Carsten Roemheld: Die Staatsschulden der Briten steigen und steigen. Zuletzt zum ersten Mal seit 62 Jahren auf über 100 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Zugleich ist auch die Inflation massiv gewachsen. Sicherlich sind die Verwerfungen durch Pandemie, Krieg und den starken Energiekostenanstieg mitverantwortlich für die Schuldenmisere. Allerdings liegen die Ursachen auch im Brexit, der sich als immer größere Belastung für die Volkswirtschaft erweist. Wie steht es also um die ökonomische Lage unseres europäischen Nachbarn? Folgt auf den Brexit jetzt das große Bedauern, der sogenannte „Bregret“? Was bedeutet das für die Märkte in Europa, wenn Großbritannien zum Schuldenstaat wird? Und: Wie positioniert sich die EU zu alledem? Darüber spreche ich heute mit einem Insider aus Brüssel, der sich gleichermaßen mit der Europäischen Union auskennt und mit dem abtrünnigen Inselstaat Großbritannien: Dr. Fabian Zuleeg.
Fabian Zuleeg ist Geschäftsführer und Chefvolkswirt beim European Policy Center, kurz, EPC. Das EPC ist eine der größten und einflussreichsten politischen Denkfabriken in der europäischen Hauptstadt und gilt als bestens vernetzt in die Kommission, den Rat und ins Parlament. Zuleeg arbeitet eng mit Entscheidungsträgern in europäischen Institutionen und der Brüsseler Interessengemeinschaft zusammen. Er kommuniziert regelmäßig in den Medien aktuelle politische und wirtschaftliche Entwicklungen. Und er hat viele Forschungsarbeiten und Veröffentlichungen zur Europäischen Integration, zur Wirtschafts- und Sozialpolitik verfasst.
In dem kommenden Gespräch wollen wir darüber sprechen, welchen Effekt der Brexit heute auf die Beziehungen Großbritanniens zur EU hat und ob sich im Vereinigten Königreich tatsächlich eine Bregret-Stimmung breitmacht. Heute ist Freitag, der 6. Oktober 2023. Mein Name ist Carsten Roemheld, ich bin Kapitalmarktstratege bei Fidelity, und ich freue mich sehr auf mein Gespräch mit Fabian Zuleeg. Herzlich Willkommen!
Der Brexit wurde im Jahr 2020/21 vollzogen, während die Covid-19-Pandemie tobte. Dann war der Krieg in Europa und ein starker Energiekostenanstieg, die inzwischen natürlich dazugekommen sind. Und auch wenn es schwierig ist, diese verschiedenen Polykrisen, wie wir sie nennen, voneinander zu trennen, lassen sie uns mal versuchen, eine kleine Zwischenbilanz zu ziehen zu den Folgen des Brexits: Anfang 2023 ist das vereinigte Königreich die einzige G7-Wirtschaft, die noch nicht wieder das wirtschaftliche Niveau von 2019, also vor Pandemie und Brexit, erreicht hat. Wie steht es aus ihrer Sicht um die ökonomische Situation in Großbritannien?
Fabian Zuleeg: Ich denke, man muss sehen, dass der Brexit zu einer Zeit vollzogen wurde, wo es schon sehr viele wirtschaftliche Herausforderungen gab. Sowohl in Großbritannien spezifisch als auch generell in Europa, und dass der Brexit dann dazu kam. Wir hatten auch den Effekt, dass sich das über einige Jahre hingezogen hat. Der Gesamteffekt wurde nicht mit dem Referendum eingeläutet, sondern hat sich über die Jahre hin entwickelt, und dazu kamen dann die Krisen, die wir gemeinsam erlebt haben. Das heißt, es kann manchmal sehr schwierig sein, wirklich den spezifischen Effekt des Brexits rauszurechnen. Dazu gibt es auch Schätzungen. Aber generell ist es schon auch für die Bevölkerung nicht sehr einfach zu sehen: Was war davon jetzt der Brexit, was war davon die andere wirtschaftliche Entwicklung? Und natürlich hat man das mit Covid auch sehr direkt persönlich gespürt. Aber im groben Rahmen kann man schon sagen, dass das, was Wirtschaftswissenschaftler vorher vorausgesagt haben, dann auch eingetroffen ist: Wir hatten mehr Schwierigkeiten im Handel. Es wurde schwieriger, Güter gerade aus Großbritannien in die EU zu exportieren. Wir haben gesehen, dass es für gewisse Sektoren besonders schwierig wurde. Wir haben gesehen, dass der Effekt auf den Arbeitsmarkt sehr deutlich war.
