Carsten Roemheld: Vor mehr als einem halben Jahr startete die russische Invasion in der Ukraine. Wir sind seither Zeugen eines Krieges mitten in Europa, dem wir einigermaßen fassungs- und hilflos zusehen. Zu den dramatischen Kriegsfolgen gehört auch, dass der Krieg den ohnehin grassierenden Hunger in der Welt noch verschärft hat. Denn Russland und die Ukraine gehören zu den größten Weizenproduzenten der Welt. Fast ein Siebtel der Weltproduktion an Weizen stammt aus diesen beiden Ländern. Am Welthandel hatten beide zusammen zuletzt sogar einen Marktanteil von über 26 %. Anders gesagt: Jeder vierte Sack Weizen, der auf dem Weltmarkt zu kaufen war, stammte vor dem Kriegsausbruch aus der Ukraine oder aus Russland.
Länder wie der Jemen oder Somalia sind nahezu vollständig auf Weizen aus der Region angewiesen. Und nun haben Exportverbote für Russland, zerstörte Speicher, verminte Felder und die monatelang blockierten Seewege die Ausfuhren einbrechen und die Preise explodieren lassen. Vor allem in Afrika nehmen seither die Versorgungsengpässe zu. Der Krieg wirft damit ein Schlaglicht auf den prekären Zustand der Welternährung und zeigt uns dramatisch auf, dass wir schnell und substanziell umsteuern müssen.
Das sagt meine heutige Gesprächspartnerin im Podcast, Dr. Lisa Pörtner. Sie ist Medizinerin an der Charité in Berlin. Nach langjähriger klinischer Tätigkeit ist sie aktuell als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Arbeitsgruppe ‚Klimawandel und Gesundheit‘ der Charité und des Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung tätig und forscht dort zu gesunder und nachhaltiger Verpflegung an Gesundheitseinrichtungen. Zudem ist sie bei der Deutschen Allianz Klimawandel und Gesundheit KLUG e.V. für den Bereich ‚Ernährung und Planetary Health‘ zuständig.
Kurz nach Kriegsbeginn hat Lisa Partner gemeinsam mit anderen hochrangigen Wissenschaftlern einen dramatischen Appell veröffentlicht. Die Autoren fordern darin eine umfassende Umstellung der Nahrungsmittelversorgung, um die Welternährung langfristig und nachhaltig zu sichern. Wie also erreichen wir eine gerechtere Verteilung der Nahrungsmittelressourcen in der Welt? Was droht, wenn uns das nicht gelingt? Und welche Rolle spielen dabei die großen Nahrungsmittel Produzenten?
Heute ist der 6. Oktober 2022, mein Name ist Carsten Roemheld und ich bin Kapitalmarkt-Stratege bei Fidelity International. Ich freue mich sehr auf das Gespräch mit Lisa Pörtner.
Herzlich willkommen beim Kapitelmarkt-Podcast von Fidelity, Frau Dr. Pörtner.
Lisa Pörtner: Ja, vielen herzlichen Dank für die Einladung.
Carsten Roemheld: Wir fangen mal an mit einem Positionspapier, was Sie vor einiger Zeit veröffentlicht haben, an dem Sie auch maßgeblich mitgewirkt haben. Und dort haben Sie einen dramatischen Appell veröffentlicht. Was war denn der zentrale Auslöser dafür?
Lisa Pörtner: Ja, also wie Sie eben ja schon geschildert haben, ist es so, dass bereits in den Wochen nach dem Krieg relativ schnell offensichtlich wurde, dass dieser Krieg nicht nur dramatisch ist aus menschlicher Sicht und eine humanitäre Katastrophe ausgelöst hat, sondern dass es auch einen dramatischen Schock bedeutet hat für den Energiemarkt, aber dann eben auch für den Nahrungsmittelmarkt. Weil, wie Sie das eben schon gesagt haben, die Ukraine und Russland eben ja auch wichtige Produzenten sind, wichtige Lieferanten von Getreide und Ölsaaten für den Weltmarkt.
