Carsten Roemheld: Das Konzept ‚Wandel durch Handel‘ stößt in der Zusammenarbeit mit China an seine Grenzen, das sagt Katrin Kamin vom Forschungszentrum für Trade Policy am Kieler Institut für Weltwirtschaft. China hat sich in den vergangenen Jahren zum versierten ökonomischen Player entwickelt, eine Integration der Supermacht in die westliche Wirtschaft ist dabei aber nur teilweise gelungen. Im ersten Teil unseres Gesprächs hat Katrin Kamin erklärt, warum sie nicht an eine neue Blockbildung glaubt. Ihre These: China ist genauso abhängig von den USA und der EU wie wir von China. Dennoch ist Vorsicht geboten.
Im zweiten Teil unseres Gesprächs reden wir darüber. Wir klären die möglichen Antworten der EU und Deutschlands auf die neue geoökonomische Lage und wir sprechen darüber, welche Rolle Deutschlands Energiereserven in Zukunft spielen werden, und diskutieren die Rolle der World Trade Organization.
Willkommen zurück im zweiten Teil meines Podcasts mit Katrin Kamin.
Wenn man das alles so hört, muss man sich ja wirklich neu definieren. Und wir müssen uns vielleicht auch die Frage stellen in der EU – Sie hatten jetzt von Deutschland schon gesprochen - aber in der EU – wie man darauf antworten kann auf die neue Situation. Eine Antwort könnte ja sein, dass man den Binnenmarkt weiter stärkt und das vertieft. Sie sprechen gerne hier von dem sogenannten ‚Brussels effect‘ oder dem Brüssel-Effekt. Was genau bedeutet das? Was ist das und was bringt uns dieser Effekt?
Katrin Kamin: Man muss hier unterscheiden: Der ‚Brussels effect‘ beschreibt, dass Länder, die jetzt erst mal nicht mit der EU in Verbindung stehen durch ein Freihandelsabkommen oder so, trotzdem Standards und Normen übernehmen, Regulationen übernehmen und sozusagen die Normen und Standards der EU ausstrahlen über die EU hinaus und auch über Partner hinaus. Das ist jetzt eine sehr verkürzte Darstellung, es gibt sehr viele Aspekte dieses „Brussels effects“.
Und der Binnenmarkt hängt insofern damit zusammen, dass es darum geht, dass die anderen Länder gerne Teil des Binnenmarkts sein wollen oder mit dem Binnenmarkt handeln wollen. Also die Attraktivität des Binnenmarktes spielt da die Rolle. Und wenn ein Land sagt: „Okay, ich will unbedingt etwas in die EU exportieren oder mit der EU auf irgendeine andere Art und Weise Handel treiben. Mir ist das so wichtig, dass ich die Standards übernehme, damit ich das kann.“ Dafür spielt eben die Attraktivität des Binnenmarktes eine Rolle.
Und wir haben sehr leidvoll gesehen, dass Vorteile des Binnenmarktes verspielt werden in der Pandemie; dadurch, dass zum Beispiel dann nationale Interessen hochkommen und man protektionistische Maßnahmen ergreift. Das war sehr schwierig, das zu beobachten für Handelsökonomen. Aber wir sehen eben auch die Vorteile des Binnenmarktes. Wir haben uns mal angeguckt, wo wir abhängig sind, wo die EU abhängig ist von sehr wenigen Lieferanten, von sehr wenigen Lieferländern. Und da sieht man sehr deutlich, dass die EU sehr viele Produkte eben aus einer großen Anzahl von Ländern bekommt und vor allem eben auch bewusst groß- und größtenteils aus dem Binnenmarkt. Also der Binnenmarkt ist schon für die EU-Länder, die EU-Mitgliedsstaaten, sehr, sehr wichtig. Und diese Vorteile gilt es zum einen zu erhalten und zum anderen eben auch auszubauen, damit man weiterhin auch als Handelspartner attraktiv bleibt. Das ist das, was dahintersteckt.