Und wenn man das alles zusammennimmt, dann kommt man so ungefähr auf das, was genau von den Wirtschaftswissenschaftlern vorhergesehen wurde: dass wir einen Verlust im Bruttosozialprodukt von ungefähr 4 bis 5 Prozent haben, der sich direkt aus dem Brexit ergibt. Aber, das würde ich sagen, ist langfristig eine Unterschätzung aus zwei Gründen. Einmal nimmt es die Dynamik nicht wirklich in Betracht. Man muss sehen, dass sich das über die Zeit hinweg entwickeln wird, und gerade der Effekt auf die Produktivität, wird sehr wichtig werden. Das andere ist, dass der Brexit auch ein Prozess in Großbritannien losgelöst hat, der dazu führt, dass die wirtschaftliche Stabilität des Landes nicht mehr die ist, die sie vorher war. Und das wird auch langfristig Folgen haben, zum Beispiel für Investitionen und auch für die Sicherheit, die britische Firmen spüren in ihrem eigenen Markt, aber dann eben auch, wenn sie in andere Märkte reingehen wollen.
Carsten Roemheld: Sie haben ja eben schon ein paar Beispiele genannt für Bereiche, in denen man vielleicht spezifischer den Brexit auch feststellen kann. Gibt es denn besondere Sektoren, die aus ihrer Sicht sehr dafür anfällig waren? Sie haben den Handel erwähnt. Und mich würde auch die andere Seite interessieren. Für die EU ist ja auch einiges weggebrochen, sprich: Gibt es auch negative Auswirkungen auf Seiten der EU?
Fabian Zuleeg: Um mit der EU anzufangen: Natürlich hat es auch negative Auswirkungen auf die EU gegeben. Die sind aber einfacher aufzufangen dadurch, dass man einen sehr viel größeren Markt hat. Man hat sehr viel mehr Möglichkeiten. Dazu kommt noch, dass Großbritannien den Handel aus der EU nach Großbritannien nicht eingeschränkt hat. Natürlich gibt es unter den neuen Verträgen, die jetzt die Beziehungen miteinander regeln, auch die Möglichkeit, dass Großbritannien zum Beispiel gewisse Beschränkungen auferlegt. Aber Großbritannien hat aus mehreren politischen Gründen sich entschlossen, das nicht zu tun. Das heißt: Die Ausfuhren nach Großbritannien sind weitaus weniger betroffen gewesen als die Einfuhren. Dazu kommt, dass für die EU natürlich auch die internationalen Märkte sehr viel offener sind. Großbritannien hat sich ja jetzt erst in neue Handelsabkommen begeben müssen. Für die EU ist diese globale Dimension immer auf jeden Fall noch weiterhin bestehend. Das heißt für mich, die größte Auswirkung, die wir in der EU gesehen haben, waren eher auf der politischen Seite als auf der wirtschaftlichen Seite.