Und es ist eben so, dass diese drohende Nahrungsmittelkrise offensichtlich geworden ist. Und die politischen Reaktionen, die darauf geäußert wurden, beispielsweise insbesondere ja auch auf der EU-Ebene, waren eben dieser Ruf nach dieser ausfallenden Produktion in der Ukraine und in Russland: Die müssen wir jetzt aufholen. Also wir müssen jetzt quasi Umweltauflagen abschwächen in der EU und hier mehr Getreide und mehr Ölsaaten zu produzieren.
Und was nicht passiert ist, und zwar das, was wir eben stark kritisieren und warum wir uns auch zusammengesetzt haben und gesagt haben, wir müssen uns dazu jetzt äußern, ist, einmal einen Schritt zurückzutun und sich das Ernährungssystem anzuschauen, wie es denn jetzt auch vor dem Krieg schon existierte, und zu schauen, ist dieses System denn ein System, das wir so aufrechterhalten sollten. Und wenn man das tut, also diesen Schritt zurücktut, dann sieht man, dass dieses System an sich sowieso auch schon keine Zukunft hat, weil es ein ungerechtes System ist, ein ungesundes System, ein umweltschädliches System und ein System, das tatsächlich sogar auch auf Dauer unsere Ernährungssicherheit bedroht.
Und diese Reflexion ist nicht erfolgt und von daher sind eben diese kurzfristigen politischen Handlungsansätze oder Entscheidungen getroffen worden, also eine kurzfristige Erhöhung der Produktivität auf Kosten der Umwelt, um diese Lücken zu füllen, die eben durch den Krieg entstanden sind. Und aufgrund dessen haben wir eben diesen Appell, dieses Statement geschrieben, das jetzt auch von über 600 internationalen Expert*innen mitunterzeichnet wurde, in dem wir eben zu einer umfassenden Transformation des Ernährungssystems aufrufen.
Carsten Roemheld: Wenn wir da ein bisschen mehr ins Detail gehen würden: Was sind denn genau Ihre Forderungen und was sind Ihre Botschaften, die daraus hervorgehen?
Lisa Pörtner: Also die Botschaften sind im Prinzip einmal diese Problemanalyse, die wir machen, in der wir aufzeigen, dass in diesem Ernährungssystem, in diesem globalen Ernährungssystem, das wir ja mittlerweile haben, dass es ein extrem ungerechtes System ist. Das heißt, wir haben steigende Zahlen von hungernden Menschen, mittlerweile fast 10 % der Weltbevölkerung, die von chronischem Hunger betroffen sind, jedes fünfte Kind weltweit, das unterernährt ist – diese massive Ungerechtigkeit.
Auf der anderen Seite haben wir ja das Problem dann der zunehmenden Gesundheitsprobleme in den reicheren Ländern. Also zunehmende Zahlen an Menschen, die übergewichtig sind, mehr als 2 Milliarden mittlerweile an Menschen, die übergewichtig sind, mit steigenden Zahlen und mit entsprechenden Folgeerkrankungen: Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Stoffwechselerkrankungen, Krebserkrankungen. Das heißt, dieses System sorgt nicht für eine gute Gesundheit der Menschen weltweit.
Und unser Ernährungssystem trägt eben maßgeblich zur globalen Umweltzerstörung bei. Und das ist ja ein Problem, das immer offensichtlicher wird. Unser Ernährungssystem ist ein relevanter Treiber der Klimakrise, der Zerstörung natürlicher Lebensräume, damit auch einer der relevanten Treiber des massiven Artensterbens, das wir aktuell erleben, und damit überhaupt nicht zukunftsfähig. Und das stellen wir eben in unserem Statement dar und fordern eben diese umfassende Transformation, die im Wesentlichen drei Hauptpunkte beinhaltet:
Es ist zum einen eben der Wechsel des Ernährungsverhaltens weg von einer Kost, die global ja immer stärker auch auf tierischen Produkten basiert, hin zu stärker pflanzenbasierten Ernährungsweisen. Das ist der erste zentrale Hebel. Der zweite zentrale Hebel ist die Reduktion der Lebensmittelabfälle. Wir verschwenden ja weltweit circa ein Drittel aller Lebensmittel, die produziert werden; das heißt, die fließen überhaupt nicht in die Nahrungsmittelkette ein. Und der dritte relevante Hebel ist eben, dass wir weg müssen von einer Landwirtschaft, die eben beiträgt zur Klima- und Umweltkrise hin zu einer naturpositiven Landwirtschaft, die eben zu Natur- und Umweltschutz beiträgt.
