du hast einen sehr interessanten Punkt erwähnt und die Konsumzurückhaltung als Form des Protests beschrieben. Die Leute sind ja auf die Straße gegangen und haben die Regierung zu einem gewissen Kurswechsel bewegt. Ist das tatsächlich so, dass das Volk mehr einwirken kann auf die Regierung durch solche Formen des Protests?
Frank Sieren: Das war eigentlich immer so bei Themen, die jetzt nicht vielleicht so in unserem Mittelpunkt standen. Zum Beispiel bei der Lebensmittelsicherheit. Da gab es große Proteste. Erstaunlicherweise auch im Bereich des Datenschutzes, dort aber nicht "Staat gegen Bürger", sondern "Unternehmen gegen Bürger". Da waren die Leute verunsichert: Was machen die Unternehmen mit meinen Daten? Und da war die Regierung gezwungen, relativ schnell das europäische Datenschutzgesetz zu übernehmen. Das heißt: Die Vorstellung, dass dieses riesige Land einfach so von oben nach unten geführt werden kann, ist sicherlich naiv. Das ist ein ständiger Kampf. Und hinter diesem Kampf steht ein ungeschriebener Gesellschaftsvertrag zwischen der Bevölkerung und der Partei oder der Regierung, der besagt: Die Regierung, die Partei, schafft Wachstum. Und dafür lässt die Bevölkerung die Partei in Ruhe. Ende letzten Jahres war diese Balance nicht mehr gegeben. Und da haben die Leute gesagt: Freunde, so haben wir uns das nicht vorgestellt. Das hat jetzt überhaupt nicht das Ausmaß angenommen, dass man die Regierung hinwegfegen wollte, dass es kurz vor einer Revolution gewesen wäre. Aber Leute haben deutlich gesagt: So wie es jetzt ist, geht es nicht weit.
Carsten Roemheld: Der Regierung ist sicherlich schwergefallen, die mageren drei Prozent Wachstum im vergangenen Jahr der Bevölkerung zu verkaufen. Für dieses Jahr haben sie deutlich ambitioniertere Ziele ausgegeben, die mit fünf Prozent wahrscheinlich auch erreichbar sein dürften. Wird die Regierung in diesem Jahr tatsächlich auch mehr Stimulus einführen oder pointierten Stimulus? Oder ist sie von dem Modell der Vergangenheit, wo sie unter anderem massiv Infrastrukturausgaben gefördert haben, komplett abgekommen?
Frank Sieren: Natürlich wird es weiterhin eine Mischung sein, dass man mehr denn je marktwirtschaftliche Strukturen fördert, also Startups, aber eben auch dafür sorgt, dass die großen Monopolisten wie Alibaba oder Tencent nicht zu dick werden und Wettbewerber komplett verdrängen. Da hat man jetzt neue Gesetze eingezogen, die dafür sorgen, dass da ein marktwirtschaftlicheres Umfeld entsteht. Das ist die eine Seite. Aber die andere Seite ist eben, dass der Staat noch immer massiv eingreift, übrigens auch in die Preisstrukturen. Also das, was wir uns mit der Gaspreisbremse jetzt mühsam erarbeitet haben und was so halbwegs funktioniert, ist eigentlich ein sehr erprobtes Modell in China. Die Gaspreisbremse wurde also sozusagen aus China nach Deutschland exportiert. Wissenschaftler, darunter die deutsche Ökonomin Isabella Weber, haben das untersucht, und dann der Regierung hier vorgeschlagen.
Dazu muss man sagen, es gibt in China einfach ein entspannteres Verhältnis zwischen Markt und Staat. Der Staat sorgt sich mehr darum, extreme Veränderung abzufedern und auch mehr darum, wie er die Wirtschaft unterstützen kann. Da haben wir im Westen eher zwei Lager: Entweder heißt es bei Planwirtschaft "geht doch nach drüben", oder es gibt reine Marktwirtschaft. Und wenn dann ein Krieg dazwischenkommt, dann gehen eben alle Preise durch die Decke, man zuckt mit den Schultern und sagt, der Markt wird es schon bereinigen. Da hat China sicherlich eine ganz gute Mischung gefunden, und diese Mischung wird jetzt auch angewendet, um die Wirtschaft wieder auf Normaltemperatur zu kriegen. Aber das ist inzwischen ein großes Land mit 18 Prozent Anteil an der Weltwirtschaft. Das ist nicht etwas, was man mal ebenso an- und ausdreht oder umgekehrt.
Carsten Roemheld: Um noch mal kurz auf die Corona-Politik zurückzukommen: China ist da ja sehr schnell umgeschwenkt, was eigentlich ungewöhnlich ist für die chinesische Regierung. Wie wird denn nun eigentlich mit dem Virus umgegangen im Land? Gibt es noch Angst in der Bevölkerung? Gehen die Infektionszahlen wieder nach oben? Wie ist aktuell der Status quo? Ist das Thema vom Tisch?
Frank Sieren: Eigentlich ist es wie hier. Es gibt da keinen großen Unterschied. Es tragen relativ mehr Menschen Masken, aber das ist eigentlich in Asien immer eher mehr gewesen. Gerade geht wieder so eine kleine Welle durch Peking, aber das ist eher auf der Ebene, ich sage mal, eines Sommerschnupfens. Da werden jetzt keine Maßnahmen mehr eingeführt. Das Thema wurde Ende letzten Jahres in der Tat sehr abrupt beendet. Die Idee dahinter war, dass man so lange wie möglich die Grenzen zulässt und die Maßnahmen anhalten lässt, weil die Fachleute gesagt hatten, je länger man wartet, desto harmloser ist das Virus und desto weniger Tote gibt es. Aber irgendwann haben die Leute gesagt: Freunde der Nacht, jetzt reicht jetzt, das Maß ist voll. Und dann musste die Regierung, die das gerne noch bis März durchgehalten hätte, aufgrund der Unruhe in der Bevölkerung, aber auch aufgrund der wirtschaftlichen Zahlen, früher abbrechen als geplant.
