China, Russland und Taiwan (Teil 1): Der neue Ost-West-Konflikt
Carsten Roemheld: Seit dem 24. Februar herrscht wieder ein Krieg in Europa. Russland ist in die Ukraine einmarschiert. Millionen Ukrainer sind geflüchtet. Viele Tausend Menschen sind gestorben. Während sich die meisten Nationen der Welt einig sind, dass Russland für diesen Angriffskrieg zur Rechenschaft zu ziehen ist, bemühen sich andere um eine neutrale Position, allen voran China. Wie tief die Verflechtung der beiden Staaten ist, wurde in den vergangenen Wochen während des Ukraine-Krieges immer wieder deutlich. So soll der chinesische Generalsekretär Xi Jinping schon von Putins Plan gewusst haben und ihn gebeten haben, mit dem Einmarsch bis nach den Olympischen Spielen zu warten. Im UN-Sicherheitsrat und in der UN-Vollversammlung steht China hinter Russland. Die Volksrepublik bemüht sich offenbar auf vielen Ebenen um Neutralität in diesem Konflikt. China will weder den Westen als wichtigen Handelspartner verlieren noch Russland als geostrategischen Verbündeten.
Einige vermuten noch einen weiteren Grund hinter der chinesischen Position: Taiwan. Seit mehr als 70 Jahren schwelt zwischen China und Taiwan ein Konflikt. Die aus chinesischer Sicht abtrünnige Provinz ist international nicht als eigenständige Republik anerkannt, wird aber doch von vielen als eigenständig betrachtet. Die Kommunistische Partei Chinas wiederum will die Insel gern mit dem Festland vereinen, notfalls auch mit Gewalt. Das unterstreicht Peking immer wieder mit Militärflügen, die regelmäßig Taiwan passieren und teilweise auch in den Luftraum eindringen. Es gibt daher Vermutungen, dass China sich aktuell nur deshalb so ruhig verhält, weil man die Reaktion des Westens im Ukraine-Krieg genau studieren will, um daraus für eine mögliche Eskalation in Taiwan gewappnet zu sein. Ist das wirklich so? Und wie steht es in dieser neuen Welt überhaupt um das Riesenreich China, das vielen von uns immer noch so fern ist?
Darüber rede ich mit meinem heutigen Gesprächspartner, Professor Dr. Heilmann. Er ist einer der international bekanntesten China-Experten in Deutschland, führt den Lehrstuhl für Politik und Wirtschaft Chinas an der Universität in Trier und war von 2013 bis 2018 als Gründungsdirektor des ‚Mercator Institute for China Studies‘ tätig.
Heute ist Mittwoch, der 20. April 2022, mein Name ist Carsten Roemheld, ich bin Kapitalmarkt-Stratege bei Fidelity und ich freue mich ganz besonders auf die kommenden 45 Minuten mit Professor Sebastian Heilmann, der vor zwei Jahren schon einmal bei mir zu Gast war.
Herzlich willkommen also erneut beim Kapitalmarkt-Podcast von Fidelity, Herr Heilmann.
Sebastian Heilmann: Ich freue mich auch, Herr Roemheld. Vielen Dank für die Einladung.
Carsten Roemheld: Im Fokus des Weltgeschehens stehen im Moment natürlich ganz besonders Russland und die Ukraine als beteiligte Kriegsparteien, aber auch über die Position des Westens, also Europa und die USA, wird viel gesprochen. Über China, den größten der wenigen letzten Verbündeten Russlands, wird deutlich seltener berichtet. Wie beurteilen Sie aktuell die Rolle Chinas in diesem Kriegsgeschehen?
Sebastian Heilmann: China unterstützt Russland in vielerlei Hinsicht. Das Wichtigste ist, glaube ich, dass die Storyline Russlands mitgetragen wird. Das heißt, die USA sind eigentlich der Verursacher. Die NATO hat das provoziert, diesen Krieg, und letztlich ist auch klar, dass die Sanktionen nicht mitgetragen werden, ganz explizit von China, auch in vielen internationalen Organisationen. Das heißt, ich würde sagen, China zieht da nicht die Fäden oder so, also keine Verschwörung in dem Sinne. Also es ist klar, dass China Russland unterstützt in vielen sehr zentralen Fragen, und geostrategisch ist eindeutig, dass die Interessen von Russland und China sich sehr eng decken – im Gegensatz zum Westen und zur USA.