Carsten Roemheld: Das klingt ja alles sehr einleuchtend und vollkommen nachvollziehbar. Wie ist denn die Resonanz gewesen auf Ihr Papier, wenn ich das mal fragen darf?
Lisa Pörtner: Also die Resonanz in wissenschaftlichen Kreisen war sehr, sehr positiv. Ich sagte es ja gerade: Wir haben innerhalb kürzester Zeit über 600 Unterschriften quasi sammeln können für diesen Aufruf. Die Presseresonanz war zum Teil zeitverzögert, aber schon auch sehr deutlich. Also es war schon ein relevanter Beitrag zu der Diskussion, die geführt wurde. Leider ist es so, dass relevante Adressaten – und das war ja für uns auch die Politik, die haben wir ja eben gewarnt, eben auch vor der Abschwächung der Umweltvorgaben – und da ist es ja nur bedingt angekommen.
Carsten Roemheld: Das scheint ja überhaupt ein größeres Problem zu sein, aus meiner Sicht ganz generell mit sehr nachvollziehbaren Forderungen, die sozusagen die Langfristigkeit von bestimmten Zielen beinhalten; dass in der politischen Welt sozusagen durch diese Einschränkung auf Legislaturperioden und sozusagen „in meiner Amtszeit mache ich dies und jenes“, aber diese ganz langfristige Planung, dass sie leider ein Stück weit irgendwo immer wieder zurückweichen muss, wenn es andere Probleme gibt.
Das ist, glaube ich, ein großes Problem, was auch bei Ihnen wahrscheinlich vorherrschen wird, dass die politischen Akteure einfach nicht dieses langfristige Handeln, was sinnvoll wäre, frühzeitig genug beginnen, weil sie immer nur mit Problemen operieren, die direkt vor ihnen liegen und die ihre eigene Legislaturperiode umfasst. Das dürfte doch das größte Problem sein allgemein an der politischen Umsetzung solcher Ziele!?
Lisa Pörtner: Genau, das ist ein ganz, ganz wichtiges Problem. Und das, was Sie ansprechen, ja, das ist ja auch das, was wir ganz klar hervorheben: dieses kurzfristige Denken und diese Konzentration auf kurzfristige Krisen. Das haben wir ja auch gesehen mit der Covid-Pandemie, das war ja die erste kurzfristige Krise. Jetzt kommt der Krieg und dabei wird dann außer Acht gelassen, dass wir im Hintergrund aber sehr viel größere dramatische Krisen haben, bei denen es wirklich auch an unsere Lebensgrundlagen geht, nämlich die Klimakrise und der Biodiversitätsverlust, der massive.
Und dann wird immer kurzfristig so getan: „Ach, wir haben jetzt das Problem, das lösen wir jetzt hier vordergründig, die anderen Krisen schieben wir auf die Bank.“ Und das funktioniert eben einfach nicht. Also mit der Natur kann man nicht verhandeln auf diese Art und Weise, sondern im Gegenteil, was ja passiert, wenn wir uns immer so kurzfristig nur auf das konzentrieren, was akut vorliegt, und die dahinterliegenden Krisen ignorieren:
Erstens: Wir verschärfen diese zugrunde liegenden Krisen. Also wenn wir jetzt sagen, wir schwächen die Umweltvorgaben ab, dann verschärfen wir die Umweltkrise. Das ist einfach ein Riesenproblem. Aber das ist leider sehr zentral im politischen Denken. Was da alles die Gründe sind, sind sicherlich die Legislaturperiode, sicherlich aber auch sehr starke Lobbyeinflüsse. Also die Lobby, die eben profitiert von dem Status quo und die nicht möchte, dass sich das ändert.