Carsten Roemheld: Man hat ja auch auf die Impfstoffe des Westens verzichtet, damals in China. Gibt es eine Veränderung im Bereich der Impfstoff-Verabreichung? Wird das in irgendeiner Art und Weise neu diskutiert?
Frank Sieren: Nein. In der Omikron-Phase, wo es nicht mehr darum ging, Ansteckungen zu verhindern, sondern schwere Verläufe zu verhindern, hat sich ja gezeigt, dass der chinesische Impfstoff i diesem Punkt ähnlich gut ist. Insofern hat sich das Thema eigentlich entspannt, auch das Impfen. Ich weiß jetzt nicht so genau, wie es in Deutschland ist, aber es wird ja eigentlich auch hier nicht mehr diskutiert. Ähnlich ist das in China. Man ist back to normal, die Grenzen sind wieder offen. Die Visa-Ausstellung ist noch nicht ganz auf dem normalen Niveau, da gibt's noch Engpässe, wenn man nach Deutschland will oder aus Deutschland nach China. auch die Flüge sind noch nicht alle wieder da, das passiert jetzt erst im Laufe des Sommers. Aber man kommt ohne Probleme raus und rein wieder.
Carsten Roemheld: Neben den Lockdowns gab es ja noch ein anderes Bremsfaktor in China. Das war die große Regulierungsoffensive, die in den letzten Jahren stattgefunden hat. Wir haben viele Bereiche gesehen im Gesundheitswesen, im Immobilienwesen, bei den großen Internetkonzernen, wo stärkere Regulierung eingezogen hat. Das hat auch das Vertrauen der Investoren erschüttert in China. Ist die große Welle an Regulierungen jetzt erst mal vorbei? Oder was ist aus Deiner Sicht in der nächsten Zeit noch geplant?
Frank Sieren: Naja, vielleicht müssen wir uns einfach an die chinesische Art zu regulieren gewöhnen. Die unterscheidet sich ziemlich deutlich von der westlichen Art, zu regulieren. Der Westen, vor allem Europa, reguliert ja gerne mal Up-Front. Das heißt, erst wird reguliert, und dann gibt's vielleicht noch eine Innovation. Man sagt ja nicht umsonst: China produziert, Amerika innoviert, Europa reguliert. Inzwischen innoviert China auch, aber es reguliert eben auch. Nur man macht es insofern anders, als dass man die Innovation, die Unternehmen, das Geschäftsmodell erst mal relativ zügellos wachsen lässt.
Zum Beispiel: Alibaba. Da hat man am Anfang die Grenzen zugemacht für Amazon und gesagt, wir wollen da was eigenes. Aber das war fast die einzige Spielregel. Und dann wird es immer größer, immer mächtiger, und dann passiert das, was immer passiert, wenn man nicht reguliert: Es entstehen Monopole. Das war bei Alibaba auch so. Und dann hat Jack Ma den Schritt gemacht, und ich glaube nicht, dass ihm das aus Versehen passiert ist, sondern er wollte mal sehen, wo die Decke ist: Er hat ein Geschäftsmodell entwickelt, das mit Mikrokrediten über Ant Financial das chinesische Finanzsystem hätte aus den Angeln heben können. Und da hat dann der Staat gesagt, das ist jetzt ein bisschen viel, jetzt muss Jack Ma mal den Ball flach halten. Der ist ja dann zum Golfen nach Mallorca gegangen, war da wochen- und monatelang. Und die chinesische Regierung hat dann ein Anti-Trust-, also Anti-Monopolgesetz etabliert, von dem selbst internationale Spezialisten sagen, das ist State of the Art. Also das ist jetzt nicht Neo-Maoismus oder neuer Planungsstaat oder sowas, sondern eigentlich ein normales Gesetz. Da haben auch die Provinzen mitgearbeitet mit ihren Erfahrungen, internationale Fachleute. Und jetzt geht es halt weiter, und man sieht jetzt schon, Alibaba wird dann in unterschiedlichen Einheiten aufgeteilt, Ich würde aber nicht sagen, zerschlagen. Wahrscheinlich haben diese Einheiten sogar mehr Wachstumschancen denn je. Und die Wettbewerber das hat man schon im vergangenen Jahr gesehen, kommen viel besser ins Spiel. Also: Alibaba hat ein bisschen weniger Wachstum, und es lohnt sich jetzt, im Umfeld zu schauen, was da alles wächst und gedeiht.
Ähnlich hat man das gemacht im Immobilienbereich. Da ging es eher darum, wie wir das in 1970er Jahren hatten, dann auch mal mit sozialem Wohnungsbau anzufangen, zu schauen, dass die Leute nicht ihr ganzes Geld in Immobilien stecken. Da wurde dann die Zahl der Immobilien begrenzt, die Eigenkapitalquote erhöht, die Immobilienentwickler müssen mehr Geld auf der Seite haben, also alles im Grunde vernünftige Spielregeln. Die werden aber in China nicht nach einer dreijährigen zivilgesellschaftlichen Debatte eingeführt, sondern im Grunde über Nacht. Und das erschreckt natürlich internationale Investoren. Es gibt ein Sprichwort im Chinesischen: Das heißt, das Huhn schlachten, um die Affen zu erschrecken. Und das hat man gemacht. Meine Vermutung ist, das wird auch weiter so passieren. Das heißt, man muss in diesen verschiedenen Branchen als Investor so eine Durststrecke einkalkulieren. Aber das bedeutet eben - und das ist, glaube ich, der Fehlschluss gewesen bei vielen internationalen Anlegern - nicht, dass die Rallye zu Ende ist. Sie kriegt nur bessere Spielregeln, um auf Dauer verlässlicher, ohne diese großen Ausschläge, zu funktionieren. Darauf warten wir jetzt alle, dass es in diesen Branchen wieder in normale Bahnen kommt. Der Hang Seng von diesem Jahr sieht noch nicht so gut aus. Aber ich glaube, man kann doch schon mal nachkaufen, wenn man es nicht übermorgen wieder ganz schnell braucht.