Carsten Roemheld: Beim Brexit hat es ja nicht so funktioniert, dass sie ja genau aus dieser Systematik eigentlich ausscheiden wollten. Insofern sehr, sehr schade natürlich im Rückblick. Aber das war halt ein Beispiel, wo eben da diese Normen nicht unbedingt anerkannt wurden oder wo sie eher dazu geführt haben, dass die Briten ausgestiegen sind. Aber aus welcher Perspektive oder in welchen Politikfeldern lässt sich denn auf der EU-Ebene durch den Brüssel-Effekt besonders viel erreichen und wo aus Ihrer Sicht nur wenig?
Katrin Kamin: Ja, das ist eine heikle Frage und nur schwierig zu beantworten. Also was man gesehen hat, ist, dass das im Bereich der Datenschutzgrundverordnung super funktioniert oder scheinbar super funktioniert hat. Denn ein Problem ist, dass man den ‚Brussels effect‘ nicht besonders gut messen kann. Das heißt, es ist ein Bereich, also es ist etwas, was ja von einer Juristin, von Anu Bradford, aufgeschrieben wurde, die sich das über ‚regulations und rules‘ angeguckt hat. Aber das wurde dann sehr stark übernommen, so in diesem Policy-Bereich, aber tatsächlich gibt es wenig Studien, die das sozusagen quantitativ belegen, dass es diesen ‚Brussels effect‘ tatsächlich gibt. Denn eine Frage, die sich da zwangsläufig stellt, ist: Wie messen wir Normen und wie messen wir Standards? Und das ist wahnsinnig schwer, da an Daten zu kommen, sage ich aus eigener Erfahrung.
Und deswegen in dem Bereich der Datenschutzgrundverordnung: Da konnte man sehen, dass, ich glaube allein in den Jahren 2010 bis 2020, weltweit 66 sehr ähnliche quasi an die Datenschutzgrundverordnung angelehnte Datenschutzverordnungen implementiert wurden. Und das ist so was, da kann man wahrscheinlich, wenn man juristisch da reingeht und sich anguckt: okay, wie ist das aufgebaut oder wie ähneln die sich, kann man da wahrscheinlich schon einen Effekt sehen.
Ich würde sagen, dass ein Großteil des ‚Brussels effects‘ eben vor allem auch der Handelseffekt ist, den wir haben, wenn wir Freihandelsabkommen oder Handelsabkommen schließen mit anderen Staaten. Und die Attraktivität des Binnenmarkts ist dafür zentral. Also wir müssen dafür sorgen – und zwar nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch –, dass es attraktiv ist, mit uns Handel zu treiben.
Und ein wichtiger Punkt, den ich gerade neulich auch in einer anderen Diskussion dazu hatte, ist eben auch: Wie gestalten wir unsere Demokratie? Wie können wir unsere Demokratie resilienter machen? Und das ist vor allem vor dem Hintergrund wichtig, Sie haben es gerade gesagt: Wir erleben einen erstarkenden Populismus, wir erleben ein Erstarken der Autokratisierung. Wir sind gerade in der dritten Welle der Autokratisierung. Wir haben das erste Mal seit, ich glaube jeher, mehr Autokratien auf der Welt als Demokratien und es ist eine zentrale Frage, wie wir damit umgehen. Und ein Punkt ist natürlich: Natürlich müssen wir den Binnenmarkt attraktiver machen, aber wir müssen auch unsere Demokratie resilienter machen.
Carsten Roemheld: Genau, und vielleicht Freihandelsabkommen natürlich auch abschließen weiterhin mit Staaten wie Kanada, USA, das sind ja Dinge, die wahrscheinlich im Raum stehen und aus dieser Sicht auch notwendig werden. Wie groß schätzen Sie denn die geostrategische Gestaltungsmacht der EU überhaupt ein? Sollte oder muss Europa autonomer werden? Oder brauchen wir im Gegenteil noch engere Verflechtungen, wie ich ja gerade auch angesprochen habe, mit ausgewählten Partnern, um Macht zu entfalten und Einfluss zu sichern?