Und das Problem ist aber einfach, dass, wenn wir so reagieren, schlingern wir nur noch von einer Krise zur nächsten. Wir kommen wirklich in einen Teufelskreis. Wir blicken ja jetzt schon in ein Jahrhundert der Krisen. Und wenn wir es nicht schaffen, umfassend zu denken und alle Krisen gemeinsam anzugehen, dann kommen wir aus diesem Zyklus nicht mehr heraus, sondern das wird einfach immer schwerer. Auch wenn ich hier jetzt nicht die Pessimistin spielen möchte, aber das ist leider einfach so.
Carsten Roemheld: Und das ist auch das, wovon Sie sprechen, wenn Sie von der Klimakrise als medizinischem Notfall sprechen. Also das ist das, wo die Zusammenhänge auch zwischen der Nahrungsmittelproblematik und der Klimakrise eben zusammenfallen und die unmittelbar vor uns stehen, wenn wir sie jetzt nicht unmittelbar angehen; dass wir dann langfristig ein viel größeres Problem bekommen. Das ist das, was Sie damit meinen.
Lisa Pörtner: Genau, das hat eben verschiedene Aspekte. Also die Klimakrise ist laut Weltgesundheitsorganisation die größte Bedrohung für die menschliche Gesundheit im 21. Jahrhundert. Es ist einfach so. Wir sehen zunehmend dramatische Auswirkungen. Das wird ja niemand mehr leugnen, das erleben wir auch in unseren Breitengraden; obwohl wir ja noch sehr privilegiert sind – im globalen Süden sieht das schon sehr viel schlimmer aus –, erleben wir das aber ja.
Wir haben ja auch in Hitzesommern in Deutschland immer jetzt bereits eine Übersterblichkeit. Wir haben auch hier zunehmende Extremwetterereignisse. Wir hatten im letzten Jahr über 100 Todesfälle im Ahrtal. Das sind alles medizinische Folgen der Klimakrise, die sich auch in Zukunft immer weiter verschärfen werden. Dazu gehört nämlich auch – und das wird leider noch viel zu wenig diskutiert –, dass auch das Risiko für Zoonosen und Pandemien mit zunehmender Klimaerwärmung weiter ansteigt.
Da gibt‘s eine sehr aktuelle wissenschaftliche Arbeit zu, die aufgezeigt hat, dass in diesem Jahrhundert durch die zunehmende Klimaerwärmung und auch durch die weiter fortschreitende Zerstörung natürlicher Lebensräume es so sein wird, dass es zu Wanderungen von Tierpopulationen kommt, dadurch zu einer Durchmischung von Krankheitserregern und einem deutlich steigenden Pandemierisiko für den Menschen. Das haben wir im Prinzip schon gebucht.
Und wenn wir uns angucken, wie dramatisch die Auswirkungen der Covid-Pandemie sind, in deren dritten Jahr wir uns ja befinden, dann wundert es, dass auch hier dieses systematische, umfassende Denken nicht einsetzt, was die Wurzel dieser Krisen angeht.
Carsten Roemheld: Können Sie in dem Zusammenhang den Begriff ‚Zoonose‘ noch mal bitte definieren? Das ist vielleicht nicht allen klar.
Lisa Pörtner: Natürlich, sehr gerne. Zoonosen sind einfach Erkrankungen, die vom Tier auf den Menschen übergesprungen sind. Und mittlerweile sind es eben mehr als zwei Drittel aller Infektionserkrankung des Menschen, die Zoonosen sind; das heißt, die ihren Ursprung bei den Tieren haben. Und hier ist tatsächlich auch das Ernährungssystem wiederum ganz, ganz zentral. Denn es ist ja so, dass wir quasi als Reservoirs, als möglichen Ursprung für diese Zoonoseerreger, einmal wild lebende Tiere haben und einmal Nutztiere haben:
Und jetzt ist es ja so, dass wir durch unser Ernährungssystem, das ist einer der Haupttreiber für die globale Entwaldung, also für die Zerstörung natürlicher Lebensräume, damit kommen wir immer mehr in Kontakt mit wildlebenden Tieren und das Risiko einer Übertragung steigt.
