Carsten Roemheld: Die Klimawende ist ein weltweites Mammutprojekt. Die Europäische Union will Vorreiterin sein und ihre Treibhausgasemissionen bis zum Jahr 2050 um mindestens 55 Prozent senken, verglichen mit dem Stand von 1990. Erst im April hatte das Europäische Parlament für neue Gesetze gestimmt, die dieses Ziel untermauern. Auch eine Reform des Emissionshandelssystems würde es danach geben. Und die jüngsten Gesetze des EU-Parlaments waren der Todesstoß für den Verbrenner-Motor. Euphorisch feierten manche Parlamentarier das Regelwerk schon als das größte Klimaschutzgesetz aller Zeiten. Doch was bedeutet das eigentlich für die europäische und insbesondere für die deutsche Industrie? Fliehen demnächst scharenweise produzierende Unternehmen vor immer strengeren Auflagen und der teuren Energie? Ist Viessmann erst der Anfang? Anders gefragt: Welche Auswirkungen hat die ökologische Transformation in der EU auf die Wettbewerbsfähigkeit des Kontinents? Schaufeln wir uns hier gerade unser industrielles Grab? Oder ist Europa in der Lage, als Trendsetter für ökologisches Wachstum dem Rest der Welt zu zeigen, wie das geht: Klimaschutz und wirtschaftlicher Erfolg?
Carsten Roemheld: Über diese Fragen spreche ich heute mit Janek Steitz. Er ist Direktor beim überparteilichen Thinktank "Dezernat Zukunft - Institut für Makrofinanzen". Die 2018 gegründete Berliner Denkfabrik will öffentliche Debatten über die Geld-, Finanz- und Wirtschaftspolitik der Zukunft anstoßen und wissenschaftlich unterfüttern, mit dem frischen Blick, den junge Forscherinnen und Forscher auf diese Themen werfen. Herr Steitz hat an der Universität Münster und der Handelshochschule Leipzig Volkswirtschaft und Management studiert. Vor seiner Zeit beim Dezernat Zukunft war er unter anderem Projektmanager bei der Denkfabrik Agora Energiewende und Berater bei Active Philanthropy, einer NGO, die Stifter mit Nachhaltigkeitsengagement berät. Janek Steitz beschäftigt sich mit der öffentlichen Finanzierung von Klima- und anderen Zukunftsinvestitionen und forscht konkret zu der Frage, welche Zukunft energieintensive Industrien angesichts der Green-Deal-Vorhaben der EU in Deutschland noch haben. Heute ist Montag, der 22. Mai 2023. Mein Name Carsten Roemheld, ich bin Kapitalmarktstratege bei Fidelity, und ich freue mich auf die kommenden 45 Minuten mit Janek Steitz im Kapitalmarkt Podcast. Herzlich willkommen, Herr Steitz.
Janek Steitz: Sehr gerne! Danke für die Einladung.
Carsten Roemheld: Sie arbeiten für den Thinktank Dezernat Zukunft in Berlin, der das Ziel verfolgt, Geld-, Finanz- und Wirtschaftspolitik verständlich zu erklären, einzuordnen und neu zu denken. Können Sie uns die Organisation kurz einmal vorstellen? Und wieso beschäftigt sich ein Thinktank ausgerechnet mit Makrothemen, Finanzen und Klimapolitik? Das klingt schon ein wenig sperrig.
Janek Steitz: Ja, sehr gerne. Sie haben schon gesagt, wir sind ein junger Thinktank, 2018 gegründet, der Geld-, Finanz- und Wirtschaftspolitik neu denken will, der vor allen Dingen daran interessiert ist, Anstöße zu geben, zukunftsgerichtete Wirtschaftspolitik zu machen. Neu heißt für uns in dem Kontext vor allen Dingen, dass wir die Bedürfnisse der Menschen in Deutschland, in Europa, in der Breite der Gesellschaft in den Mittelpunkt stellen wollen und gleichzeitig eben auch Anstöße für eine neue Wirtschaftspolitik und Finanzpolitik geben wollen, die gleichzeitig die Grundlagen des breiten Wohlstands, die Natur, den Planeten erhält. Und ja, warum Makro? Finanzen? Warum Klima? Ich glaube, in dem Kontext gibt's zwei Ausgangspunkte: Wir haben nach der Finanzkrise gesehen, was schlechte Makro-Politik kaputt machen kann. Wir haben das jetzt fast ein Jahrzehnt lang gesehen, ausgehend von Deutschlands Austeritätspolitik. Wir sehen jetzt nach der Corona-Krise, dass es auch anders gehen kann. In den letzten Jahren sind viele Länder hinter ihrem Potenzial geblieben. Jetzt sind wir momentan auf einem anderen Pfad, und auch der Klimawandel hat oder wird starke Makro-Auswirkungen haben. Wir müssen die ganze Angebotsseite einmal umkrempeln, denn der Klimawandel und die Transformation wird Implikationen für die Lebenshaltungskosten haben. Wir müssen Investitionen dramatisch erhöhen. Das heißt es gibt wirklich große Makrofragen, jetzt für die nächsten Jahre und Jahrzehnte, und dem wollen wir uns stellen.
Carsten Roemheld: Das finde ich wirklich prima. Das hört sich sehr vernünftig an, sozusagen alle Bedenken und alle Bevölkerungsschichten mitzunehmen, weil das ja das große, kritische Thema ist: Auf der einen Seite muss man die Zukunftsfähigkeit berücksichtigen, auf der anderen Seite kann man die Leute nicht aus dem Auge verlieren und deren Bedürfnisse, weil letztlich auch die Wählerschaft notwendig ist, um diese Projekte in Zukunft umzusetzen. Wenn es nun um Klimapolitik geht, wird besonders heiß über die technologische Umsetzung diskutiert. Es heißt immer wieder auch, dass durch Klimaschutzmaßnahmen Arbeitsplätze verloren gehen können und dass es eben auch Verlierer geben wird. Wird die Klimapolitik in Deutschland immer noch zu eindimensional und zu kurzsichtig gedacht?