Katrin Kamin: Ja, also ich glaube, man muss dann immer einmal hingucken, was ist der Status quo. Und die EU ist nach wie vor ein sehr wichtiger Handelspartner, wir sind immer noch die wichtigste Handelsmacht der Welt. Ich habe es schon gesagt, wenn man alles zusammenzählt, also Güter und Dienstleistungen, dann sind wir für fast 60 % der Länder der wichtigste Exportmarkt. Und ich glaube, das ist was, das ist wichtig, aber das muss man natürlich auch pflegen. Und wir sehen auch in anderen Teilen der Welt Bewegung. Also wir sehen nämlich, wenn man sich dann anguckt, was für Handelsabkommen ist die EU gerade am Schließen oder wo wird gerade verhandelt, dann sehen wir zum Beispiel ein Stocken in den Mercosur-Verhandlungen. Wir sehen ein Stocken auch in den Verhandlungen mit Indien. Wir sehen aber demgegenüber zum Beispiel ein frisch geschlossenes RCEP-Abkommen im asiatischen Raum. Wir müssen Handelsabkommen weiter vorantreiben. Das ist, denke ich, die Kernkompetenz und Kernstärke der EU.
Zu Ihrer Frage, welche geostrategische Gestaltungsmacht die EU hat: Wir sind, glaube ich, noch so ein bisschen in der Zeit der Wiege sozusagen der geostrategischen Gestaltungsmacht, weil wir ja auch gerade erst lernen uns zu emanzipieren von den USA. Also die USA haben sich auch zurückgezogen aus ihrer Rolle als Hegemon, während China aufgestiegen ist. Und das war jetzt oder ist jetzt auch unter Biden dann nicht mehr komplett zurückgedreht worden. Trump hat sehr viele Handelsbeschränkungen erlassen, die unter Biden gar nicht zurückgenommen wurden. Da hatte sich Europa, glaube ich, ein bisschen mehr erhofft und es ist nicht passiert.
Ich glaube, das ist vielleicht gar nicht so verkehrt, weil wir dann jetzt auch gezwungen waren, mal uns damit ein bisschen mehr zu beschäftigen. Ich denke schon, dass über diesen Handelshebel einiges passieren kann, und ich denke, ein wichtiger Punkt ist die Diversifikation von Lieferländern. Bei bestimmten Ressourcen und bei bestimmten Gütern, da sind wir abhängig und da müssen wir gucken, dass wir mehr Lieferländer bekommen. Wie gehen wir in Zukunft zum Beispiel mit autokratischen Ländern um, wie wollen wir die Handelsbeziehungen hier gestalten.
Carsten Roemheld: Für eine größere Unabhängigkeit der EU gibt es ja auch dieses Gemeinschaftsprojekt IPCEI ‚Important Projects of Common European Interest‘. Da plant man, den europäischen Anteil zum Beispiel an der weltweiten Halbleiterproduktion bis 2030 auf 20 % steigen zu lassen. Ist das zum Beispiel kluge Geopolitik in dem Sinne, wie Sie sie verstehen?
Katrin Kamin: Ja, das ist eine schwierige Frage. Also gerade die Ökonomen streiten sich dann darüber, wie viel sollte der Staat jetzt mit Subventionen eingreifen an so einer Stelle. Aus der geoökonomischen Perspektive muss ich sagen: Ja, das macht total Sinn, denn wie soll es anders gehen. Also wenn man sich mal anguckt, wo die Halbleiterproduktion konzentriert ist, die wichtige Halbleiterproduktion und ich meine jetzt nicht Halbleiter für Rasenmäher und Rasierapparat oder so, sondern ich meine … Ich weiß gar nicht, ob Rasierapparate überhaupt Halbleiter haben … (lacht)
Carsten Roemheld: Wahrscheinlich. Alles hat heute Halbleiter! (lacht)
Katrin Kamin: … aber Rasenmäher auf jeden Fall! Ich meine wirklich die, die eben wichtig sind, ‚High-Technology Semiconductors‘. Dann also, ja dann muss man natürlich sagen, ist es relevant, die ist in superkritischen Ländern konzentriert momentan. Und mit kritisch meine ich jetzt nicht politisch kritisch, aber wenn wir uns Taiwan angucken und die Frage, ob China da irgendwann mal einmarschiert, dann ja. Also ‚Contested States‘ sozusagen. Von dem Gesichtspunkt aus würde ich sagen: Ja, macht Sinn, aber natürlich muss man immer gucken, wie stark werden Dinge subventioniert. Ist es sinnvoll, dass der Staat da so stark eingreift? Und das werden die nächsten Jahre natürlich auch zeigen. Also die sehr liberalen Hardcore-Ökonomen würden sagen: „Nein, das macht keinen Sinn, das muss alles der freie Markt regeln.“
Aber da, denke ich, ist eben nicht der sicherheitspolitische Concern mit eingepreist und das ist eben was, das jetzt gerade in der Ökonomie dazukommt, nachdem wir jetzt gelernt haben, wir müssen umweltpolitische Bedenken mit einpreisen, jetzt müssen auch noch sicherheitspolitische Bedenken mit eingepreist werden. Das sind alles externe Effekte, die nicht mit eingepreist wurden bisher.