In Großbritannien haben wir eine große Auswirkung sowohl wirtschaftlich als auch politisch gesehen. Es gab gewisse Sektoren, wo es sehr schnell deutlich wurde: Gerade in Bereichen wie Nahrungsmittel, auch zum Beispiel Fischereiprodukte. Da ging es gar nicht so um Zölle oder ähnliches, sondern da ging es einfach darum, dass man, wenn man gewisse Produkte überprüfen muss, und wenn das nicht mehr schnell genug passiert, dann ist der Handel natürlich sofort eingeschränkt. Das heißt, da haben wir sehr direkt sehr schnell den Effekt gesehen. In anderen Bereichen dauert es etwas länger, auch weil natürlich Firmen, die jetzt in kapitalintensiven Bereichen arbeiten, langfristige Investitionen haben, die sie nicht von einem Tag auf den anderen abbauen, und das heißt, da ist der Effekt dann eher schleichend. Aber natürlich ist der Effekt genauso da wie in diesen anderen Sektoren. Und was ich auch schon erwähnt hatte: Wenn man sich den Arbeitsmarkt anguckt, dann hat man natürlich auch diesen horizontalen Effekt. Großbritannien hat sich sehr darauf verlassen, dass man Arbeitskräfte aus der EU in vielen Sektoren gebraucht hat. Die sind nicht weggefallen, aber auf jeden Fall sind die Neuankünfte deutlich zurückgegangen. Und das hat gewisse Auswirkungen auf Sektoren, die mehr von diesen Arbeitern eingestellt haben. Wir haben das gesehen im Hotel- und Restaurant-Sektor, wir haben es gesehen in der Landwirtschaft. Wir haben es auch gesehen, wo man es vielleicht wirtschaftlich nicht so sieht, aber auf jeden Fall auf persönlicher Basis im Gesundheitswesen, wo sehr viele Arbeiter aus der EU gefehlt haben.
Carsten Roemheld: Wie steht es denn um den Finanzplatz London? Das war ja auch eine große Diskussion im Verlauf dieser Brexit-Debatte. Ist der auf Dauer gesichert, auch unabhängig von der politischen Lage im Lande, oder gerät er auch unter Druck, weil der acquis communautaire, also die gemeinschaftlichen Regeln und Pflichten der EU, ja dort jetzt nicht mehr gelten und Regulierungskosten für die Finanzindustrie auf Dauer mit einem Londoner Standort ja steigen dürften, je stärker sich diese Regime auseinander entwickeln. Wie sehen Sie diese Diskussion aktuell?
Fabian Zuleeg: Wir haben auf jeden Fall einen direkten Effekt gesehen. Es gibt gewisse Dinge, die man am Standort London einfach jetzt nicht mehr effektiv machen kann. Da haben wir zum Beispiel gesehen, dass Firmen Teile ihrer Operationen in andere Länder verlegt haben, zum Teil nach Irland, zum Teil in die Niederlande, zum Teil nach Frankreich und Deutschland. Also den Effekt hat man auf jeden Fall gesehen: Das, glaube ich, unterminiert nicht den Standort London als Finanzplatz. Da ist sehr viel mehr da als jetzt diese Elemente, die direkt betroffen wurden. Aber ich würde sagen, dass die langfristigen Folgen auch noch nicht absehbar sind. Denn natürlich sehen auch immer mehr einen globalen Wettbewerb für die Finanzstandorte, nicht nur in London. Da kann es natürlich dann einen Nachteil sein, selbst wenn man nur ein Teil der vorherigen Stärke verloren hat. Was dazu kommt, und das darf man auch nicht vergessen, ist, dass die weiteren Auswirkungen des Brexits, zum Beispiel der Arbeitsmarkt, aber zum Beispiel auch was fiskal jetzt passiert, natürlich auch Auswirkungen auf den Finanzstandort London haben.