Carsten Roemheld: Sie betonen ja in Gesprächen auch mit Medien immer wieder, dass die Beziehungen zwischen Putin und Xi Jinping viel tiefer sind und schon länger bestehen als von vielen angenommen. Wird diese Freundschaft auch bei den chinesischen und russischen Staatsmedien denn befeuert und unterstützt?
Sebastian Heilmann: Ja, schon. Das ist klar, dass das schon die engste Freundschaft ist und die vertrautesten Führungspersönlichkeiten sind, das wird schon zelebriert. Die gehen gemeinsam zu Geburtstagsfeiern, die haben Militärparaden gemeinsam abgenommen. Das ist schon eine Beziehung, wo die beiden sich auch austauschen offenbar über vertrauliche Fragen, über geopolitische Strategien; mit denen, die sonst mit niemandem reden können. Es ist also tatsächlich so: „it’s lonely at the top!“ Es ist klar, diese beiden haben sich gefunden und reden tatsächlich über diese ganzen sehr konfliktträchtigen Fragen.
Carsten Roemheld: Lassen Sie uns in den kommenden Minuten einmal die verschiedenen Auswirkungen getrennt betrachten und tiefer in die chinesische Volksrepublik und ihre Bestrebungen einsteigen. Fangen wir mal mit der wirtschaftlichen Dimension an: Unternehmen ziehen sich aufgrund moralischer Bedenken oder Sanktionen des Westens eben aus Russland zurück. Das hat schon ernste Folgen für die russische Wirtschaft und auch den Rubel. Kann China denn als einer der letzten Verbündeten das auffangen?
Sebastian Heilmann: Wenn, dann nicht das ganze Volumen. Es ist klar, dass so schnell diese Umsteuerung nicht gelingt, dass Russland natürlich von den Energie- und Rohstoffmärkten sehr stark an den westlichen Märkten auch weiterhin an diese angekoppelt ist und war. Und das wird über Jahre hinweg – also diese neue Orientierung – sich ziehen. China aber nimmt natürlich jetzt Erdöl-Lieferungen zu günstigeren Konditionen auf. China liefert auf der anderen Seite auch Mikroelektronik weiterhin, also Industrie- und Konsumgüter, nach Russland. Das ist schon so, dass China und Russland da sehr komplementär sind, dass da also noch viel Potenzial ist zwischen den beiden im wirtschaftlichen Austausch.
Carsten Roemheld: Inwiefern kann denn Russland von einer engen Wirtschaftsbeziehung auch zum chinesischen Festland profitieren? Gerade im Bereich Technologie sind die Sanktionen ja sehr dramatisch für Russland und es schneidet das Land quasi vom technischen Fortschritt ab. Wir hören nicht nur von einem Importstopp, sondern auch von einer massiven Abwanderung von IT-Experten aus Russland. Kann denn China das kompensieren?
Sebastian Heilmann: Das wird schwierig werden, denn China ist natürlich in der starken Position, hat diese Fachkräfte, hat Innovationskraft im IT-Bereich. Das heißt, wir müssen damit rechnen, dass Russland eher abhängiger wird von China. Und das ist aus chinesischer Sicht auch nicht unbedingt, wie soll man sagen, nachteilig: dass Russland wahrscheinlich als Ergebnis des Krieges eher zum Juniorpartner wird und China ganz klar eine überlegene Position haben wird.
Carsten Roemheld: Und wenn China jetzt zum Förderer Russlands wird, riskiert es dann die eigenen Handelsbeziehungen, die ja sehr ausgeprägt sind, auch zum Westen? Schließlich ist nicht nur der Westen von chinesischen Waren- und Dienstleistungen abhängig, aber auch die Volksrepublik natürlich – im Wechsel – von Europa und der USA.
Sebastian Heilmann: Ja, China ist da sehr vorsichtig, das ist sehr interessant momentan, das ist so eine Art Eiertanz: Ich versuche nur, diese Fettnäpfchen zu vermeiden, auf keinen Fall sekundäre Sanktionen auf sich zu ziehen. Das heißt, die liefern natürlich keine Waffen direkt. Wir haben auch keine Kampfdrohne über der Ukraine gesehen, die aus China kam in der Form. Das heißt, die sind vorsichtig, dass sie nicht diese volle Breitseite westlicher Sanktionen auf sich ziehen, die dann auch die Außenwirtschaftsbeziehungen Chinas schwer beschädigen können. Export ist sehr wichtig für China momentan für das Wachstum und für die Stabilität. Und da ist China wirklich sehr sensibel, würde ich mal sagen.