Janek Steitz: Ich würde mal so sagen: Ich glaube, in den letzten Jahren hat sich die Debatte und auch der klimapolitische Diskurs vor allen Dingen auf die technologische Umsetzung konzentriert. Das ist auch nachvollziehbar, weil man natürlich erst mal erarbeiten und auch verstehen musste, wie Deutschland und Europa überhaupt klimaneutral werden kann, wie das technologisch funktioniert. Also: Wie sieht der Fahrplan aus? Wie müssen wir den Strommarkt dekarbonisieren? Und wie funktioniert eigentlich die Dekarbonisierung der Industrie?
Janek Steitz: Die gute Nachricht ist aber, dass man an der technologischen Front jetzt mittlerweile ganz gut weiß, wie das alles funktioniert. Und während es vor fünf bis zehn Jahren noch relativ große Unterschiede auch in Ansichten und Meinungen zwischen Wissenschaftler:innen gab, wächst der gemeinsame Nenner mehr und mehr. Was aber zu kurz kommt aus unserer Sicht ist: Wie können wir das Ganze jetzt eigentlich umsetzen? Und wie können wir es auch umsetzen, dass uns die Gesellschaft dabei nicht um die Ohren fliegt? Ich glaube, zwei Dinge kommen vor allem zu kurz. Das eine ist, jetzt in die Umsetzung kommen und die Kapazitäten zu schaffen, um schnell Emissionsminderungsmaßnahmen Realität werden zu lassen. Wir sehen es zum Beispiel bei dem Thema Genehmigungsverfahren, wie schwer wir uns da tun. Das ist auch nichts, was man von heute auf morgen irgendwie abräumen kann. Da müssen wir jetzt aber unbedingt Fortschritte machen. Wir sehen es auch auf der Angebotsseite bei den Fachkräften, die die Umsetzung bremsen werden - und wo wir jetzt aktiv werden müssen. Wie reden seit Jahren darüber, auf Überschriftenebene kann man jede Woche lesen in der Zeitung, dass wir schon Fachkräfteprobleme haben. Aber adressiert haben wir es trotzdem noch nicht.
Das andere große Thema ist, dass aus meiner Sicht bisher die Klimatransformation noch zu wenig als wirtschaftlicher Strukturwandel begriffen wird. Es herrscht die Ansicht vor, man könnte jetzt einfach technische Maßnahmen durchdrücken, Emissionen reduzieren. Aber was hier eigentlich passiert ist: Wir müssen die komplette Angebotsseite, die Wirtschaftsstruktur einmal umkrempeln, und das ist für Industriebetriebe, aber insbesondere auch für viele Menschen mit großen Veränderungen verbunden. Die erzeugen Ängste, und sie können für viele auch schmerzhaft sein, weil sie zum Beispiel Jobs verlieren. Es gibt zwar viele Studien, die zeigen, dass diese ganze Transformation tendenziell eher ein Jobmotor wird, also dass zusätzliche Jobs entstehen, so zwischen 300.000 und 700.000 bis 2045. Aber diese aggregierten Zahlen verschleiern ein bisschen, dass es natürlich viel Bewegung gibt. Es wird Sektoren geben, die werden zurückgefahren werden müssen - Öl und Gas, Kohle, Teile des Transportsektors. Und es gibt andere, die wachsen werden.
Diese Veränderungen müssen adressiert werden, und diese Veränderungen können für viele Menschen schmerzhaft sein. Das muss wirtschafts- und sozialpolitisch begleitet werden, und ich glaube, die beiden Punkte zusammenzubringen: Emissionen reduzieren auf der anderen Seite, aber eben auch Wohlstand sichern in der Breite mit einer Perspektive insbesondere auf Jobs. Das ist so die Herausforderung, die jetzt vor uns steht.
Carsten Roemheld: Also, Sie sehen eher die Chancen, die damit auch verbunden sind, so à la industrieller Revolution. Damals haben auch einige Berufe, die alt waren, der Industrialisierung nicht Stand gehalten. Aber neue Möglichkeiten sind entstanden, und so begreifen Sie das auch als eine komplette Umkrempelung der wirtschaftlichen Gegebenheiten. Sie vertreten mit ihrem Dezernat Zukunft auch den Ansatz einer „All-of-Economy-Strategie“. Also, dass auch für andere politische Bereiche mitgedacht wird in der Klimapolitik. Können Sie das nochmal ein bisschen weiter ausführen? Und wie würde demzufolge eine erfolgreiche Klimapolitik für Sie aussehen?
Janek Steitz: Ja, das knüpft an das an, was ich gerade sagte, also dieser All-of-Economy-Ansatz ist im Prinzip nichts anderes, als die Klimatransformation wirklich als eine ganzheitliche Transformationspolitik zu fahren. Und eben nicht nur eindimensional an Emissionsminderungen zu denken und an technische Maßnahmen zur Emissionsminderung. Ich glaube, der Ansatzpunkt dafür ist, und auch das sprach ich gerade schon kurz an: Diese Transformation geht einfach mit großer wirtschaftlicher Unsicherheit für viele Menschen einher. Das Problem lässt sich vielleicht am einfachsten auf den Punkt bringen in der Zahl, dass knapp 40 Prozent der Menschen in Deutschland keine Ersparnis, kein Vermögen haben. So, jetzt laufen wir eine Zeit herein, bis 2045, wo wirklich viel verändert werden muss. Und die Transformation, ob man es jetzt will oder nicht, die wird im Übergang ruckelig sein, die wird auch hier und dort mit Mehrkosten einhergehen. Wir sehen das jetzt im Kontext der Diskussion rund um den Heizungstausch: Ja, Häuser müssen saniert werden, andere Autos müssen angeschafft werden, und und und.