Carsten Roemheld: Jetzt haben wir über London geredet. Das ist ja teilweise eine völlig andere Situation als im Rest des Landes. Wir haben gesehen, dass einige Millionen Briten in die Armut gerutscht sind. Es gibt immer mehr Tafeln, Wärmestuben für Bedürftige und so weiter. Jetzt ist nicht ganz klar, ob das auch direkt eine Folge des Brexits ist oder nicht. Aber die Schere zwischen Arm und Reich, die ja überall irgendwo weiter aufgeht, scheint auch in Großbritannien immer weiter aufzugehen. Denn einerseits sehen wir diese Effekte, wie gerade beschrieben. Andererseits ist die Zahl der Milliardäre im Königreich jetzt mit 177 so hoch wie noch nie. Also auch da scheint sich diese Entwicklung abzuzeichnen. Ist da der Brexit auch ein Teil des Ganzen, der diese Entwicklung zu verantworten hat? Und was kann die Regierung tun, um diese Schere wieder zu schließen?
Fabian Zuleeg: Gut, ich denke, dass natürlich der Brexit eine Rolle gespielt hat, aber dass das jetzt nicht die grundlegende Ursache ist für diese längerfristigen Entwicklungen in Großbritannien. Da sehen wir einfach eine Entwicklung in der Gesellschaft, wo sich Unterschiede verstärken. Das liegt zum Teil auch daran, dass man sich sehr auf den Finanzplatz London verlassen hat, um Wirtschaftswachstum zu generieren, aber dass man dadurch dann andere Teile des Landes vernachlässigt hat. Und ich denke, man sieht auch, dass, und wir kommen bestimmt noch zurück auf die Schuldenproblematik in Großbritannien, aber dass langfristig diese Schuldenproblematik dazu geführt hat, dass Großbritannien in vielen strategischen Bereichen nicht investiert hat, in vielen sozialen Bereichen nicht investiert hat, und dass wir jetzt die langfristigen Folgen davon sehen; was zu einer Trennung nicht nur zwischen verschiedenen Gruppen im Vereinigten Königreich führt. Sie haben ja erwähnt, es gibt sehr viel mehr Reiche, auch Superreiche, aber auch sehr viel Armut. Und es führt auch zu einem geographischen Problem. Wir sehen immer mehr, dass der Süden sich vom Norden trennt. Jetzt wurde gerade verkündigt, dass die schnelle Zugverbindung zwischen dem Süden und dem Norden gekappt wird, was natürlich auch weiterhin diese Unterschiede verstärken wird.
Carsten Roemheld: Das hatte ich noch gar nicht gehört, das ist eine interessante Entwicklung. Jetzt gehen wir mal ein bisschen mehr auf die Finanzmarktthemen ein. Zum Teil war ja ein Argument immer von den Befürwortern, dass der Euro durch seine schwache Substanz sozusagen das Pfund auf Dauer schwächen könnte. Jetzt wird aber der Brexit als Grund dafür genannt, dass das Pfund aktuell schwach ist. Vielleicht ist es ein sehr kurzfristiger Blick, und man muss wahrscheinlich auch die längerfristige Perspektive haben: Aber wie passt das zusammen? Was sagen die Leute, die eigentlich der Meinung waren, dass der Euro das Pfund weiter schwächt?
Fabian Zuleeg: Gut, da muss man sagen, es passt einfach nicht zusammen. Und das glaube ich, muss man auch ehrlicher angehen, auch von Seite der Befürworter des Brexits. Beim Brexit hat man sich entschlossen, dass man die Souveränität über wirtschaftliche Erwägungen stellt. Und das hat Konsequenzen. Man kann natürlich argumentieren, ob das richtig oder falsch ist. Aber man sollte nicht so tun, als ob man einfach diese Wahl treffen kann, und dann gibt es keine Kosten. Die Realität ist, dass natürlich die britische Wirtschaft dadurch geschwächt wird: Wenn man aus einem integrierten Markt in einem fragmentierten Markt geht, dann wird das Kosten haben. Und das hat natürlich dann auch Auswirkungen auf die Währung. Das Pfund war ja nicht im europäischen Währungsraum. Das Pfund war auch vor dem Brexit eine Währung, die sich in alle Richtungen hat bewegen können. Das heißt, diesen Zusammenhang zum Euro, den kann man wirklich nicht ziehen. Es ist einfach so, dass dadurch, dass es Großbritannien wirtschaftlich schlechter geht, dadurch, dass die Staatsschulden anscheinend nicht unter Kontrolle gebracht werden, ist das Pfund einfach schwächer geworden.