Aber es gibt andere: Also die großen Staatsunternehmen halten sich zurück, viele kleine chinesische Unternehmen sind massiv in den russischen Markt gegangen jetzt und da läuft viel sozusagen unterhalb der Sichtbarkeit gegenwärtig. Das werden wir erst in Ruhe auswerten müssen, aber ich nehme an, dass da wesentlich mehr läuft, als wir bis jetzt in der Öffentlichkeit haben sehen können.
Carsten Roemheld: Sie sprechen davon, dass China und der Westen, insbesondere die USA, sich bereits bemühen, die Abhängigkeiten zu lösen. Jetzt lässt sich jahrzehntelange Globalisierung nicht von heute auf morgen zurückdrehen. Kommt dieser Ukraine-Krieg für China also zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt?
Sebastian Heilmann: Ich denke schon, dass aus chinesischer Sicht der zu früh gekommen ist, weil China natürlich gedacht hat: Dieses Jahrzehnt bauen wir weiter auf, wir werden immer stärker, immer unabhängiger, auch von westlichen Inputs, von westlichen Lieferungen in allen Bereichen, westlicher Technologie, und am Ende dieses Jahrzehnts ist sozusagen der Weg frei. Es kommt im Grunde jetzt diese Frontstellung, die sich aus dem Ukraine-Krieg ergibt, die kommt für China eindeutig zu früh. Das heißt, die hätten noch fünf, sechs Jahre gebraucht, um eine Position zu erreichen, wo sie im Grunde unangreifbar sind. Das ist jetzt nicht der Fall.
Carsten Roemheld: Wie wirkt sich das alles auf unseren Wohlstand aus? Müssen wir jetzt ein paar Jahre zurückstecken, bis die von Ihnen in verschiedenen Gesprächen geforderte Regionalisierung der Industrie in Europa greift?
Sebastian Heilmann: Ja, wir haben momentan eine Situation, wo sowieso die wirtschaftliche Entwicklung natürlich angeschlagen ist. Ich würde aber definitiv sagen, dass dieser Ukraine-Krieg eine Neuorientierung erzwingt: natürlich in der Außenpolitik, Geopolitik, aber auch in den Außenwirtschaftsbeziehungen. Es geht ganz klar darum, das ist die große Lektion, dass wir die Abhängigkeiten von aggressiven, autoritären Staaten, dass wir diese tatsächlichen Großmächte, dass wir die im Grunde reduzieren müssen.
Das ist, glaube ich, die große Lektion und da steht uns bei China natürlich auch vieles an Anpassung bevor. Und das sehe ich als die große Aufgabe für die nächsten Jahre. Das wird viel Unruhe geben, das wird auch Risiken geben, nicht nur im geopolitischen Bereich jetzt von den Konflikten her, sondern auch diese Neuorganisation der Lieferketten, die wird natürlich viel kosten. Und das bahnt sich an, dass das im nächsten Jahr sehr schwierig wird; zusätzlich zu den anderen Problemen, die wir haben, mit Inflation und Corona-Pandemie und so weiter.
Carsten Roemheld: Bleiben wir direkt mal bei der Reaktion des Westens, aber lassen Sie uns mal in die politische Dimension wechseln: Das Verhältnis zwischen den USA, Europa und der Volksrepublik China war seit jeher angespannt. Aufgrund der wichtigen Handelsbeziehungen wurde bislang großzügig über Menschenrechtsverletzungen und Umweltsünden hinweggesehen. Glauben Sie, dass sich das in Anbetracht der neuesten Entwicklungen ändern könnte?
Sebastian Heilmann: Das denke ich schon. Wir haben ja eigentlich jahrzehntelang, seit den 90er Jahren haben wir diese auch systemischen Gegensätze zur Seite geschoben, weil wir dachten, wir können China integrieren und das wird sozusagen uns dann ähnlicher machen insgesamt. Und das war sozusagen ja eine politische Brücke, die wir da gebaut haben. Jetzt dagegen sehen wir, dass diese Unvereinbarkeiten immer deutlicher werden. Und insofern rechne ich schon damit, dass sich das auseinanderdividieren wird und nicht so in der Form weitergehen kann, wie das in den letzten 30 Jahren der Fall war. Das heißt, dieser System-Gegensatz, dieser System-Konflikt tritt immer stärker in den Vordergrund, je bewusster wir uns werden, dass wir dort wirklich eine Autokratie vor Augen haben, die mit unseren Ordnungs- und Wertvorstellungen ganz und gar nicht übereinstimmt und dazu auch noch aggressiv werden kann – bspw. gegenüber Taiwan.