Langfristig wird vieles davon billiger sein als es heute ist. Aber diese Mid-Transition, wie man sie auch nennt, die wird halt nicht einfach. Und wir sind davon überzeugt, dass es eben nicht genug ist, nur auf der einen Seite diese technischen Maßnahmen durchzudrücken, ob es jetzt über Ordnungsrecht ist oder über einen Emissionshandel - und dann sozusagen für die Härtefälle, die am meisten betroffen sind von Klimaschutzmaßnahmen, den sozialen Ausgleich zu schaffen. Das ist ein wesentliches Element, weil man dadurch zielgerichtet agieren kann, und schon mal ein erster Schritt, um sich den Verteilungswirkungen der Transformation bewusst zu werden. Aber um die grundsätzliche Unsicherheit in der Bevölkerung zu adressieren und den Status quo, dass so viele Menschen eigentlich kein Polster haben, auf das sie zurückgreifen können, muss eine auf Emissionsminderung fokussierte Politik ergänzt werden um eine progressive Wirtschafts- und Sozialpolitik, die darauf ausgerichtet ist, strukturelle Unsicherheiten zu reduzieren und Wohlstand in der Breite herzustellen.
Um zwei, drei Beispiele zu nennen:
- Bildungspolitik ist ein No-Brainer, da läuft Deutschland in den letzten Jahrzehnten einfach großen Teilen der Welt hinterher. Da haben wir viel Aufholbedarf, und das ist vergleichsweise einfach umzusetzen.
- Finanzpolitik kann eine ganze andere Rolle einnehmen in der Ermöglichung von mehr Beschäftigung und einer Vollauslastung der Wirtschaft.
- Und jetzt im Kontext vielleicht das Thema der Stunde, auch Industriepolitik: also da den Spagat hinzukriegen, dass wir die Strukturen, die wir haben und die auch wettbewerbsfähig auf der einen Seite erhalten und andererseits dem Strukturwandel nicht im Weg stehen und zu unterstützen, dass sich auch neue Industrien hier ansiedeln können.
Carsten Roemheld: Schauen wir mal konkret auf Deutschland: Als Wirtschafts- und Industriestandort im Rahmen einer klimafreundlichen Welt zu bestehen, das ist sicherlich eine besondere Herausforderung für uns. Wenn wir mal die Stahlindustrie herausnehmen, die ist allein für 30 Prozent der industriell produzierten Treibhausgase verantwortlich, insgesamt sind etwa 6 Prozent der Gesamtemissionen in Deutschland auf die Stahlindustrie zurückzuführen. Passt sowas noch in die Zeit? Oder müssen wir künftig darauf einfach verzichten, aus ihrer Sicht?
Janek Steitz: Ich glaub, der Stahlsektor an sich, die Stahlproduktion, ist nicht das Problem. Wir müssen darauf nicht verzichten. Aber wir müssen es einfach zukünftig anders produzieren. Heute wird halt Stahl fossilbasiert in Kohleöfen hergestellt und es entstehen viele Emissionen. Aber die gute Nachricht ist: Wir können mittlerweile auch Stahl klimaneutral herstellen. Da gibt es jetzt erste Anlagen, die in der Demonstrationsphase sind. Das wird jetzt hochskaliert. Wir haben auch in Deutschland schon erste Ankündigungen und wirklich auch Investitionsentscheidungen, zum Beispiel ins Salzgitter, für zukünftig wasserstoffbasierte Stahlherstellung. Das Problem ist, dass diese Technologien heute noch teurer sind. Das heißt, die Herausforderung der Stunde ist, dieses grüne Premium dieser Technologien runterzukriegen, die Technologien in die Anwendung zu kriegen, in Deutschland, aber eben auch global. Und ich glaube, dann wird man zukünftig auch nicht auf Stahl verzichten müssen, und in Bereichen kann man es ja auch einfach nicht.
Carsten Roemheld: Wie steht es denn aktuell um die Umsetzung der Klimaziele innerhalb der deutschen Industrieunternehmen insgesamt aus? Also: Wie viel Energie, die unsere Industrie heute nutzt, stammt schon aus erneuerbaren Quellen?
Janek Steitz: Wir stehen in der Umsetzung in der Industrie noch relativ am Anfang, das war ein Sektor, der im vergangenen Jahr nicht im Fokus stand. Die Aufmerksamkeit hat sich zurecht auf den Energie- beziehungsweise Stromsektor fokussiert, weil dort die Energiewende gewissermaßen anfängt. Die Emissionen haben im Industriesektor über die letzten Jahre lange Zeit stagniert und sind nur leicht gesunken, vor allen Dingen wegen Effizienzmaßnahmen. Und tatsächlich ist so, dass auch heute über 60 Prozent der industriellen Energieverwendung noch Fossil ist, also auf Erdgas, Kohle und Mineralöl basiert, und hinzukommt der Energieträger Strom, der fast 20 Prozent in der Industrie heute ausmacht. Und Strom ist ja nun in Deutschland auch noch nicht fossilfrei. Also, da kommen dann auch noch mal fossile Emissionen dazu.
Das heißt, man steht erst am Anfang in der Industrie, insbesondere in der Schwerindustrie. Aber auch hier ist wieder die gute Nachricht: Wir wissen, wie es funktioniert. Wir wissen, wie es für den Stahlsektor funktionieren kann, wir wissen, wie es für den Chemiesektor funktionieren kann, aber auch für andere energieintensive Branchen: Papier, Zement et cetera. Man muss aber jetzt in die Anwendung kommen. Wir werden sicherlich noch über das Thema Finanzen sprechen. Das ist eben eine Sache, an der es momentan auch noch hakt.
Carsten Roemheld: In die Anwendung kommen ist eine Sache, und die technische Seite ist die eine Seite, dass es umsetzbar wäre, sie sagten, natürlich mit höheren Kosten am Anfang. Aber die Wettbewerbsfähigkeit ist ja immer auch ein entscheidendes Thema. Das heißt, wenn wir die Dinge hier nur noch zu erheblich höheren Kosten produzieren können, zwar umweltfreundlich, aber trotzdem, und andere das kostengünstiger schaffen - daraus wird sich dann ein Wettbewerbsnachteil ergeben. Sie haben ja ein aktuelles Forschungsprojekt und untersuchen gerade, ob Deutschland als Produktionsstandort zum Beispiel für solche energieintensiven Grundstoffe wie Stahl, Aluminium oder Ammoniak in dieser neuen grünen Welt, ob das noch wettbewerbsfähig ist. Was ist denn da bei ihnen bis jetzt rausgekommen?