Carsten Roemheld: Also die Stabilität wächst in auf jeden Fall längerfristig durch solche Aktivitäten. Man hat auch die große Kreditblase im Immobilienbereich dadurch beseitigt und das Ganze auf ein stabileres Fundament gestellt sind. Sind die großen Risiken aus dem Immobilienbereich jetzt verschwunden?
Frank Sieren: Da würde ich sagen. Und es kommt noch eine ganz neue Entwicklung hinzu: dass jetzt die internationalen Player das Asset-Management-Geschäft in China entwickeln. Es war ja ein Riesenproblem, das man im Grunde gesagt habe, man kann eigentlich seine Investments in China nur in Immobilien stecken, denn die binnenchinesischen Börsen sind noch zu glücksspiellastig, um es zugespitzt zu formulieren. Ende vergangenen Jahres war dann im Grunde die ganze Wall Street da, und auch einige große Player aus Europa, denn Ausländer können jetzt Mehrheits-Joint-Ventures aufbauen, auch Amerikaner. Weil das ein Geschäft ist, dass die Chinesen nicht so gut können. Das führt mittelfristig auch nochmal dazu, dass sich die Aktienmärkte anders entwickeln werden, aber auch, dass der Druck aus dem Immobilienmarkt rauskommt.
Generell muss man sagen: Wir reden da über ein Land mit einem durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen auf dem Niveau von Rumänien bei praktisch nicht vorhandener Auslandsverschuldung und den höchsten Devisenreserven der Welt, und bei einem trotz der Krise immer noch wachsenden Handelsbilanzüberschuss - einfach deswegen, weil es den anderen Ländern noch schlechter geht und die eben preiswerte Produkte aus China brauchen. Das heißt, wenn man diese großen Faktoren sich anschaut, große Rücklagen, Überschuss, niedrige Inflation, und diese Reformen und das niedrige Pro-Kopf-Einkommen, dann kann man eigentlich davon ausgehen, dass diese Wachstumsgeschichte noch nicht zu Ende ist. Auch wenn es gerade 20 Prozent Jugendarbeitslosigkeit gibt.
Carsten Roemheld: Vielleicht können wir da noch drauf eingehen. China hat ja erstens das Problem der hohen Jugendarbeitslosigkeit, zweitens ein demografisches Problem, was längerfristig sicherlich auch eine große Rolle spielt. Welche Maßnahmen werden in China denn eingeleitet, um diese negativen Bedingungen Herr zu werden?
Frank Sieren: Die Chinesen müssen reich werden, bevor sie alt werden. Aber, und das ist ein ganz wichtiges Aber, sie haben noch zwei große Stellschrauben. Die eine große Stellschraube ist: Wir wissen angesichts der dramatischen Digitalisierung und Automatisierung überhaupt nicht mehr, wie viel Arbeitskräfte wir in 20 Jahren eigentlich noch brauchen werden. Das heißt, die Chinesen denken schon in die Richtung: Was ist denn, wenn wir froh sind, dass wir diese ganzen jungen Arbeitskräfte gar nicht mehr versorgen müssen? Wenn die ganze Arbeit durch Maschinen und Roboter gemacht wird? Und wie kann man dann die Gewinne, die die Roboter erzielen, sozusagen zu den Alten rüber schaufeln in Form von Renten? Denn Alte an sich sind kein Problem. Arme Alte sind ein Problem, Alte, die genügend versorgt sind, die können sogar sehr, sehr wertvolle Konsumenten sein. Das ist sozusagen die eine Denkrichtung, und dann sieht die Welt schon nicht mehr so aussichtslos aus. Es muss nicht so kommen, aber es lohnt sich, in die Richtung zu denken.
Das andere Thema ist: China ist bisher kein Einwanderungsland, also macht das nicht, was die Amerikaner machen. Und das ist natürlich im Notfall durchaus möglich, dass man sagt, man öffnet die Grenzen für die Philippinen, für Thailand, für Laos, für Vietnam. Und dann kann man relativ schnell, gewissermaßen mit einem Handgriff, Entspannung schaffen. Also lange Rede, kurzer Sinn. Wir sollten uns nicht zu früh freuen, sondern uns auf die Herausforderung des Wettbewerbs China lieber einstellen, statt darauf zu hoffen, dass die Chinesen alt werden und die Kurve nicht kriegen.
Bei der Jugendarbeitslosigkeit muss man natürlich sagen, die war noch nie so hoch, von der Kulturrevolution abgesehen natürlich. Aber: Es weiß natürlich jeder, dass das nur vorübergehend ist. Das ist der große Unterschied zu einer Jugendarbeitslosigkeit in Europa mit, glaube ich, im Moment 14 Prozent, oder einer Jugendarbeitslosigkeit in Spanien mit 30 Prozent, wo niemand richtig weiß, wie man da wieder rauskommen soll. Für die jungen Leute ist das bitter, etwa allein knapp 20 Millionen Berufsanfänger, die aus dem Studium kommen. Aber die Leute wissen gut, das ist jetzt ein schwieriges Jahr, vielleicht auch zwei schwierige Jahre. Aber die Chance, dass sich das wieder senkt in dem Maße, in dem der Konsum wieder anläuft, in dem die Industrieproduktion wieder auf Normal-Temperatur kommt, die ist relativ hoch. Insofern ist die Gelassenheit bei aller Unruhe größer als im Westen.