Carsten Roemheld: Der Ruf nach dem starken Staat ist in letzter Zeit öfter mal aufgekommen, insofern gilt es, das sicherlich abzuwägen. Aber Sie empfehlen auch für Deutschland selbst eine geoökonomische Strategie, um den Wohlstand zu erhalten. In dem Gutachten für das Außenministerium empfehlen Sie den Aufbau und Ausbau bilateraler strategischer Partnerschaften unter anderem mit den USA und mit Indien. Warum genau bilateral und nicht mit anderen europäischen Partnern zum Beispiel und warum Indien?
Katrin Kamin: Es ist so ein bisschen zu unterscheiden zwischen dem Gutachten, das wir fürs Außenministerium geschrieben haben, da ging es um den europäischen Blick und der europäische Blick ist ja dann natürlich der: Die EU verhandelt ihren Außenhandel bilateral mit anderen Ländern wie zum Beispiel USA – das transatlantische Abkommen ist ja auch im Gespräch – oder eben auch Indien. Für Deutschland muss man gucken, das hatten wir auch in dem FAZ-Artikel geschrieben, auch da muss die EU sozusagen die Handelsverhandlungen führen, aber nichtsdestotrotz sollte man sozusagen strategische Partnerschaften aufbauen, zum Beispiel im Mittelmeerraum, wie wir schon besprochen hatten.
Ja, warum Indien? Indien ist zum einen wichtiger Partner, wenn es um den regelbasierten Welthandel geht, einfach auch als ein großes Land. Es gibt ja auch schon diverse Partnerschaften zwischen der EU und Indien, zum Beispiel diese Energie- und Klimapartnerschaft, die sehr wichtig ist; gerade auch, wenn man die Industrien in Indien betrachtet. Und der Handel zwischen der EU und Indien war jetzt gar nicht so groß, machte 2020 nur 1,8 % aus, aber der Handel ist sehr stark gestiegen in den letzten 10 Jahren, ich meine: um 72 %. Und deswegen wird Indien sozusagen als ein Markt betrachtet, auf den wir gucken sollten.
Carsten Roemheld: Sehr gut. Vielleicht ein letztes Wort zu Deutschland und der ja sehr auch hierzulande vorherrschenden Rohstoffknappheit. Deutschland denkt ja neu über seine nationalen Energiereserven nach. Ist es sinnvoll, dass man jetzt über Vorratshaltung versucht, hier auch ein bisschen stärker auf Resilienz zu bauen? Ist das aus Ihrer Sicht ein Teil einer Strategie neben vielleicht der Diversifizierung von weiteren Handelspartnern?
Katrin Kamin: Ja, das ist ein Teil, wie Sie sagen, ein Teil der Strategie. Es ist eine Möglichkeit und vor allem in den Bereichen, wo wir sagen, das sind strategische Güter, wo wir Sorge haben, dass es vielleicht irgendwann mal zu einer Knappheit kommt, oder wo absehbar ist, dass es zu einer Knappheit kommt – wobei es dann meistens schon zu spät ist. (lacht) Also in so einem Bereich wäre eine Vorratshaltung eine Möglichkeit.
Eine andere Möglichkeit, Sie haben es gesagt, ist natürlich Diversifizierung von Lieferländern. Aber – wir hatten vorhin auch schon drüber gesprochen – verstärkte Investitionen in manchen Bereichen, gerade was den Bergbausektor angeht, wäre auch eine Möglichkeit.