Janek Steitz: Ja, man muss sagen, die Industrie hat es tatsächlich momentan nicht einfach. Wir haben das letztens Mal genannt zwischen Energieschock und Energiewende. Also momentan sind die meisten Produktionen eben noch fossil, und die aktuelle Krise führt dazu, dass man in Deutschland und Europa wesentlich teurere Produktionsbedingungen hat als beispielsweise in den USA oder in Australien. Gaspreise sind sehr hoch, Strompreise sind sehr hoch und werden es absehbar, wenn man sich die Future-Märkte anschaut, auch noch sein. Das heißt, da gibt es ein strukturell großes Problem.
Aber wenn man jetzt denkt, und das hört man momentan eben auch oft, ja, jetzt müssen wir nur die Erneuerbaren reinbringen, und dann wird alles billiger und die deutsche Industrie wird wettbewerbsfähig: Ganz so einfach ist es leider auch nicht. und das war der Impetus für das Projekt, das sie ansprachen. Wir haben uns zusammen mit Frontier Economics und IW Consult angeguckt: Am langen Ende, wenn Deutschland klimaneutral ist, und wenn auch der Rest der Welt auf Erneuerbare umgestiegen ist, wie gut schneiden dann die energieintensiven Industrien in Deutschland ab im internationalen Vergleich? Und das kurze Ergebnis ist: So gut schneiden sie nicht ab. Das liegt ganz einfach daran, dass Deutschland keine besonders günstigen Bedingungen für Erneuerbare Energien hat. Hier weht der Wind zwar auch, aber in vielen Teil Deutschlands nicht ganz so doll wie in anderen Ländern. Für Solarenergie haben wir hier auch nicht die besten Bedingungen. Und in vielen anderen Standorten sind die Bedingungen einfach deutlich besser. Andere Länder haben deutlich mehr Platz und auch mehr Erneuerbare-Energien-Potenzial.
Was man noch mitberücksichtigen muss, ist, dass die Industrie eine relativ konstante Energiezufuhr braucht. Das heißt, wir sprechen von sogenannten Baseload-Gestehungskosten. Natürlich kann und muss die Industrie zukünftig etwas variabler agieren, um der fluktuierenden Erscheinung der Erneuerbaren gerecht zu werden, aber nichtsdestotrotz spielen Speicherkosten eine große Rolle. Da wird Deutschland tatsächlich relativ gut abschneiden. Das macht die Nachteile bei den reinen Gestehungskosten ein bisschen wett. Aber wenn wir jetzt uns mal die Zahlen anschauen, wird Deutschland im Vergleich zu günstigen Standorten wie USA, Australien, den Norden Afrikas oder den Mittleren Osten auch bei erneuerbaren Strom Gestehungskosten-Premiums von bis zu 50 Prozent haben, beim Wasserstoff sind es durchschnittlich 20 Prozent. Und das wird sich dann eben auch durch die Wertschöpfungsketten vermutlich durchziehen, so dass wir dann bei den industriellen Grundstoffen wie Stahl, High Value Chemicals, Ammoniak oder Aluminium von Aufschlägen von 25 bis 80 Prozent sprechen bis zum Jahr 2045. Das ist natürlich mit vielen Annahmen behaftet, aber es gibt schon mal ja so ein grobes Bild, wo die Reise hingehen kann. Und dann stellt natürlich die Frage: Wenn wir jetzt im großen Stil umstellen, wie wettbewerbsfähig können diese Industrien in der Zukunft sein? Und da zeigt sich auf Basis unserer Analyse: Es wird nicht unbedingt einfacher.
Carsten Roemheld: Also, sie sagen, es wird nicht einfacher. Sie sagen, die Voraussetzungen für erneuerbare Energien sind eigentlich gar nicht so günstig. Und sie sagen, die Konsequenz könnte sein, dass dann energieintensive Wirtschaft aus Deutschland abwandert und dann sozusagen noch nicht mal das Klimaziel erfüllt wird, weil wir dann hier umstellen, aber vielleicht woanders die Emissionen trotzdem passieren. Da muss man sich natürlich schon die Frage stellen, ob das dann alles so sinnvoll ist in der Summe. Das ist schon noch eine Frage, die offen ist an der Stelle, oder?
Janek Steitz: Ja, ich meine die Abwanderung, die jetzt im Kontext der Krise passieren kann, sehen wir ja auch schon: Da haben erste Aluminiumhütten zugemacht, bei BASF wurde eine Ammoniak-Anlage abgeschaltet. Und so was kann natürlich zu sogenanntem Carbon Leakage führen. Das bedeutet, dass die Produktion anderswo hochgefahren wird, wo noch viel fossil passiert. Langfristig wird es aber so sein, und das sieht jetzt zum Beispiel schon über den Inflation Reduction Act in den USA, aber auch in Australien, die wirklich massiv die Erneuerbaren hochfahren, dass Industriestandorte in anderen Teilen der Welt auch in die Transformation einsteigen und dass dort die Perspektive ist, dann eben auch die Welt mit klimaneutralen Produkten zu beliefern. Das heißt, für Deutschland ist dann eben auch ganz konkret die Alternative, dass ein Teil der Grundstoffe, die man heute noch hier produziert, in der Zukunft importiert werden. Und das hat, würde ich mal sagen, Vor- und Nachteile.
Das ist jetzt kurzfristig gedacht insbesondere für die Menschen, die in den Industrien arbeiten, eine Drohkulisse. Aber andererseits muss man sich klarmachen, dass in den energieintensivsten Sektoren, die wirklich ganz am Anfang der Kette stehen, gar nicht so viele Menschen arbeiten. Ungefähr 70 bis 80 Prozent arbeiten nämlich in den nachgelagerten Ketten. Dann relativiert das schon so ein bisschen. Und dann muss man natürlich auch sehen: Das wird keine Null-oder-Eins-Entscheidung. Die Industrie wird nicht komplett hierbleiben oder komplett abwandern. Es gibt da Reaktionsfunktionen, die dazwischen liegen. Es kann aber gut sein, dass ein Teil abwandern wird, beziehungsweise, dass wir einfach einen Teil der heute hier produzierten Grundstoffe zukünftig importieren.