Carsten Roemheld: Das hätte dann auch massive Auswirkungen auf die Globalisierung, wenn man so will, und würde bestimmte Handelsflüsse unterbrechen. Glauben Sie denn vor diesem Hintergrund, dass wir vielleicht den Peak der Globalisierung jetzt schon hinter uns haben?
Sebastian Heilmann: Ich denke schon, dass wir davon ausgehen müssen, dass diese Art von offener Verflechtung, regelbasiert und sehr, wie soll man sagen, auf kostenoptimierende Lieferketten ausgerichtet, dass diese Globalisierung, diese Höchstphase, die wir hatten nach dem Ende des Kalten Krieges, dass die wirklich jetzt zu Ende geht. Wir haben jetzt wieder Spaltung, wir haben im Grunde ein neues Koordinatensystem, wo wieder Sicherheitsbedrohungen eine große Rolle spielen, wo Allianzen und Einflusszonen eine große Rolle spielen und insgesamt diese Großmachtrivalitäten in den Vordergrund treten. Und das ist ein großer, ein fundamentaler Unterschied, eine völlig andere Ordnung als das, was wir in der sogenannten „Pax Americana“ erlebt haben nach 1991 – also wo im Grunde unter amerikanischer Hegemonie diese Globalisierung mit der gesamten Vertiefung in der gesamten Breite tatsächlich verfolgt werden konnte. Diese Zeiten sind, denke ich, jetzt definitiv vorbei.
Carsten Roemheld: Also stehen wir quasi vor einer Zäsur der globalen Geopolitik. Das ist natürlich etwas, was man sich erst noch langsam klar machen muss. Wenn wir über Politik und Reaktionen aus dem Westen sprechen, dann müssen wir auch über Taiwan sprechen. Ich hatte es in der Einführung auch schon erwähnt: China ist ja diese eigenständige Insel ein Dorn im Auge, sie soll wieder mit dem Festland vereint werden in absehbarer Zeit. Glauben Sie daran, dass die Volksrepublik im Fall Taiwan auch zu militärischen Mitteln greifen könnte?
Sebastian Heilmann: Das ist nicht ausgeschlossen worden. Also von chinesischer offizieller Seite ist klar, dass diese militärische Option auf dem Tisch liegt, falls Taiwan immer weiter in Richtung Selbstständigkeit und Unabhängigkeit sich bewegen sollte und falls ausländische Mächte eingreifen in diesen Konflikt, der aus chinesischer Sicht ja nur eine Arrondierung darstellt. Taiwan ist Teil der Volksrepublik China – aus der Sicht Pekings. Und das heißt, dass das eine völlig andere Lage ist und China das Recht hat sozusagen, diese Wiedervereinigung notfalls auch mit militärischen Mitteln zu sichern.
Carsten Roemheld: Im Unterschied zur Ukraine, die ja quasi ein eigenständiger Staat, ein anerkannter Staat ist. Und bei Taiwan ist es eben offiziell nicht der Fall.
Sebastian Heilmann: Genau, also eine völlig andere, aus Pekinger Sicht zumindest eine völlig andere Lage – aus westlicher Sicht sieht das natürlich anders aus, weil Taiwan de facto ja ein selbstständiger Staat ist und vor allem eine liberale Demokratie ist, die eng verbunden ist mit allen möglichen US-Alliierten natürlich auch, wirtschaftlich aufs Engste verbunden ist mit unseren Lieferketten, vor allem im Halbleiter-Bereich. Und das heißt, dass Taiwan natürlich letztlich mehr zu dieser westlichen, zu den gleichgesinnten Staaten und Ökonomien gehört. Das verändert das Bild aus westlicher Sicht und deckt sich nicht mit dem, was Peking an Vorstellungen hat.
Carsten Roemheld: Das wollte ich gerade fragen: Warum ist Taiwan für China eigentlich so wichtig? Ist es eher diese politische Komponente und die historische Komponente, dass man sozusagen davon ausgeht, dass es Teil der Volksrepublik ist? Oder hat es auch wirtschaftliche Implikationen, weil, wie Sie gerade sagen, ja Taiwan ein sehr zentraler Teil auch des westlichen Technologie-Handels-Flows ist?