Carsten Roemheld: Wir haben jetzt viel über Güter als Waffen gesprochen, über geoökonomische Attacken und ihre Abwehr über die neue Rolle Europas. Lassen Sie uns noch einen kleinen Blick in die Zukunft werfen. Eine der größten Herausforderungen wird es für die EU sein, das Gleichgewicht zu finden zwischen der multilateralen Offenheit einerseits und der ausreichenden Autonomie und Unabhängigkeit andererseits. Sie haben ja immer wieder, auch in den vergangenen Jahren, eine neue Außen- und Handelsstrategie angemahnt, für Deutschland genauso wie für die gesamte EU. Was muss da genau drinstehen?
Katrin Kamin: Das werden wir oft gefragt, (lacht) was da drinstehen soll. Also es geht eben vor allem um die Einbeziehung geopolitischer und sicherheitspolitischer Gesichtspunkte. Und das ist eben was, das wurde bisher zu sehr vernachlässigt. Ich habe es eben schon gesagt, das kann eigentlich aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht betrachtet werden wie ein externer Effekt. Und wir haben jetzt leider live erleben können, was es bedeutet, wenn man sich dann plötzlich umstellen muss. Und sozusagen eine langfristige oder längerfristige Absicherung in bestimmten Bereichen ist, denke ich, sinnvoll.
Was bedeutet das aber? Also es bedeutet, dass wir gerade, wenn wir uns die Handelspolitik angucken, die im Zweifel noch mal mehr überfrachten mit noch einem zusätzlichen Ziel, was erfüllt werden muss durch Handelspolitik und wir haben schon sehr viele Ziele, die durch Handelspolitik erfüllt werden müssen. Also wir bauen da gerade umweltpolitische Ziele ein, wir bauen Sozialstandards ein, denken jetzt an die Lieferkettengesetze und so weiter. Und das ist immer schwierig.
Ich glaube, zum einen – um jetzt mal konkret auf Ihre Frage zu antworten –, zum einen muss in so einer Strategie drin sein: Was sind eigentlich unsere Ziele, was sind unsere strategischen Interessen? Und davon leiten sich dann die Ziele ab. Und dann muss man sich über die Instrumentarien Gedanken machen: Also welche Instrumente können wir nutzen, um diese Ziele zu erreichen?
Und ich denke, ein wichtiger Faktor, der in Deutschland und teilweise auch in der EU bisher noch sehr vernachlässigt wurde, ist einfach auch das Bewusstsein, dass man, wenn man drohen möchte, ich sage nicht, dass es das Mittel der Wahl ist, aber wenn man drohen möchte, dann muss es eine glaubwürdige Drohung sein. Das ist so, egal, ob wir über Sanktionen sprechen oder über irgendwas anderes. Und das ist leider so, wie Abschreckung funktioniert. Und das ist was, das muss, glaube ich, noch stärker zurück ins Bewusstsein in Deutschland, aber auch in der EU.
Carsten Roemheld: Sie haben gerade einen Aspekt angesprochen, den wir bisher erst am Rande erwähnt haben: Nämlich Handelsthemen sind immer stärker auch mit Klima- und Umweltfragen verknüpft. Woher beziehen wir beispielsweise künftig unsere Energie? Was sagen Sie dazu?
Katrin Kamin: Also wir hatten es ja schon einmal kurz angesprochen: Ich denke, ein wichtiger Raum ist der Mittelmeerraum. Da müssen wir aus unterschiedlichen Gründen gucken, aber eben auch aus den Gründen der Energieversorgung. Und gerade, wenn es um Dekarbonisierung geht und um grünen Strom der Solarenergie im Mittelmeerraum, ist das, denke ich, ein Punkt, wo man hingucken könnte.
Aber wir sehen ja jetzt auch gerade in der Krise, dass plötzlich sehr viele neue Quellen aufgetan werden für Energie. Und auch da muss man gucken, ob das langfristige Quellen sind oder ob es da eher um eine kurz- bis mittelfristige Versorgung geht in Zeiten des Krieges. Aber auch hier stellt sich für mich dann immer diese Frage: Vorher waren wir abhängig von einer russischen Autokratie und jetzt gehen wir vielleicht hin zu anderen autokratischen Ländern und auch da, denke ich, ist Vorsicht geboten, dass man sich jetzt nicht woanders abhängig macht von ähnlichen Strukturen.