Carsten Roemheld: Die Energieabhängigkeit Deutschland ist natürlich ein großes Thema. Das hat uns ja auch der Krieg in der Ukraine vor Augen geführt. Vor allen Dingen mit der russischen Situation. Ist sozusagen der Übergang zu den Erneuerbaren dann die Lösung dafür? Oder begeben wir uns dann an der Stelle in neue Abhängigkeiten, weil eben auch da vielleicht Erneuerbare Energien im Ausland günstig zu beziehen sind als bei uns? Was glauben sie, wo der Weg hinführt? Wird die Abhängigkeit im Laufe der Zeit geringer werden? Kann man das durch diese Transformation erreichen, oder wie sehen sie das?
Janek Steitz: Grundsätzlich wird die Abhängigkeit geringer werden. Unser Energiesystem heute ist ja noch größtenteils auf fossile Energieträger angewiesen, die wir wiederum größtenteils aus dem Ausland beziehen. Das heißt, je mehr wir auf Erneuerbare umsteigen, auf Wind, Solar, in Teilen auch Wasserkraft, Bioenergie, etc., desto energieautarker wird Deutschland, wird Europa. Europa ist auch ein wichtiger Stichpunkt, weil wir relativ große Energiepotenziale innerhalb Europas haben, und je mehr wir jetzt den europäischen Energiemarkt auch weiter integrieren, desto mehr steigern wir auch die Energieautarkie in Europa. Wir werden aber nie komplette Selbstversorger sein. Wir werden in Europa und in Deutschland auch nie den Wasserstoff produzieren können, die wir hier verbrauchen werden. Wir werden also für bestimmte Energieträger, insbesondere Wasserstoff, eine Importregion bleiben. Aber die Abhängigkeit wird sich verringern.
Mit Blick auf diese Grundstoffe kann man aber sagen: Am Ende des Tages ist es auch nichts anderes als der Import vor Energie. Nur dass die Energie schon in Grundstoffen gebunden ist und der erste Produktionsschritt im Ausland stattgefunden hat. Das Gute hinsichtlich der Abhängigkeiten ist, dass anders als in der fossilen Welt, wo es einige wenige Länder in der Welt gibt, die die fossile Energie kontrollieren und exportieren, dass das erneuerbare Potenzial breiter verteilt ist. Das heißt, wir können zukünftig von verschiedensten Ländern global verteilt Energie importieren, ob jetzt in Form von Ammoniak oder eines anderen Grundstoffs oder eben über direkten Wasserstoff. Und das macht aus der Sicht eigentlich Mut. Wir laufen da in ein neues System rein, das vermutlich sehr viel weniger anfällig ist für Volatilität und globale Schwankung.
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Carsten Roemheld: Die hiesige Industrie macht ja ein bisschen Druck auf die Regierung in Bezug auf vergünstigte Energiepreise und ähnliche Zugeständnisse, um eben nicht dem Gedanken zu erliegen, sich ins Ausland zu verlagern. Was aus ihrer Sicht, können sie, die Regierung, noch tun, oder welche Mittel sind erlaubt aus ihrer Sicht, um diesen Trend der Abwanderung der deutschen Industrie zu vermeiden?
Janek Steitz: Also, was man da festhalten muss, und das kann man, glaube ich, auch nicht wegdiskutieren: Die deutsche und die europäische Industrie wird es im internationalen Vergleich in den nächsten Jahren einfach schwerer haben, weil wir wegen des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine jetzt einfach immer noch ein Premium bezahlen für Energie, insbesondere für Gas. Das wird in den nächsten Jahren immer noch deutlich teurer sein als beispielsweise das Gas, das die Amerikaner verwenden. Wir importieren nämlich in großen Mengen LNG-Gas, und das ist eben einfach teurer wegen der Energieumwandlung. Das spielt auch durch auf die Stromkosten über die Grenzkraftwerke, die in Deutschland oft Gaskraftwerke sind.
Diesen Kostennachteil kann man natürlich ausgleichen. Jetzt ist ein Industriestrompreis im Gespräch. Das ist natürlich die Frage, wie würde man den konkret ausgleichen. Aber wir halten es durchaus für sinnvoll, irgendeine Form der Bezuschussung zu gewähren zu diesem jetzt fossilen Premium, das die deutsche Industrie momentan bezahlt. Es ist aber wichtig, dass man nicht über das Ziel hinausschießt.
Ich glaube, was jetzt wenig sinnvoll wäre, ist, wenn man jetzt Energie runterfördert auf ein Level, dass wir dann am langen Ende gar nicht halten können. Die Rede ist ja jetzt von einer Brückenlösung. Dann ist die Frage, wohin führt denn diese Brücke? Wenn man sich anschaut, wie Deutschland zukünftig abschneiden wird, dann wäre es vielleicht ein sinnvoller Ansatz zu sagen, die relativ höheren Energiekosten, die wir der Zukunft haben werden, die sollten wir jetzt auch nicht unterschreiten. Die zweite Frage ist dann: Wer sollte so eine Förderung bekommen? Sind das wirklich nur die energieintensivsten am Anfang der Kette? Oder gestaltet man das etwas breiter? Das ist vielleicht ein bisschen kontraintuitiv, aber wir sind tatsächlich der Meinung, dass man es ein bisschen weiter gestalten sollte. Denn wenn man sich anschaut, wie Arbeitsplätze und Wertschöpfung im verarbeiteten Gewerbe verteilt sind in Deutschland, dann sieht man: Okay, Der Großteil kommt tatsächlich aus der Weiterverarbeitung, aus den komplexeren Produkten, Maschinenbau, Auto, etc.. Wenn wir jetzt nur den Anfang der Kette subventionieren, dann machen wir Energie auch für alle anderen teurer. Das heißt, tendenziell würden wir sagen, eine Förderung in den nächsten Jahren kann man durchaus machen. Aber dann nur auf ein bestimmtes Level und tendenziell eher in der Breite, um genau diese Verzerrungseffekte nicht zu haben.