Man muss das auch sehen bei den Immobilien. Die sind jetzt nicht stark gewachsen, die Immobilienpreise, die Verkäufe liegen auf einem Niveau von 90 Prozent dessen, was man 2019, also vor Covid hatte. Das Wachstum ist Nullwachstum. Aber wenn man fünf Jahre zurückguckt, dann sind es eben schon über 10 Prozent. Wenn man 10 Jahre zurückschaut, dann sind es 60 Prozent Wachstum. Diese Geschichte haben viele Menschen mitgemacht. Und deswegen können sie dann auch mal ein Jahr oder zwei Jahre Schwierigkeiten durchmachen. Das Land läuft dann nicht sofort in Richtung einer großen sozialen Krise.
Carsten Roemheld: Apropos Herausforderungen: Wir haben gemeinsam in unserem Podcast vor einiger Zeit über die Automobilindustrie gesprochen, und wenn wir jetzt von Wettbewerb sprechen, muss man sagen, dass die Chinesen inzwischen beim Thema Elektromobilität ganz klar vorne sind. Was heißt das denn jetzt zum Beispiel für die deutschen Automobilproduzenten? Wenn wir uns anschauen, welche Entwicklungen in China vor sich gehen, und dass viele der Elektroautos auch hierzulande, teilweise ja dort vor Ort gebaut werden. Haben die Chinesen schon die Nase so weit vorn, dass wir hier schon Schwierigkeiten am Horizont heraufkommen sehen?
Frank Sieren: Also am Horizont auf jeden Fall. Das ist eine große Überraschung. Wir haben ja alle lange das Mantra gebetet, dass die Chinesen nicht innovativ sind, sondern nur klauen und nachbauen können. Das war natürlich auch angesichts der chinesischen Geschichte ein ziemlich gravierender Trugschluss auf unserer Seite. Und es ist dann auch viel schneller gekommen, als wir gedacht haben, weil wir nicht darauf vorbereitet waren. Die Chinesen haben im Grunde Leap Frogging betrieben. Das heißt, sie haben sich gar nicht mehr dran macht, unseren schönen, hochwertigen Weltmeister-Diesel nachzubauen, sondern sind gleich in Richtung Batterien gegangen. Bei Elektromotoren war es ähnlich. Und sie haben es darüber - interessanterweise auch wieder mit Hilfe der Regierung - geschafft, die Spielregeln für den globalen Markt in Richtung E-Auto zu verändern. Die Regierung hat im Grunde einfach gesagt, ab dem nächsten 1. müssen alle Autohersteller einen gewissen und dann wachsenden Prozentsatz ihrer Produktion auf E-Autos umstellen. Das hat dann bedeutet, dass die gesamte Welt im Grunde in diese Richtung gehen muss.
Das Problem dabei ist, dass im Grunde das, was wir können, vom Kunden gar nicht mehr verlangt wird. Also Fortschritt durch Technik. Wie verhält sich das Auto bei 120 in Alpen-Serpentine und auf der Autobahn? Innengeräusche bei hohen Geschwindigkeiten? Fahrverhalten? Das alles interessiert den chinesischen Kunden nur am Rande, denn er kann auf der Autobahn maximal 120 fahren, und in der Stadt ist Stop and Go. Das heißt: Das Auto hat sich damit entwickelt zu einer rollenden Lounge, wo man von wenigen Ausnahmen abgesehen wie einem Porsche oder so gar nicht mehr merken möchte, ob man fährt oder nicht, sondern im Grunde in einem hochvernetzten Wohnzimmer sein möchte. Damit fallen auch bestimmte Qualitätsstandards weg, die wir gut können, die wir noch bauen, die aber vom Kunden nicht mehr bezahlt werden. Also der VW-Ingenieur kann natürlich sehr genau und mit Fug und Recht erklären, warum sein Auto besser ist. Nur der Kunde will das nicht bezahlen.
Da rennen wir in eine Situation hinein, dass wir zwar gute Autos produzieren, die aber nicht das liefern, was der Kunde will, und wir uns jetzt umstellen müssen zu einem Zeitpunkt, da die anderen schon mit diesen kundenorientierten Produkten auf dem Markt sind und viel kürzere Lead-Zeiten haben. Wir brauchen 48, 50, 52 Monate, um ein neues Auto herzustellen. Die Chinesen schaffen das sind unter 30. Und inzwischen haben die Autos auch ein gutes Design. Sie sehen gut aus. Und sie sind sicher. Man muss sich nur mal die Tabelle der Sicherheitsstandards anschauen auf EU-Ebene: Die haben alle fünf Sterne und stehen so westlichen Autos, weil die Kunden andere Vorstellungen haben, in nichts mehr nach. Und das wird sehr, sehr hart für uns, jetzt, unsere riesigen, unsere Autokolosse, unsere großen OEMs zu drehen und auf diese neue Marktsituation zu trimmen.
Carsten Roemheld: Ist das Problem, dass wir sozusagen das Auto von seinem jetzigen Status immer weiterentwickeln wollen und gar nicht mehr sozusagen sehen wollen, wie das Auto der Zukunft eigentlich auszusehen hat, wie du es gerade beschrieben hast? Also haben wir ein Problem damit, dass wir einfach die Dinge immer nur auf einer exponentiellen Linie nach oben schreiben, ohne dass wir uns Gedanken darüber machen, wie soll das Auto eigentlich aussehen, also ein grundlegend neues Konzept? Haben wir da einen falschen Denkansatz hier in Europa?
Frank Sieren: Ich glaube ja. Und ich glaube, der Bruch findet gar nicht so sehr statt zwischen BMW, Audi, Daimler und den chinesischen Playern statt, sondern zwischen den Mitarbeitern, die in China sind, und den Mitarbeitern, die in Deutschland sitzen. Das ist das große Problem. Die können sich das nämlich nur schwer vorstellen. Die Mitarbeiter der deutschen Autohersteller vor Ort haben nach einem Jahr natürlich verstanden, wo die Reise hingeht. Aber das dann zu transportieren und den 300-Kolben-Ingenieuren zu erklären, die da noch in Ingolstadt, Stuttgart oder München sitzen und keine Lust haben, jetzt nach Hause zu gehen: Das ist die große Schwierigkeit.