Sebastian Heilmann: Also aus der Sicht von Xi Jinping, das ist ja der maßgebliche Mann, ist es die historische Aufgabe der Kommunistischen Partei, die Wiedervereinigung Chinas, die Einheit Chinas wiederherzustellen. Und das ist tatsächlich, das sollten wir nicht unterschätzen, das kommt in allen Dokumenten vor, das ist im Grunde Programm. Das heißt, erst dann ist dieser Wiederaufstieg Chinas, die Wiedergeburt Chinas ist erst dann vollständig, wenn Taiwan wieder dazugehört.
Das ist schon ein historischer Auftrag, das ist ein geostrategischer Auftrag und die werden davon nicht abrücken. Es ist ganz klar, dass bei Xi Jinping – mal salopp gesagt – Taiwan ganz oben auf seiner Speisekarte steht. Und das muss sozusagen in seiner Amtszeit, in seiner aktiven Zeit auch noch geregelt werden. Das gibt einen gewissen Druck und das macht die Sache auch tatsächlich so angespannt, die Lage in dieser Region, weil letztlich klar ist, dass diese chinesische Führung keine andere Lösung akzeptieren wird als die Wiedervereinigung zwischen dem Festland und Taiwan.
Carsten Roemheld: Und wie würden Sie die zeitliche Komponente in diesem Punkt sehen?
Sebastian Heilmann: Das ist jetzt wichtig, weil nämlich dieser Ukraine-Krieg hat einiges natürlich an Lektionen ausgelöst auf chinesischer Seite, auch auf westlicher Seite. Das heißt, dass da das Spiel sich verändert hat. Das heißt im Grunde, zunächst mal sollten wir erwarten, dass China jetzt vorsichtiger vorgeht, weil sich zeigt, wie schwierig so was tatsächlich ist – also Militäraktionen durchzuführen – und wie hart der Westen auch reagiert.
Es kann aber auch sein – ich will da auch sehr vorsichtig sein –, dass das eher die Aktivitäten beschleunigen kann, falls es bspw. in den USA zu einer Situation kommt innenpolitisch, wo aus Pekinger Sicht Washington nicht mehr handlungsfähig ist, außenpolitisch und militärisch. Also wenn es gegenläufige Mehrheiten gibt im Kongress, wenn Donald Trump wiedergewählt werden sollte, dann ist die USA wahrscheinlich in den Entscheidungsverfahren so angeschlagen, dass es eine Chance gibt, eine historische Chance gibt aus Pekinger Sicht, dieses Taiwan-Problem zu lösen. Und das wäre sozusagen dann eine Beschleunigung des gesamten Vorgangs.
Ich bin sehr vorsichtig, das hängt von Variablen ab, die vor allem natürlich jetzt auch im Verhältnis zu den USA zu sehen sind. Letztlich ist der entscheidende Faktor die Handlungsfähigkeit und Entschlossenheit der USA, was diese Verteidigung Taiwans angeht.
Carsten Roemheld: Im Fall der Ukraine hatte auch keiner richtig geglaubt, dass die russische Invasion so brutal ausfallen würde und ein richtiger, ein großer Krieg hier entbrennen würde. Die rhetorischen Mittel Russlands und Chinas sind ja durchaus ähnlich. Beide sprechen über die anderen Nationen so, als gehörten sie ihnen. Wir haben schon ein paar Unterschiede angesprochen und ein paar Vergleichbarkeiten. Können Sie vielleicht da noch mal zwei, drei Dinge erwähnen, die noch größere Unterschiede jetzt zu dem Krieg Russland – Ukraine darstellen zu China – Taiwan?
Sebastian Heilmann: China trägt immer vor sich her, dass die Unabhängigkeit von Staaten, von souveränen Staaten, die territoriale Integrität, dass die wirklich unverletzlich sein muss und dass das eine Leitlinie ist der chinesischen Außenpolitik. Das bezieht sich aber, wie wir sehen, natürlich auch auf die Ukraine nicht wirklich in einer glaubwürdigen Weise, weil ja die russische Position an sehr vielen Stellen unterstützt wird: dass das im Grunde eine Gegenaktion gegen die NATO-Aggressivität war in Osteuropa. Das heißt, wir sehen da schon, dass die Position bröckelt und Taiwan ist nun aus der Sicht Pekings ein völlig anderes Spiel, wo der Westen überhaupt nichts drin zu suchen hat. Das ist ein innenpolitisches Problem aus der Pekinger Sicht und insofern ist diese Konstellation tatsächlich völlig anders.