Carsten Roemheld: Es wird ja immer viel über die Emissionen gesprochen und dass Emissionen reduziert werden müssen, aber es gibt ja auch das Carbon Capture. Man versucht einfach nicht, die Emissionen zu reduzieren, sondern irgendwie abzubauen, unter die Erde zu bringen, auf irgendeine Art und Weise. Inwieweit spielt Carbon Capture bei ihnen eine Rolle? Wie trägt das zur Gesamt-Emissionsreduzierung bei? Was sehen Sie da für Zahlen?
Janek Steitz: Das spielt in allen Dekarbonierungsszenarien, die es auch jetzt für Deutschland gibt, keine kleine Rolle. Wir werden in der Industrie, zum Beispiel im Zement Sektor, einfach die Emissionen in der Zeit nicht runterkriegen ohne den Einsatz von Carbon Capture and Storage. Und wir haben beispielsweise auch in der Landwirtschaft Restemissionen, die wir nicht vermeiden können. Das heißt, hier muss es dann über sogenannte Negativemissionen zu einem Ausgleich kommen. Da spielen dann eben diese Carbon-Capture-Storage-Technologien oder auch Direct-Air-Capture, wo man CO2 aus der Luft abschneidet und dann unter die Erde bringt, eine Rolle. Das ist ein Teil der Strategie, um zu Net Zero zu kommen. Aber Vermeidung ist schon die Hauptaufgabe, der wir uns jetzt schleunigst stellen müssen.
Carsten Roemheld: Kommen wir im letzten Block nochmal zum Thema Finanzierung und Schulden. Wir haben jüngst eine neue Studie der Allianz Trade gesehen, die prognostiziert hat, dass das verarbeitende Gewerbe bis zum Jahr 2050 weltweit zu 90 Prozent klimaneutral sein könnte. Dafür sind aber enorme Investitionen nötig. Die Allianz rechnet mit weltweit 2,7 Billionen Euro. Man hat auch irre Zahlen von anderen schon gesehen: Allein für Deutschland mit seiner bedeutsamen Eisen-, Stahl-, Zellstoff- und Papierindustrie wären danach um die 52 Milliarden Euro für die Umrüstung notwendig. Das ist eine Menge Geld. Wo kommt das her aus ihrer Sicht? Wer soll das finanzieren?
Janek Steitz: In erster Linie müssen das die Privaten finanzieren, also die Industrieunternehmen, indem sie sich Kredite und Eigenkapital holen, um genau diese Reinvestitionen und auch neue Investitionen zu tätigen. Wir hatten das ja vorhin schon kurz. Die Herausforderung dabei ist, dass viele dieser Investitionen momentan noch keinen positiven Business Case haben. Also die schneiden einfach im Vergleich zu fossilen Alternativen noch nicht gut ab. Und gerade weil das verarbeitende Gewerbe im internationalen Wettbewerb steht und dort andere Länder auch länger als Deutschland wegen weniger starker Klima-Governance fossile Produkte verkaufen können und werden, ist es ebenso wichtig, dass die deutsche Industrie keinen Nachteil dadurch erhält, dass sie hier schneller dekarbonisieren muss.
Janek Steitz: Aber um zum Punkt der Finanzierung zurückzukommen: Da spielt der Staat eine unheimlich wichtige Rolle, um diese Finanzierungslücke zu schließen. Das kann man auf verschiedenen Wegen machen. Da spielt sicherlich der CO2-Preis eine Rolle, der dazu führt, dass die fossile Alternative teurer wird. Wir werden jetzt auch einen sogenannten Carbon Border Adjustment Mechanism bekommen in der Europäischen Union. Dieser Ausgleichsmechanismus trägt dazu bei, dass zumindest die Produkte aus dem Ausland, die in Europa verkauft werden, auch einen CO2-Preis bezahlen. Aber dann sind es auch einfach Subventionen: Wenn sich jetzt Salzgitter oder Thyssen eine Direktreduktionsanlage hinstellen, dann ist das eben nur möglich, wenn sie Kapitalkosten-Zuschüsse bekommen, und - das wird oft vergessen -, auch Zuschüsse zu den operativen Kosten. Denn diese neuen Anlagen werden oft mit Energieträgern betrieben, die heute noch wesentlich teurer sind, grünem Wasserstoff zum Beispiel. Das heißt, auch über die Laufzeit dieser Anlagen müssen sie dann bezuschusst werden. Sonst werden diese Investitionsentscheidungen heute nicht getroffen. Ich glaube, das muss am Ende so ein harmonisches Bündel sein aus verschiedenen Maßnahmen.
Carsten Roemheld: Sind uns da die USA deutlich voraus mit dem Inflation Reduction Act, den sie ja wirklich in einem riesigen Paket lanciert haben? Bei dem es um Klimaschutz geht, Energiesicherheit, aber auch neue Unternehmenssteuern und eben auch darum, bestimmte Produkte wie Autos, Batterien oder Solarzellen nach Nordamerika zurückzuverlagern. Sind die Amerikaner uns damit voraus? Ich meine, das nennt sich Inflation Reduction Act, aber am Ende ist es nicht eine Strategie zur Reduzierung der Inflation, jedenfalls kurzfristig mit Sicherheit nicht. Aber da sind eine Menge Subventionen, ist auch eine Menge Protektionismus mit drin. Kann man auf diese Weise das Problem in den Griff bekommen? Oder sehen Sie an der Stelle schon, dass über das Ziel hinausgeschossen wurde?