Erschwerend kommt hinzu, dass der eigentliche große Technologieschub beim Auto ja jetzt erst passiert. Das war nicht das E-Auto, sondern das ist das autonome Fahren. Das ist ein großer historischer Schritt. So wie der Umstieg von der Pferdekutsche zum Verbrenner kommt jetzt der Umstieg von einem Auto mit menschlichem Fahrer zu einem Auto ohne menschlichen Fahrer. Das wird das Auto noch dramatischer verändern, auch die Nutzungsgewohnheiten. Und da sind die Chinesen auch schon weltführend, haben die Waymos dieser Welt uns überholt. Das hat verschiedene Gründe: Sie setzen nicht so stark auf Hardware, mehr auf Bilderkennungssoftware als im Westen. Und sie testen die Autos schneller in dem unübersichtlichen Verkehr, dem südchinesischen Chaos. Da diese Algorithmen einfach nur Daten brauchen, um zu lernen, lernen die natürlich je schneller, je mehr Daten sie bekommen und je mehr Fälle und Ereignisse sie verarbeiten können. Und in Austin, Texas, oder an der Westküste ist halt der Verkehr nicht ganz so dicht. Da fahren Autos rum, die dann unter Umständen mal eine halbe Stunde keinem anderen Auto begegnen, und deswegen kommen die nicht so schnell voran.
Das ist eine dramatische Veränderung, und meinem Eindruck nach ist das nur sozusagen das erste Mal, dass sie in einer zentralen Industrie die Spielregeln verändern. Wir müssen uns darauf einstellen, dass das in anderen Industrien, in anderen Branchen auch der Fall sein wird. Das, was wir jetzt sehen, sind wahrscheinlich bei einem Pro-Kopf-Einkommen von Rumänien erst die Aufwärmübung im Bereich der Innovation. Da spielt man sich mal eben warm und hat schon beim Warmlaufen ganz neue Branchen entwickelt. Zum Beispiel die Drohnenindustrie, die aus Shenzhen kommt, mit zwischen 60 und 70 Prozent Weltmarktanteil. Da entstehen dann wiederum auch Personendrohen, die in Südchina schon im Regelbetrieb fliegen, die dann autonom fliegen.
Also: Wir haben es mit dramatischen Veränderungen zu tun, und es gibt nur eine Lösung. Wir müssen es irgendwie schaffen, wettbewerbsfähig zu bleiben. Sanktionen, Bashing, die Chinesen schlechter machen, als sie sind, schafft vielleicht ein bisschen Luft, aber nachhaltig ist es nicht. nur, wenn wir wettbewerbsfähig sind, nur wenn wir mithalten können, dann spielen wir noch eine Rolle, auch in dem Bereich, wo es darum geht, eine neue Weltordnung zu definieren.
Carsten Roemheld: Dazu kommen wir gleich. Noch eine letzte Frage zum Thema Wirtschaft. Und der Übergang, die technologische Transformation, bedingt ja auch eine Menge an Halbleitern, und da ist ja ein Bereich, in dem China noch nicht ganz auf dem Stand ist, wie die westliche Welt versucht. Der USA versuchen ja, durch Sanktionen eben gerade in dem Bereich China etwas abzuschneiden von den Entwicklungen. Wie weit ist China hier weg von einer eigenen Entwicklung der Halbleiter, die sie brauchen?
Frank Sieren: Also, da muss man unterscheiden: Die besten Chips der Welt haben sie schon, aber sie können sie nicht selbst massenweise herstellen. Also, die Entwicklungen sind da, und die Produktionsstraßen bestehen aber aus amerikanischer Software und europäischen Maschinen, Optiken von Zeiss, das können die Festlandschinesen noch nicht. In Taiwan ist das anders. Nur, an diese Maschinen kommen die Chinesen aufgrund der amerikanischen Sanktionen derzeit nicht ran. Das heißt, sie versuchen jetzt mit aller Kraft, eigene Maschinen und eigene Software zu entwickeln. Ich kann das schlecht beurteilen, weil ich nicht wirklich ein Fachmann in dem Bereich bin. Aber vielen nennen als Zeithorizont, dass sie das in vier bis fünf Jahren schaffen werden. Manche sind sogar optimistischer. Und dann können sie eben ihre eigenen Chips herstellen.
Und dann sind Sanktionen wahrscheinlich endgültig ein Eigentor, weil sie im Grunde dazu geführt haben, dass die Chinesen sich schneller als geplant auf eigene Beine stellen müssen. Wenn es die Sanktionen nicht gegeben hätte, hätten sie wahrscheinlich noch viel länger von amerikanischen Unternehmen Produktionsmaschinen und Software gekauft. Dem haben Donald Trump und sein Nachfolger Joe Biden ein Ende bereitet. Aber am Ende funktioniert das nicht. Man sieht es jetzt. Die Amerikaner haben ja, vor 2019 das glaube ich, die Chinesen von Oracle abgeklemmt. Die beiden wichtigsten Unternehmenssoftwares sind SAP, ganz stark im chinesischen Markt, und Oracle, als die beiden Softwares, mit denen man Unternehmen organisiert. Nun haben die Chinesen mit Huawei vor drei Wochen ein eigenes System auf den Markt gebracht, und da legen die internationalen Fachleute die Ohren an. Auch da sind sie überhaupt erst auf die Idee gekommen, nachdem sie vom internationalen Supply abgeschnitten worden sind.
Also die Antwort lautet: Ja, man gewinnt ein bisschen Zeit. Aber am Ende wäre es besser gewesen, langfristig zusammenzuarbeiten und sich sogar noch sozusagen enger zu verzahnen und den Weg zusammenzugehen, als zu versuchen, China auszuschließen.