Und bei den Nutztieren ist es so – ich habe es auch schon kurz angesprochen –, weltweit steigt der Konsum tierischer Lebensmittel. Wir halten immer mehr Tiere auf engstem Raum unter desolaten Bedingungen und auch hier steigt dadurch eben das Risiko für eine Übertragung an.
Carsten Roemheld: Eine Zwischenfrage mal: Haben Sie denn den Eindruck – weil wir gerade über Politik gesprochen haben und die Schwierigkeit, solche langfristigen Strategien oder langfristige Planung dort zu platzieren –, haben Sie den Eindruck, dass gesellschaftlich die Diskussion weiter ist, dass die Bevölkerung und die Leute eigentlich eher willens sind, auch diese Dinge anzunehmen, als die Politiker in der Lage sind, es umzusetzen oder in bestimmte Initiativen umzuwandeln?
Ist das eine Beobachtung, die stimmt, oder ist es so, dass man gesellschaftlich vielleicht viel Zustimmung bekommt für die Thesen und die Unterstützung, auf der anderen Seite aber das Handeln der Menschen vielleicht doch wieder in alten Mustern erfolgt und man sozusagen anders handelt, als man eigentlich spricht vielleicht?
Lisa Pörtner: Ja, das sind ja zwei Paar Schuhe, das ist ganz wichtig. Also das ist ja einmal die Einstellung der Menschen und das ist das Handeln der Menschen auch.
Zur Einstellung: Ja, ich glaube schon, dass die Menschen weiter sind, als die Politik es ihnen zutraut. Es gibt jetzt eine recht frische Arbeit aus den USA zumindest, wo eben auch gezeigt wird, dass das systematisch unterschätzt wird, wie bereit andere Menschen wären, auch Einschränkungen auf sich zu nehmen, wie wichtig sie das Thema ‚Klimakrise‘ beispielsweise finden. Also von daher: Ja, ich glaube, Teile der Gesellschaft sind weiter als Politiker und auch Teile der Industrie. Es gibt ja sogar Appelle der Industrie an die Politik: „Jetzt setzt doch bitte endlich mal die Anreize so. Wir möchten ja gerne, aber regelt es doch bitte entsprechend.“
Genau, und beim Handeln: Das ist natürlich sehr komplex. Wir leben ja in bestimmten gesellschaftlichen Strukturen, es gibt bestimmte Rahmenbedingungen, es gibt bestimmte Anreize, die sind auch maßgeblich durch Politik mitgestaltet. Und da ist es eben oft einfach so, dass es nicht das Einfachere und das Günstigere ist, sich klimafreundlich oder umweltfreundlich zu verhalten. Also da ist das Handeln des Individuums das eine, aber es ist eben auch Aufgabe der Politik, es den Menschen zu erleichtern, sich so zu verhalten.
Carsten Roemheld: Kommen wir noch mal auf das Thema ‚Nahrungsmittel‘ etwas detaillierter zurück: Sie sprechen sich deutlich in einem Aufruf für einen offenen Welthandel für Nahrungsmittel aus. Es gibt ja jetzt auch viele Handelsrestriktionen, die immer wieder mal in verschiedenen Bereichen greifen, unter anderem auch mit Russland. Also das ist auch Teil dieses Aufrufs. Ist aus ihrer Sicht dieses Sanktionsregime des Westens vielleicht ein Fehler? Oder anders gefragt: Sollte man sozusagen solche Dinge wirklich kategorisch ausschließen oder muss man sich die Offenheit, um eben für alle ein besseres Szenario zu erwirtschaften, muss man sich die freihalten?