Carsten Roemheld: Ja, es ist eine ganz banale Antwort, völlig klar. Was erwarten Sie denn in den kommenden Jahren? Ich bin jetzt zum Beispiel ein bisschen erstaunt, dass es Großbritannien noch vergleichsweise gut geht, also vom Wirtschaftswachstum her, dass dieser massive Effekt, den man vielleicht erwartet hatte, eine größere Wirtschaftskrise, bisher ausgeblieben ist. Erwarten Sie das noch persönlich, dass wir dort noch durch eine erheblich schwierigere Zeit gehen? Wenn ich Sie vorhin richtig verstanden habe, dann gehen Sie davon aus, dass einige Effekte des Brexits noch länger dauern und sich schleichend einarbeiten werden. Das würde für mich eher dafür sprechen, dass wir noch eine schwierige ökonomische Situation vor uns haben?
Fabian Zuleeg: Ich denke, leider muss man sagen, werden wir alle eine schwierigere ökonomische Situation vor uns haben. Wenn wir uns anschauen, was in der Welt im Moment passiert und was für Auswirkungen das dann haben wird, dann muss man leider sagen: Es wird schwieriger werden, und da würde ich sagen, ist, glaube ich, das wirkliche Problem mit dem Brexit. Natürlich schwächt er auch die Wirtschaft Großbritanniens langfristig, aber dieser Effekt wird auch über die Jahre hin immer schwächer werden. Das ist einfach normal: Man hat den Schock dieser Fragmentierung, die dann in einem Moment da ist, aber dieser Schock wird natürlich kleiner über die Jahre hin. Er wird nicht ganz verschwinden, auch weil ich glaube, dass gerade über den Arbeitsmarkt und über Produktivität langfristige Folgen da sind, aber er wird nicht mehr so deutlich sein.
Aber was, glaube ich, sehr viel wichtiger ist, ist, dass in dieser schwierigen wirtschaftlichen und politischen Lage Großbritannien ein wichtiges Werkzeug aus seinem Arsenal entfernt hat, um damit umzugehen, weil die EU eben zusammenarbeiten kann, um solche Probleme anzugehen. Also, wenn ich jetzt zum Beispiel sehe, eine der großen Themen, die in den nächsten Jahren auf jeden Fall auf der Agenda stehen wird, ist Industriepolitik: Was für eine Industriepolitik machen wir? Wir sehen ja auch, Industriepolitik wird längst in der ganzen Welt gemacht. Es wird in Amerika gemacht, es wird in China gemacht, und wie besteht man in so einem Wettbewerb? Wie besteht man, wenn man ein kleines Land ist mit beschränkten Mitteln? Da würde ich sagen, ist man sehr viel besser dran, wenn man in einem Zusammenschluss mit anderen Ländern agieren kann. Und das ist die Möglichkeit, die Großbritannien jetzt nicht mehr hat.
Carsten Roemheld: Ja, und sie haben es mir wirklich aus dem Mund genommen. Ich muss auch sagen, persönlich finde ich es sehr bedauerlich und sehr schade, dass sie nicht mehr dabei sind, weil sie sicherlich auch geholfen hätten, aus Europa einen stärkeren Block zu machen insgesamt, und wir jetzt mit diesen Konsequenzen leider leben müssen. Und zwei Drittel der Briten scheinen ja auch der Meinung zu sein, dass der Brexit verantwortlich ist dafür, dass die britische Wirtschaft nicht mehr so gut läuft oder dass es gewisse Schädigungen gegeben hat. Und selbst unter denen, die für den Brexit gestimmt haben, sind inzwischen angeblich oder anscheinend, wie ich hier sehen kann laut einer Umfrage, nur noch fünf Prozent, die die Auswirkungen als positiv bezeichnen. Kann man von diesem Bregret, den ich jetzt vorhin mal ins Feld geführt habe, kann man davon sprechen, dass es tatsächlich ein gewisses Bedauern gibt? Denn in der Zwischenzeit hatte ich immer wieder den Eindruck, dass die Briten das Urteil möglicherweise wieder gleich oder in einer ähnlichen Knappheit jedenfalls fällen würden, als sie es damals gefällt haben. Haben Sie den Eindruck, dass sich da insgesamt etwas verschoben hat?