Carsten Roemheld: Was bedeutet das jetzt auf der geopolitischen Ebene? Wir haben gewisse Spannungen beobachten können, die sich eher verschärft haben in den letzten Jahren. Wenn ich jetzt davon ausgehe, dass China vielleicht das letzte Stückchen Abhängigkeit vom Westen, dann irgendwann vielleicht auch selbst zur Verfügung hat, wenn es so kommt, in drei, vier, fünf Jahren, wo stehen wir dann geopolitisch? Müssen wir dann mit einer noch schärferen Rivalität rechnen, weil die Chinesen sich natürlich daran erinnern, wie die Sanktionen gewirkt haben? Oder wie wird sich das auf die Geopolitik insgesamt auswirken?
Frank Sieren: Naja, erst einmal stehen die Chinesen nicht allein da, das muss man wissen. Sie arbeiten immer enger mit Südostasien zusammen, mit RCEP, der größten Freihandelszone der Welt. Das bedeutet, dass sie sich eine Alternative aufbauen zum Westen. Diese Alternative haben wir nicht in dem Maße, weil wir keine Nachbarmärkte haben, die wir ausbauen können. Wir Europäer haben gerade sogar Riesenprobleme, um es ganz vorsichtig zu formulieren, mit einem unserer großen Nachbarmärkte. Also wir haben diese Auswege nicht. Und - und das ist die zweite große und vielleicht auch überraschende Entwicklung - die Aufsteigerländer arbeiten immer enger zusammen und schließen sich gegen den etablierten Westen zusammen.
Inzwischen ist es schon so, dass BRICS, also Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika, wirtschaftlich stärker sind als die G7-Staaten und mit 40 Prozent der Weltbevölkerung viermal so viel Menschen vertreten. Also, wenn man nach unserer Spielregel gehen würde, One-Man-One-Vote, hätten die G7-Staaten eigentlich gar nichts mehr zu sagen, sowohl wirtschaftlich als auch von der Mitbestimmung her gesehen.
Und die Entwicklung ist eben nicht so, wie wir gehofft hatten, dass sich die autoritären Systeme auf der einen Seite und die demokratischen Systeme auf der anderen Seite zusammenschließen und es so zwei Blöcke gibt. Sondern das gemeinsame Gefühl der Aufsteiger, in der Mehrheit die Minderheit des Westens jetzt auszuhebeln, der über Jahrhunderte lang die Spielregeln bestimmt hat, dieses Gemeinschaftsgefühl ist viel stärker und führt dazu, dass ich die Aufsteigerländer über so unterschiedliche politische Systeme wie in Indien, größte Demokratie der Welt, oder eben China, größte Diktatur der Welt, größtes autoritäres System der Welt, dann immer enger zusammenschließen und bei den internationalen Treffen auch immer mehr den Ton angeben.
Bei G-20 hat der Westen inzwischen die Mehrheit verloren und kriegt seine Weltsicht nicht mehr durch. Und das ist ganz wichtig für uns zu wissen, vor allem weil es inzwischen so ist, dass wir nur noch die Werte der Weltordnung mitbestimmen können, wenn wir wirtschaftlich stark sind, sonst redet niemand mit uns. Also es heißt nicht Werte oder Wirtschaft, sondern eine starke, international wettbewerbsfähige Wirtschaft ist die Voraussetzung, dass wir überhaupt noch an den Tisch gebeten werden, wenn es um die neue Weltordnung geht. Früher hat uns der Tisch gehört, da haben wir bestimmt, wer da dran sitzt, erst die Europäer, später die Amerikaner. Diese Epoche ist wahrscheinlich ein- für allemal vorbei.
Carsten Roemheld: Es läuft auf eine multipolare Weltordnung hinaus, wie Du es auch schon bezeichnet hast. Aber welche Rolle spielt Europa jetzt tatsächlich in der ganzen Gemengelage? Europa ist ja ein bisschen hin und hergerissen. Die wirtschaftliche Abhängigkeit von China ist relativ ausgeprägt, die kulturellen Gemeinsamkeiten mit den USA sind natürlich auch unzweifelhaft. Muss sich Europa in irgendeiner Art und Weise entscheiden auf Dauer? Also kulturell gesehen ist Europa klar auf der Seite der Amerikaner. Aber wie wird sich das auf die Beziehung mit China auswirken, vor allem mit der wirtschaftlichen?
Frank Sieren: Ich glaube, Europa muss sich nicht entscheiden, sondern noch etwas viel Grundlegenderes tun: Europa muss sich erst einmal überlegen, was es eigentlich möchte, welche Interessen es hat. Man muss sich überhaupt erst einmal auf einen gemeinsamen Weg einigen. Das ist bisher nicht passiert. Und da haben wir bei aller kulturellen Nähe, Dankbarkeit und Freundschaft gegenüber den Amerikanern durchaus andere eigene Interessen als die Amerikaner. Wir haben auch andere und eigene Interessen als die Inder, auch wenn die Inder eine Demokratie sind. Wir haben andere Interessen als die Chinesen. Aber umgekehrt haben wir auch gemeinsame Interessen mit all diesen Ländern.
Was wir machen müssen: Wir müssen uns darüber klar werden, wo wir hinwollen, und dann müssen wir im Grunde wie die FDP in Deutschland Koalitionspartner für unsere Vorstellungen und unsere Ideen suchen, um unsere Interessen möglichst gut vertreten zu bekommen. Das geht nicht ohne Kompromisse, das ist klar. Aber es ist so: Je länger wir warten, hin und her geworfen werden und hin und her gerissen sind, desto mehr verlieren wir Zeit in dieser neuen multipolaren Weltordnung, die sehr wahrscheinlich kommen wird, unsere eigenen Claims abzustecken.