Es ist andererseits so, dass die USA Waffen liefert an Taiwan. Es gibt so eine strategische Ambiguität, eine Zweideutigkeit, die die USA betreibt. Es ist nicht klar, ob im Ernstfall wirklich Militärhilfe geleistet wird, aber wir haben in Ostasien, das sollten wir sehr ernst nehmen, eine härtere Positionierung von maßgeblichen US-Alliierten inzwischen gegenüber China. Das bezieht sich auf Japan, bezieht sich auf Australien und zunehmend jetzt auch auf Südkorea. Das heißt, es ist so, dass diese Gegenmachtbildung und Gegenallianzenbildung gegen China auch in Ostasien läuft. Und das macht die Taiwan-Frage noch wesentlich schwieriger und auch heikler, was die Sicherheitslage angeht. Das heißt, wir müssen definitiv mit großen Militäraktionen rechnen, wenn bei Taiwan was schiefläuft.
Carsten Roemheld: Aber da würde ich gerne noch mal auch näher nachfragen. Die Weltgemeinschaft hat ja Taiwan im Gegensatz zur Ukraine nie als Staat anerkannt. Jetzt sprechen Sie auch von dieser Allianzenbildung. Wären dem Westen nicht in gewisser Weise auch die Hände gebunden, weil sie sozusagen sich dann in ein innenpolitisches Thema einmischen würden, anders jetzt zum Beispiel als in der Frage der Ukraine?
Sebastian Heilmann: Ja, am Ende ist nicht das Völkerrecht maßgeblich, ich glaube, das haben wir gelernt. Am Ende ist dann die militärische Positionierung und auch Gewaltausübung sozusagen in dem konkreten Konflikt maßgeblich – da werden Fakten geschaffen. Die Ukraine als völkerrechtliches Thema ist klar, denke ich, aus jeder Hinsicht und trotzdem gab es in der UN und im Sicherheitsrat keine klaren Linien und China hat sich zurückgehalten oder auf die russische Seite geschlagen, zumindest in einer zurückhaltenden Form. Also das ist klar, dass am Ende nicht der völkerrechtliche Status Taiwans maßgeblich ist, sondern die Konflikt-Konstellationen.
Wenn die westlichen Allianzen zu dem Schluss kommen, wir müssen Taiwan verteidigen, es geht hier um grundsätzliche Fragen, wir dürfen die gewaltsame Expansion des chinesischen Systems nicht weiter hinnehmen, dann wird es zum schweren Konflikt kommen, ohne jede Frage. Und wir wissen das alle bzw. wir haben es auch alle gesehen, dass diese US-geführten Allianzen unter der Biden-Administration sehr stark wiederbelebt und mobilisiert worden sind.
Und ich denke, allen ist klar, was da auf dem Spiel steht. Wir haben hier aggressive, autoritär regierte Großmächte, die sozusagen, wenn sie nicht mehr Rücksicht nehmen müssen, dann wirklich alles machen, um ihre Macht in ihrem Umfeld, in ihrer Einflusszone auszudehnen, auch mit militärischen Mitteln. Und das ist tatsächlich die Realität, vor der wir im Westen stehen. Wir müssen mit gewaltsamen militärischen Aktionen auch Chinas vermehrt rechnen in den nächsten Jahren.
Carsten Roemheld: Das sind wirklich keine beruhigenden Aussichten, Herr Professor Heilmann. Aber das ist wohl die neue Realität, an die wir uns in diesen Zeiten zu gewöhnen haben.
An dieser Stelle gönne ich Ihnen und uns eine kurze Pause. Ich danke Ihnen herzlich für Ihre klare Einordnung von Chinas Eiertanz mit Russland, den Sie so griffig beschrieben haben, und auch für die Analyse der Lage Taiwans, die uns, so höre ich heraus, in den kommenden Jahren noch intensiv beschäftigen wird.
Im zweiten Teil unseres Podcasts will ich diesen Punkt noch einmal vertiefen und insbesondere über die Positionen der USA und Europas in Taiwan-Konflikt sprechen. Außerdem reden wir darüber, ob Chinas Zero-Covid-Strategie gescheitert ist. Wir hören, warum die Bauwirtschaft die chinesische Wachstumsstory mehr gefährdet als alles andere. Und wir bekommen einen Einblick in die haarsträubende Wirtschaftsregulierung. Hören Sie rein!
Ihr Carsten Roemheld