Janek Steitz: Ich glaube, beim Inflation Reduction Act muss man die Entstehungsgeschichte berücksichtigen: Das ist jetzt nach ökonomischen Standards sicherlich kein effizientes Paket, um Emissionen zu reduzieren. Aber es gab in Amerika eben keine Mehrheiten für einen Emissionshandel. Und ich glaube, das war jetzt eine pragmatische politische Lösung, um jetzt in den Staaten auch in die Gänge zu kommen. Und weil es eben keine politischen Mehrheiten für einen Emissionshandel gab, wird jetzt einfach stärker als hier in Deutschland und Europa auf Subventionen gesetzt. Und es ist auch erst mal sinnvoll, um jetzt einfach effektiv Emissionen reduzieren zu können. Und natürlich, weil Sie Protektionismus ansprachen: In gewisser Weise ist der IRA ein trojanisches Pferd. Man hat jetzt als Inflations-Bekämpfungsgesetz gelabelt und gleich aufgeladen mit Anti-China-Rhetorik, mit einer Made-in-Amerika-Strategie - und das lässt sich natürlich einfach wesentlich besser verkaufen. Kommunikativ ist das, glaube ich, sehr, sehr effektiv. Aber tatsächlich gibt es auch Bereiche, wo wir denken, dass die uns da jetzt tatsächlich voraus sind. Zum Beispiel mit den Anforderungen, in den Industrien, die Tax-Credits in Anspruch nehmen, dann gewöhnliche Löhne zu bezahlen, also die Subvention an bestimmte Voraussetzungen zu knüpfen, dass eben dann Arbeit entsprechend bezahlt werden muss. Und das passt ein bisschen dazu, was wir eingangs besprachen, dass man jetzt in dieser unsicheren Zeit vor allen Dingen auch gut bezahlte Jobs schaffen muss, weil das wesentlich dazu beiträgt, dass wirtschaftliche Unsicherheit reduziert wird. Ich glaube, da können wir uns ein bisschen was von den USA abschauen. Joe Biden hat das ja ganz treffend formuliert, als er sagte: "When I think climate change, I think jobs."
Carsten Roemheld: Wie fällt der Vergleich aus, wenn wir den Green Deal Industrial Plan der EU vergleichen, vielleicht mit dem milliardenschweren US-Paket? Und was bringt denn dieser Subventions- und Standortwettbewerb dem Weltklima insgesamt?
Janek Steitz: Tatsächlich ist es ein bisschen schwer, die Programme zu vergleichen, denn wir haben jetzt in Amerika dieses eine Programm, das zwar auch schon sehr komplex ist und viele Unterbereiche hat, aber es ist irgendwie ein abgrenzbares Programm. Und wir haben in der EU wirklich eine Vielzahl unterschiedlicher Programme, Gesetzpakete und Maßnahmen, und viele davon sind tatsächlich einfach auch noch nicht gesetzt. Also, die Europäische Kommission hat ja jetzt den Net Zero Industry Act vorgeschlagen, um die Produktionskapazitäten für erneuerbare Technologien, also Wind, Solarproduktion, Elektrolyseure, Wärmepumpen, Batterien et cetera, hochzufahren. Das kann man, glaube ich, nicht unabhängig sehen von der Lockerung der Beihilferegeln. Also, wir haben jetzt das Temporary Crisis and Transition Framework, das Mitgliedsländern der Europäischen Union nochmal erlaubt, Beihilfe an die Industrie zu geben. Hier wurden jetzt die Restriktionen noch mal ein bisschen gelockert. Tatsächlich wurde jetzt auch ein Teil eingeführt, dass Länder die Subventionshöhen in anderen internationalen Vergleichsländern matchen können. Das heißt, hier versucht man dann aufzuschließen. Es gibt auch noch eine Reihe an anderen Maßnahmen, die Hydrogen Bank, die konkret Wasserstoff finanzieren soll; gleichzeitig arbeitet die Europäischen Union auch an der Überarbeitung des Strommarktdesigns. Also, da kommen verschiedene Sachen zusammen.
Der Punkt ist aber, und das ist, glaube ich, ganz wichtig, wenn man das vergleicht mit dem IRA: Ganz viele der Maßnahmen, insbesondere auch der Aufbau von Produktionskapazitäten über den Net Zero Industry Act, wurden bisher nicht mit zusätzlichem Geld hinterlegt. Das heißt, man spricht jetzt über neue Produktionsziele, weiß aber noch nicht, wie man das auf europäischer Ebene finanzieren will, und geht jetzt den Umweg darüber, dass man es Ländern erlaubt, über die Lockerung des Beihilferechts zu finanzieren. Aber da ist in der Europäischen Union dann immer die Gefahr, dass es zunehmend zu einer Fragmentierung in der Währungsunion kommt. Das ist ein großes Problem. Ein anderes Problem ist, dass die Antwort der Europäischen Union noch relativ breit angelegt ist: Also ist es realistisch, dass wir jetzt durch diese verschiedenen Technologien, die ich gerade nannte, Produktionskapazitäten von 40 Prozent der Nachfrage in Europa schaffen? Ist das sinnvoll eingesetztes Geld? Ich glaube, da muss man noch ein bisschen weiterdenken. Denn sonst kommt man wirklich in diesen Wettbewerb, den Sie ansprachen. Wir tendieren momentan dazu, dass man sagt: Wir sollten uns darauf konzentrieren, Geld in den Sektoren zu allokieren, wo wir langfristig wettbewerbsfähig sein können. Zugleich hängt die Möglichkeit des Imports immer auch davon ab, wie die Produktionskapazitäten global verteilt sind. Also, wenn man da in einseitige Abhängigkeiten reinläuft, zum Beispiel von China, will man das natürlich vermeiden. Die richtige Balance zu finden zwischen zu Hause produzieren, Friendshoring, Diversifizierung ist nicht einfach. Aber es ist das, worum es jetzt geht.
Carsten Roemheld: Da kommen noch einige Herausforderungen auf uns zu. Im Rahmen dieses Europäischen Green Deal Industrial Plans ist auch von der Qualifizierungsoffensive die Rede, nämlich man will Qualifikation und Kompetenz für gut bezahlte Arbeitsplätze gefördert wissen, damit man die Energiewende schafft, ohne eine Massenarbeitslosigkeit zu riskieren. Glauben sie, dass das ein erfolgsversprechender Weg ist, der dort eingeschlagen wird?