Fabian Zuleeg: Es hat sich auf jeden Fall etwas verschoben, und man hat auch gesehen, dass in den Umfragen kontinuierlich die, die sagen, sie würden sich heute anders entscheiden, auf der Brexit-Seite, dass es da eine deutliche Verschiebung gegeben hat. Es hat keine Veränderung gegeben bei denen, die von vornherein gegen den Brexit waren. Die sind weiterhin stark gegen den Brexit. Aber bei den Befürwortern hat sich was verändert. Daraus kann man aber nicht schließen, dass, wenn wir jetzt ein weiteres Referendum hätten, dass es dann anders ausgehen würde. Ich glaube, die politische Dynamik ist schon sehr anders, wenn man in der Umfrage so etwas fragt, als wenn man tatsächlich an der Urne diese Entscheidung treffen muss. Aber es gibt sicherlich auf jeden Fall ein großes Bedürfnis, auch über die politischen Gruppen hinaus zu sehen: Wie könnte man denn die Situation verbessern? Wie könnte man denn vielleicht den Brexit nicht unbedingt rückgängig machen, aber auf jeden Fall besser gestalten?
Und das ist sowohl wirtschaftlich als auch politisch: Wie kann man die Probleme, die eindeutig da sind und die auch von den Firmen immer wieder angemahnt werden - von den großen Firmen, aber auch besonders von den kleinen und mittelständischen Firmen -, wie kann man diese Probleme angehen? Und wie kann man die politische Zusammenarbeit stärken zwischen Großbritannien und der EU? Denn in vielen Bereichen haben wir ja immer noch die gleichen Ziele, haben immer noch das gemeinsame Europa, auch wenn wir jetzt nicht mehr gemeinsam in der Europäischen Union sind.
Carsten Roemheld: Absolut. Das heißt, wenn ich Sie richtig verstehe, sehen Sie schon Chancen, dass sich die Verhältnisse verbessern, dass man daran arbeiten kann, die Zusammenarbeit besser zu gestalten. Aber eine Umkehr dieser Entscheidung sehen Sie auch auf Dauer eher nicht gegeben.
Fabian Zuleeg: Also ich würde sagen, man weiß nie, aber ich sehe es jetzt nicht in den nächsten Jahren. Ich glaube, dann reden wir schon eher von Jahrzehnten. In den nächsten Jahren wird sich, glaube ich, grundlegend nichts verändern. Ich glaube auch nicht, dass auf europäischer Seite ein besonders großes Bedürfnis ist, viele von den Wunden wieder aufzureißen, die während des Brexit-Prozesses entstanden sind. Das heißt, ich denke, wir müssen auf der Grundlage der jetzigen Vereinbarung arbeiten und sehen, wie kann man da pragmatisch etwas verändern. Was aber natürlich bei weitem nicht so weit geht, wie einige in Großbritannien es gerne hätten, was dann ja auch immer wieder hochkommt: dass vielleicht Großbritannien in den Europäischen Wirtschaftsraum kommen könnte, in den Binnenmarkt wieder eintreten könnte, ähnlich wie Norwegen, also dass man es wieder schafft, vielleicht nicht die gesamte Rückkehr hinzubekommen, aber auf jeden Fall ein paar Schritte. Nur, ich glaube, leider, muss man sagen, ist das sehr unrealistisch, denn sowohl politisch als auch wirtschaftlich ist das bei weitem nicht einfach.