Lisa Pörtner: Also es ist ja nie so gewesen, dass Nahrungsmittel von westlichen Sanktionen betroffen waren. Das ist ja tatsächlich ausgeklammert worden, gerade weil man gesagt hat, man möchte diese Sanktionen nicht auf dem Rücken der Gesundheit der russischen Bevölkerung beispielsweise jetzt auch austragen. Deshalb haben wir ja auch in unserem Statement eben gesagt, die Handelsströme – auch von Nahrungsmitteln nach Russland und aus Russland heraus –, das sollte offenbleiben, um eben auch die Situation am Weltmarkt nicht zu verschärfen. Das heißt, die Sanktionen haben hier also die Nahrungsmittel nicht direkt betroffen. Es war ja sicherlich so, dass einfach der Handel auch in den Häfen erschwert war, aber das hat eben auch mit der Kriegsführung zu tun gehabt. Also es ist jetzt keine direkte Folge der Sanktionen.
Wir haben dazu aufgerufen, der Handel sollte offenbleiben, denn das, was wir ja zum Teil gesehen haben, was eben gefährlich ist für die Märkte, also diese Preissteigerungen, werden ja durch Knappheit eben ausgelöst. Und was man zum Teil eben gesehen hat, ist, dass Länder quasi, die eigentlich exportieren, gesagt haben: „Schluss, wir schließen das jetzt, wir behalten das Getreide zurück, wir bauen hier unsere Speicher stärker auf.“ Und wenn alle das machen, dann verschärft sich die Situation natürlich noch stärker.
Weil eigentlich muss man sagen, es ist die ganze Zeit genug Getreide dagewesen, auch in Getreidelagern, beispielsweise in China. Aber das wird eben gehortet und nicht freigegeben. Und damit wird die Situation eben unter Umständen noch verschärft und deshalb haben wir gesagt, das ist essenziell, dass die Länder sich eben nicht so protektionistisch verhalten und den Handel unterbinden aus Sorge vor einer Nahrungsmittelknappheit, die in dem Moment für das Land gar nicht da war, aber was die Situation am Weltmarkt eben noch verschärft.
Carsten Roemheld: Aber das ist generell, glaube ich, eine Gefahr in der Zukunft. Denn klar, wir wissen, dass Rohstoffe ein knappes Gut sind: Wir haben da in den letzten Jahren und Jahrzehnten vielleicht wenig, zu wenig investiert, um sozusagen dort ausreichend für Kapazitäten zu sorgen, und das in Zukunft, wenn die Situation sich verschärft tatsächlich und auch die Welt ja weniger wächst, die Inflation stärker steigt, dass vielleicht tatsächlich Länder mehr protektionistisch agieren und ihre eigenen Rohstoffe im eigenen Land halten und sich weniger am Welthandel beteiligen.
Die Gefahr besteht auf jeden Fall, weil eine Frage hätte noch gelautet: Der Handel ist quasi auch essenziell, um eben, wie Sie sagen, natürlich alle profitieren zu lassen. Davon, dass auf der einen Seite Überschuss herrscht, auf der anderen Seite Defizite herrschen. Kann man denn überhaupt mehr lokale Produktion anstreben, auch aus Sicht des Klimaschutzes? Weil der Handel und die Fracht rund um die Welt natürlich auch ein Klimaschutzthema sind. Ist so was überhaupt möglich bei den begrenzten Ackerflächen und ähnlichem, die wir haben, und bei den begrenzten Möglichkeiten für Anbau? Oder wie sehen Sie das?
Lisa Pörtner: Ja, mehr lokaler Anbau ist sogar essenziell für die Zukunft und für die Resilienz des Ernährungssystem. Was wir ja jetzt erlebt haben, ist einfach, dass das Ernährungssystem, das globale Ernährungssystem, das wir mittlerweile haben, das ist nicht resilient. Das hat dieser Krieg gezeigt. Es gibt einen Konflikt zentral irgendwo in Europa und die Nahrungsmittelversorgung bricht an vielen Stellen zusammen und wir sehen eine dramatische Zunahme der Menschen, die von einer akuten Hungerkrise bedroht sind.
Im Prinzip ist es ja auch so gewesen: Das Ernährungssystem war vorher ja nicht entspannt, es war schon extrem angespannt durch die Pandemie auch. Darauf ist dann noch der Krieg gestoßen. Tatsächlich ein Grundproblem ist ja, dass so viele Länder so abhängig sind von Importen und dass wir insgesamt extrem abhängig von ganz wenigen Pflanzenarten sind. Also wir beziehen den Großteil der Kalorien in der Welternährung aus sechs Pflanzenarten, also unter anderem Weizen und Soja etc. Und das ist halt ein extremes Problem. Das ist nie so gewesen, sondern eigentlich gibt‘s von Natur aus eine immense Vielfalt an verschiedenen Arten.