Deswegen bin ich sehr besorgt, auch angesichts dieser werteorientierten Außenpolitik, die wir in Deutschland derzeit haben, die eben nicht verstanden hat, dass der Rest der Welt nicht mehr das tun möchte, was Deutschland vielleicht aus guten Gründen für richtig hält. Und je mehr man ruft, die aufsteigenden Länder müssen sich an die regelbasierte internationale Weltordnung halten, desto mehr kommt der Ruf zurück. Aber das ist eure Ordnung und nicht unsere. Das heißt, der Text müsste eigentlich lauten: Wir haben verstanden, die Minderheit des Westens kann die Spielregeln der Welt nicht mehr bestimmen, also lass uns zusammensetzen und eine multipolare Weltordnung schaffen. Wir, die Europäer, haben dabei diese und jene Vorstellungen im wirtschaftlichen, aber auch im gesellschaftlichen und im Wertebereich.
Carsten Roemheld: Das heißt, der moralische Zeigefinger sollte einfach unten bleiben, sollte beiseitegelassen werden? Oder wie geht man mit den Dingen um?
Frank Sieren: Nein, nein. Wir tun immer so, als wüssten wir, wie es richtig geht, und die anderen müssten uns folgen. Nein, wir sind von bestimmten Werten überzeugt, und diese Überzeugung sollen wir auch vertreten. Aber wir können eben nicht mehr zwingen. Wir müssen überzeugen. Am besten überzeugen wir übrigens, indem wir selbst vorbildlich sind. Da haben wir auch noch ein bisschen was zu tun. Da müssen wir uns auch mal darüber nachdenken, wie kann man denn eine Demokratie modernisieren, ohne da rauszukommen, wo die Chinesen jetzt sind? Da wollen wir ja nicht hin. Aber auch diese Debatte wird nicht so richtig geführt. Sondern dann kommt gleich der Ruf, dann geh doch nach drüben, wenn einer sagt, das funktioniert nicht so richtig, und da müssen wir realistischer werden.
Es hilft nichts: Wenn wir so weitermachen, sowohl wirtschaftlich, wo wir auf unseren Autos bestehen, als auch wertemäßig, wo wir auf unseren Standpunkten bestehen, wenn wir da nicht flexibel sind, dann werden wir uns immer mehr isolieren, wir werden immer mehr uns von der Mehrheit entfernen, und unser Machtspielraum wird dadurch nicht größer, sondern geringer.
Carsten Roemheld: Und wie steht es mit der wirtschaftlichen Abhängigkeit von China aus, die im Moment relativ deutlich ausgeprägt ist? Wie sollen wir damit umgehen? Sollten wir in Zukunft breiter diversifizieren, uns einfach insgesamt globaler orientieren? Oder sollten wir versuchen, mit dem Spieler China angesichts seiner sehr bedeutenden ökonomischen Rolle in Zukunft zu sprechen?
Frank Sieren: Selbstverständlich beides. Wir haben ja ein Jahr gebraucht, um zu verstehen, dass Decoupling nicht funktioniert. Irgendwann haben wir dann einen Price-Tag dran gemacht, also haben wir dann verstanden, dass uns das wahrscheinlich 20 bis 30 Prozent Inflation bringt. Da hat dann die Bevölkerung gesagt, wollen wir jetzt gerade nicht, wir haben schon 8 Prozent. Nein, wir müssen natürlich beides machen. Jetzt haben wir da diesen etwas schwammigen Begriff, De-Risking geformt. Das ist ja irgendwie alles oder nichts. Ja, klar müssen wir unsere Risiken auf möglichst verschiedene Länder verteilen.
Aber auch da müssen wir wieder realistisch sein und eben anerkennen, dass der chinesische Markt, man kann auch sagen, leider, nun mal ein so einzigartiger Markt ist mit 18 Prozent Anteil an der Weltwirtschaft, mit einem riesigen Wachstumspotenzial, das im Grunde nicht nur China ansteckt, sondern die ganze Region drumherum. Davon haben wir ja auch profitiert und können wir auch weiter profitieren. Aber es hat eben alles seinen Preis. Und der Preis besteht in dieser wahrscheinlich sogar noch zunehmenden Abhängigkeit.
Wir werden nicht von heute auf morgen 20, 30 Prozent unseres Chinageschäftes woandershin transportieren können. Das geht nicht. Das heißt, das ist ein Grund mehr, sich mit den Chinesen zusammenzusetzen und zu verständigen, gemeinsame Ziele zu suchen, zu erklären, schaut mal mit euren Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang, in Hongkong, das ist entspricht nicht unseren Wertvorstellungen. Aber zu sagen, wir reden erst wieder mit euch, wenn ihr euch benehmt und überziehen euch so lange mit Sanktionen, das ist vielleicht nicht der richtige Weg. Vielleicht kann man besser sagen: Wir haben auch Sorge vor islamistischen Terrorismus, aber wir gehen sehr unterschiedlich mit dem Phänomen um. Lass uns doch mal zusammensetzen und überlegen, was man gemeinsam machen kann, um dieses Risiko zu minimieren. Das mag manchem naiv vorkommen. Ich sehe aber leider keinen besseren Weg, als es zu versuchen, mit den Chinesen trotz ihrer unterschiedlichen Vorstellung so gut wie möglich klarzukommen.
Carsten Roemheld: Lass uns am Schluss noch mal einen kleinen Ausblick wagen nach vorne. Wir bei Fidelity sind überzeugt, dass das Jahrzehnt hier eine Dekade der asiatischen Schwellenländer werden wird. Vom Wachstumspotenzial und ähnlichen Dingen mal ausgehend. Frage eins: Würdest Du dem zustimmen? Frage zwei: Wie sieht es auf der anderen Seite geopolitisch aus? Werden sich die Spannungen über die nächsten zehn Jahre eher verschärfen? In der Welt wird die Weltordnung auf eine neue Probe gestellt? Oder siehst Du, dass wir uns in einer Phase vielleicht doch hoffnungsvoller, neue Entspannung zubewegen?
Frank Sieren: Na ja, das ist eine schwierige Frage. Erster Teil der Frage, ja, selbstverständlich. Da weisen eigentlich alle wirtschaftlichen Zahlen darauf hin, dass die Musik in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren mehr und mehr in Asien spielen wird. Die Frage ist, gibt es zunehmende Spannung? Das ist wirklich schwierig zu beantworten.