Janek Steitz: Ich glaube, es ist ein guter Weg, dass man jetzt über die Qualifizierungsoffensive nachdenkt. Was da jetzt konkret bei rauskommt, steht noch auf einem anderen Blatt Papier. Konkret geht es ja um die Gründung sogenannter Net-Zero-Industry-Akademien, über die dann neue Lernprogramme und Materialien entwickelt werden sollen, die dann den Behörden und Institutionen in den Mitgliedsländern zur Verfügung stehen, um in den Sektoren, die jetzt für den Hochlauf dieser erneuerbaren Technologie notwendig sind, Fachkräfte zur Verfügung stehen zu haben. Es ist ein komplexes Thema, das wir seit Jahren diskutieren, bei dem wir aber wenig Fortschritte machen. Ich kann tatsächlich noch nicht einschätzen, welchen Impuls diese neuen Akademien geben sollen. Aber ich glaube, was man festhalten kann: Dass es jetzt breit angelegte Fachkräftestrategien braucht, ist absolut klar und notwendig, und das muss sicherlich auch gekoppelt werden, zum Beispiel mit einem Programm, die Produktivität im Handwerk, im Bausektor hochzukriegen. Es gibt einfach bestimmte Sektoren, da laufen wir jetzt schon sehenden Auges in Engpässe rein, und das müssen wir adressieren. Ansonsten wird das zum Hemmschuh.
Was ich dagegen nicht sehe, ist, dass wir in eine Situation mit Massenarbeitslosigkeit reinlaufen. Da werden wir uns jetzt tatsächlich eher am anderen Ende des Spektrums befinden. Die Frage ist eher: Wie können wir die Arbeitsnachfrage bedienen?
Carsten Roemheld: Das wäre ja eine ganz positive Nachricht, und wir müssen langsam zum Ende kommen. Deswegen mal eine abschließende Frage noch zum Thema Finanzen. Wenn wir diese Klimainvestitionen, wie wir gerade besprochen haben, mit höheren Schulden und auch vielleicht mehr Arbeitslosigkeit bezahlen, dann ist die Frage, ob wir uns sozusagen die Nachhaltigkeit in Umweltfragen mit einer nicht zu nachhaltigen Finanzpolitik einkaufen, die ja dann auch wieder auf nachfolgende Generationen natürlich nachteilig wirkt, indem wir einfach höhere Schulden haben, die wir auf Dauer abbauen müssen. Also die Frage: Passt das Thema Nachhaltigkeit beim Klima auch zum Thema Nachhaltigkeit bei den Finanzen?
Janek Steitz: Was bei dieser Frage, die auch momentan hoch und runter diskutiert wird, oftmals vergessen wird, ist: Was wäre denn die Alternative? Wenn wir jetzt nicht wirklich in die Pötte kommen und alles machen, um unsere Emissionen runterzukriegen und die Wirtschaft zu transformieren, was wäre die Alternative? Man kennt das ja aus Studien. Man hat dann diese schönen Referenzszenarien, wo das Wachstum dann auch noch weitergeht, und man hat einfach nur ein paar weniger Emissionen. Aber das ist ja tatsächlich auch konstitutionell, was jetzt einfach nicht mehr möglich ist. Wir haben Klimaschutz gesetzt, wir haben verbindliche Emissionsminderungsziele, und ich glaube, man muss die einfach als harten Constraint sehen. Und es gibt tatsächlich diverse Studien, die jetzt auch schon zeigen: Delayed-Transition-Szenarien werden volkswirtschaftlich einfach teurer. Im Zweifel müssen wir es dann, wenn wir es jetzt weiter hinauszögern, eben mit der Axt machen. Und dann sprechen wir über Abschaltung von Industriezweigen oder anderen drastischeren Maßnahmen. Und ich glaube, vor dem Kontext muss man das sehen. Und auch vor dem Kontext, was passiert eigentlich mit der Natur, wenn wir das nicht machen? Ich will jetzt gar nicht über Kipppunkte etc. sprechen, Nicht-Linaritäten im Erdsystem, aber diese Klimafolgen, die uns drohen, auch diese Tail Risks, die müssen wir einfach unbedingt vermeiden.
Insofern, vor dem Hintergrund kann man, glaube ich sagen, Risiken für die Finanzstabilität sind größer, wenn wir jetzt nicht loslegen. Und vielleicht ein letzter Punkt, ending on a positive note: Was oftmals aus meiner Sicht übersehen wird, ist, und auch da gibt es jetzt mehr und mehr Studien, ist, dass das Energiesystem, das wir uns jetzt aufbauen, das Potenzial hat, strukturell billiger zu sein als das fossile System heute, auch ohne CO2-Preise. Das heißt, wir laufen langfristig in ein billigeres System rein. Elektrifizierung als langfristiger Wachstums- und Wohlstandstreiber. Auch vor dem Kontext am langen Ende mache ich mir jetzt über die fiskalische Nachhaltigkeit bei dem Projekt weniger Sorgen als viele andere.
Carsten Roemheld: Das ist prima, wirklich, ending on a positive note, hervorragend! Wir müssen natürlich versuchen, alle mitzunehmen dabei, denn, selbst wenn wir sozusagen alleine sind, auch die EU alleine ist, die Amerikaner machen ja auch schon mit, insbesondere, aber wir müssen natürlich auch noch ein paar andere mit ins Boot bekommen, damit die Sache global funktioniert. Dann ist das, glaube ich, erfolgversprechend. Ich danke Ihnen sehr für das spannende Gespräch. Die 45 Minuten sind wirklich wie im Flug vergangen. Das soll es für heute gewesen sein.
Auch Ihnen, liebe Zuhörer, herzlichen Dank für Ihr Interesse. Wir hoffen, dass wir Ihnen heute mal wieder ein paar spannende Einblicke von einem Experten gebracht haben, die Sie weiterbringen. Wir sehen uns hoffentlich beim nächsten Mal wieder oder bei einem der vielen anderen Formate, die wir für Sie bereithalten. Schauen Sie doch mal dazu auf unsere Webseite.
Herzlichen Dank. Viele Grüße. Ihr Carsten Roemheld.