Und dann ist es aber eben so, dass im Rahmen dieser Grünen Revolution die Nahrungsmittelproduktion ja sehr stark intensiviert wurde – große Monokulturen, große Monopole. Es ist ja mittlerweile so, dass der Großteil der Ackerflächen weltweit einer ganz kleinen Zahl von Unternehmen gehört. Und dadurch hat man eben viele Länder in die Abhängigkeit getrieben. Es wurden ja dann auch diese entsprechenden Lebensmittel stark subventioniert; das heißt, sie sind auch unschlagbar günstig gewesen. Damit ist die lokale Produktion quasi zugrunde gegangen, weil die sich gar nicht mehr finanziell dagegen durchsetzen konnte. Und dadurch sind wir in ein System geraten, in dem eben eine immense Abhängigkeit vieler Länder von diesen bestimmten Nahrungsmitteln und von diesen Importen besteht.
Ein resilientes Ernährungssystem wäre eines, wo wir eine viel diverse Produktion haben, viele kleinbäuerliche Strukturen. Wir sehen ja auch, es fällt ein Player weg und das ist eine ganze Katastrophe. Wir müssen jetzt viel stärker diversifizieren, sowohl in dem, was wir anbauen, und in dem auch, wer es anbaut, wer es erntet, und müssen eben hin zu diesen resilienten, nachhaltigen, auch umweltfreundlicher wirtschaftenden kleineren Betrieben.
Carsten Roemheld: Wir sprechen jetzt seit fast einer halben Stunde über die großen Herausforderungen für die Welternährung und einer der zentralen Therapieansätze, die uns die Medizinerin Dr. Lisa Pörtner von der Berliner Charité verschreibt, lautet: Wir sollten die weltweite Nahrungsmittelproduktion schleunigst dezentralisieren und diversifizieren.
Es ist schon erstaunlich, wie ähnlich große Debatten in diesen Zeiten verlaufen. Egal, ob wir über die industrielle Produktion der Zukunft sprechen, über den Umgang mit den großen Verwerfungen im Welthandel oder jetzt über Ernährung und Klimaschutz, es fallen immer ähnliche Schlagworte. Das gilt auch für die beiden weiterhin großen Hebel, die Lisa Pörtner angesprochen hat: Zusätzlich zum Umbau der Wirtschaft geht es ihr zweitens darum, weniger Ressourcen zu verschwenden. Und drittens geht es ihr um eine Veränderung unseres Konsumverhaltens. Dem Grunde nach sind das alles universelle Prinzipien für eine nachhaltige Wirtschaft, die weit über Ernährungsfragen hinausweisen.
In diesem konkreten Anwendungsfall stecken aber auch ganz handfeste Empfehlungen dahinter: Wir sollten weniger Lebensmittel wegwerfen und weniger Fleisch essen. Im zweiten Teil unseres Gesprächs werden wir auf beide Punkte eingehen. Außerdem frage ich Frau Pörtner nach der Rolle der Politik und den Erfolgsaussichten von Verboten und anderen Instrumenten der staatlichen Lenkung. Und wir reden über konkrete Anreize für eine Ernährung, die gesünder ist für Mensch und Natur; beispielweise durch eine andere Besteuerung.
Hören Sie rein! Wenn Sie Anregungen oder Hinweise zu unserem Gespräch haben, mailen Sie mir gerne. Den Kontakt finden Sie in den Show-Notes. Und wenn Ihnen unser Podcast gefällt, abonnieren Sie ihn oder empfehlen Sie uns weiter. Das geht auch über Likes und positive Bewertungen bei Ihrem Podcast-Programm. Ich danke Ihnen jetzt schon für Ihre Rückmeldungen und wir hören uns.
Ihr Carsten Roemheld