Man muss generell sagen: Gefährlich sind immer die Absteiger, nicht die Aufsteiger. Obwohl uns das intuitiv bei China anders erscheint. Aber man kann natürlich mit 18 Prozent Anteil an der Weltwirtschaft und einem Wachstum von, ich sage mal, 4 bis 5 Prozent entspannter sein, als wenn einem gerade die Felle als Weltmacht wegschwimmen. Dazu muss ich sagen, dass eigentlich die Amerikaner, und das wird Dich erstaunen, am Ende doch eine ganz pragmatische Herangehensweise haben. Sie legen politisch den Finger in die Wunde und drehen auch mal den Finger, damit es schön wehtut.
Aber ich halte die Wahrscheinlichkeit, dass die USA einen Krieg um Taiwan provozieren werden, für relativ gering. Wenn man sich mal überlegt, da werden 60, 70 Prozent der Halbleiter produziert, dann würde die gesamte Weltwirtschaft lahm liegen. Das will keiner. Auch die Chinesen sind nicht so unter Druck, das ist auch der große Unterschied zu Wladimir Putin, dessen Land irgendwo im 20. Jahrhundert steckengeblieben ist. Insofern sehe ich schon harte politische Kämpfe, durchaus bei Joe Biden und Präsident Xi, die sich ja glücklicherweise aus ihrer Zeit als Vize-Präsidenten schon lange kennen. Aber ich sehe jetzt nicht das Risiko, dass das zu einem Krieg eskaliert, oder jedenfalls kein großes Risiko.
Und wenn man sieht, wie pragmatisch die Amerikaner sind, unterhalb der politischen Schwelle: Alle 15 Stunden macht in China ein Starbucks auf. Tesla ist sehr erfolgreich. Jetzt zieht das gesamte Asset Management ein, ich habe es eben ja schon erwähnt. Das sind Milliarden-Geschäfte, die mit den Mehrheits-Joint-Ventures gemacht werden. Das heißt, ich würde zusammenfassend sagen, sind die Amerikaner am Ende pragmatischer in der Mischung: Große politische Hitze und pragmatische Zusammenarbeit - vielleicht müssen wir als Europäer ein bisschen davon lernen.
Generell muss man sagen: Je enger die Weltwirtschaft verzahnt ist, desto riskanter ist ein unilateraler Alleingang, von wem auch immer. Das ist die einfache Spielregel. Und deswegen ist es tendenziell besser, sich möglichst eng zu verzahnen, gemeinsame Spielregeln zu entwickeln, auch mal zuzugeben, dass die globalen Institutionen vielleicht nicht mehr der Weltlage entsprechen und dass die Engländer oder die Franzosen im UN-Sicherheitsrat eigentlich angesichts von Ländern wie Brasilien oder Indien nichts mehr zu suchen haben. Dass wir in den Internationalen Währungsform reformieren müssen. Und darüber eine engere Verzahnung bekommen. Eine Garantie ist es nicht, es kann natürlich immer etwas schief gehen, wir haben es ja in Russland gesehen. Da hätte, glaube ich, kaum jemand geglaubt, dass Putin das wirklich probiert.
Nur: Wenn es einen Krieg um Taiwan gibt, das ist die einzige Trost - und es ist kein wirklicher Trost -, dann steht alles still. Dann steht die gesamte Weltwirtschaft still. Dann ist es auch egal, welches Risikomanagement ich als einzelnes Unternehmen oder einzelner Investor gemacht habe. Dann sitzen wir alle in der Falle. Aber wie gesagt: Wenn ich mich festlegen müsste, würde ich eher sagen, das ist eine unwahrscheinliche Variante.
Carsten Roemheld: Damit haben wir es doch geschafft, am Ende noch so eine gewisse positive Ausleitung zu bekommen. Einerseits die Unwahrscheinlichkeit eines eskalierenden Konflikts, andererseits die wirtschaftliche Stärke in Asien hervorzuheben; das, was in China in den nächsten Jahren entstehen wird und in den asiatischen Ländern drum herum. Das ist sicherlich sehr beeindruckend, und man kann dem Investor nur empfehlen, sich entsprechend auch daran zu beteiligen.
Frank Sieren: Und ganz wichtig ist: Die Investoren müssen Druck machen. Wir müssen unsere Hausaufgaben machen. Es liegt nicht an China, China geht seinen Weg. Wir werden China nicht ändern. Wir entscheiden selber, wie gut wir sind oder wie schlecht wir sind. Und wenn wir das nicht hinkriegen, dann nützt es auch nichts, um Level Playing Field zu jammern oder zu sagen, die Chinesen sind unfair. Wenn wir wettbewerbsfähige Produkte herstellen, wenn wir unsere Kinder so ausbilden, dass sie international wettbewerbsfähig sind, wenn wir so regulieren, dass wir international wettbewerbsfähig sind, dann haben wir nach wie vor eine große Chance, in dieser neuen multipolaren Weltordnung eine zentrale Rolle zu spielen.
Carsten Roemheld: Ein hervorragendes Schlusswort und ein Aufruf an die Politik, auch die Dinge entsprechend umzusetzen. Wie gesagt, im Oktober 23 wird Dein neues Buch erscheinen: "China to go". Wer sich mit Frank Sieren vernetzen möchte, der kann gerne über LinkedIn gehen. Dort postet er zweimal die Woche zu aktuellen politischen und wirtschaftlichen Fragen. Insofern: Verbinden Sie sich mit ihm. Vielen Dank für Ihr Interesse. Wir sehen uns beim nächsten Finanztalk und, wenn Sie mögen, in der Zwischenzeit bei anderen Formaten, die wir für Sie bereitstellen.
Herzliche Grüße hier aus dem Kronberger Studio, Ihr Carsten Roemheld!