Carsten Roemheld: Entscheidend dürfte wahrscheinlich eine Diversifikation über möglichst mehrere Lieferanten sein; dass man eben nicht so viel Abhängigkeiten zeigt, wie wir es zum Beispiel von Russland jetzt gemacht haben. Und eine andere Sache, die mit der Resilienz wahrscheinlich auch verknüpft ist: Es wird mit etwas höheren Kosten verbunden sein, diese Resilienz in den entsprechenden Lieferketten einzubauen. Ich glaube, das dürfte auch eine Folge sein, der wir uns nicht entziehen können. Sie haben auch schon angeregt, Deutschland soll an der Gründung eines Klimaklubs mitarbeiten. Was steckt denn genau da dahinter?
Katrin Kamin: Hinter einem Klimaklub steckt eigentlich die Idee, dass es ein Abkommen gibt zwischen mehreren Ländern, preferably natürlich USA, China, Europa, wo man sich verpflichtet, bestimmte inländische Klimamaßnahmen umzusetzen. Und es geht aber auch um koordinierte CO2-Grenzausgleichsmaßnahmen. Das heißt, es geht darum, dass eine Steuer auf Treibhausgase von Importen erhoben wird. Und entscheidend dafür ist, dass sozusagen zwischen den Klubmitgliedern diese Steuer entfällt, aber sie diese Steuer nach außen hin umsetzen und diesen Ausgleichsmechanismus im Handel mit anderen Ländern umsetzen, sodass Anreize geschaffen werden, entweder Mitglied des Klubs zu werden oder eben sozusagen generell den CO2-Ausstoss zu reduzieren. Der Vollständigkeit halber: Das haben gar nicht wir angeregt, sondern das war mein Kollege Guntram Wolff vom Thinktank Bruegel in Brüssel, mit dem wir aber auch die Studie gemacht haben.
Carsten Roemheld: Das klingt ja mal nach einer wirklich guten Initiative. Noch eine letzte Frage vielleicht zum Thema WHO: Welche Rolle spielt denn die WHO, die Welthandelsorganisation? WTO! Entschuldigung noch mal: WTO. Denken Sie, dass wir künftig weiterhin neue Weltstandards für den Handel setzen können?
Katrin Kamin: Ja, das ist eine sehr gute Frage – schwierig zu beantworten. Die WHO … WTO! Entschuldigung, jetzt sage ich es auch schon. (lacht) Die WTO war ja schon seit dem Scheitern von Davos eigentlich in der Krise und wir haben ja nun eine neue Chefin, Ngozi Okonjo-Iweala. Ich denke, die bringt sehr viel Power mit und versucht, sehr viel umzusetzen. Wir sehen gerade Veränderungen und Initiativen im Bereich des Dienstleistungshandels und auch im Bereich der Fischerei, die beide sehr wichtig sind.
Aber wie viel Biss sozusagen die WTO haben wird, ist eine gute Frage. Wir haben immer noch eine Blockade seitens der USA und ich denke, was ein relativ wichtiges Signal war oder was ich als wichtiges Signal wahrgenommen habe, ist, dass zumindest China auch sich beteiligt hat mit anderen Ländern, um, wie sagt man, Verhandlungswege zu finden innerhalb der WTO; ohne sozusagen über den ‚Appellate Body‘, der ja gerade blockiert ist, zu gehen. Das fand ich ein Signal, dass auch für China die WTO eine Rolle spielt und alles Weitere ist ein bisschen Zukunftsmusik. Wir müssen abwarten, würde ich sagen.
Carsten Roemheld: Das wäre jedenfalls eine schöne Nachricht, wenn wir das insgesamt als Basis nutzen könnten für gemeinsame Gespräche und für die neue Weltordnung sozusagen. Sehr schön, Frau Kamin, ich danke Ihnen sehr, sehr herzlich. Wir kommen zum Ende unseres Podcasts, die Zeit ist leider abgelaufen. Aber ich danke Ihnen sehr, sehr herzlich für dieses sehr spannende Gespräch und würde mich freuen, wenn wir uns in Zukunft noch mal unterhalten könnten über die verschiedenen Stati, die wir dann erreichen werden.
Vielen Dank, Frau Dr. Kamin.
Katrin Kamin: Sehr gerne. Vielen herzlichen Dank!