Carsten Roemheld: Ja, Sie haben vollkommen Recht. Man muss natürlich auf der Basis jetzt gemachter Tatsachen einfach jetzt weitersehen, und es hilft jetzt nichts, alten Zeiten nachzutrauern, sondern wahrscheinlich ist es eher so, dass man sich pragmatisch auf das konzentrieren sollte, was man tun kann, um die Lage zu verbessern. Die politische Situation war ja teilweise, ich möchte mal sagen, etwas chaotisch in UK, vor allem bei der Tory-Partei, weil es da mehrere Parteiwechsel gab, auch der Premierminister. Wie hat die Partei das alles verkraftet? Rishi Sunak ist jetzt seit einiger Zeit im Amt. Wie ist aus ihrer Sicht der Status innerhalb der Partei? Und wie ist das Zusammenspiel zwischen Labour und den Konservativen? Ist Labour jetzt wieder eine etwas ernstzunehmendere Alternative, nachdem sie ja eine Zeit lang nicht mehr so im Rampenlicht standen? Wie sehen Sie die politische Situation aktuell dort?
Fabian Zuleeg: Bei den Konservativen muss man sagen, die sind in der Auflösung, muss es wirklich so drastisch sehen: Diese Partei hat, so wie sie im Moment ist, keine politische Zukunft. Wir hatten gerade die Parteikonferenz, die eher ein Zirkus von abstrusen Ideen war, völlig losgelöst von der Realität, während in den Umfragen die Konservativen weit, weit hinter Labour zurückliegen. Fürs britische System liegen inzwischen Welten dazwischen. Das kann eigentlich nur zu dem Schluss führen, dass Sunak die nächste Wahl nicht gewinnen kann. Ich kann nicht sehen, wie man politisch so eine Veränderung herbeiführen kann, auch weil die Konservativen durch das, was sie in den letzten Jahren getan haben, das Vertrauen völlig eingebüßt haben. Das heißt, jede Initiative, die inzwischen von den Konservativen kommt, verpufft, weil ihnen keiner mehr traut. Das heißt, im Prinzip ist das eine Regierung auf Abruf. Das ist eine Frage der Zeit, was natürlich auch die europäische Einstellung beeinflusst.
Wenn man in Europa fragt, was machen wir mit Großbritannien? Dann kommt die Antwort, warten wir mal ab. Denn es wird sich sowieso einiges in den nächsten Monaten verändern. Labour profitiert sehr davon. Das liegt natürlich auch daran, weil es grundsätzlich ein Zweiparteiensystem ist. Das heißt, Labour würde, wenn es jetzt eine Wahl gäbe, absolut dominieren. Wir haben es gerade gesehen. Es gab gerade eine Nachwahl für einen Wahlkreis in Schottland, wo Labour den Sitz, in diesem Fall über die Schottische Nationalpartei SNP, mit einer deutlichen Mehrheit gewonnen hat.
Das heißt: Labour ist wirklich im Aufwind. Aber ich glaube, man darf auch nicht vergessen, dass der Brexit auch politische Langfolgen haben wird. Das politische System, die Demokratie in Großbritannien ist geschwächt worden durch den Brexit. Das ist etwas, was vielleicht auch so nicht erwartet wurde. Aber man hat halt gesehen, dass das europäische System im Prinzip eine Struktur vorgegeben hat, einen Rahmen, der sehr wichtig war für Großbritannien. Großbritannien hat ja keine geschriebene Verfassung, das heißt, viele Dinge beruhen auf Konventionen, beruhen auf der Art, wie man Dinge eben macht. Und das wurde im Brexit in vielen Bereichen ausgehebelt, und deshalb hatten wir auch einen Boris Johnson, der sich einfach über die Regeln hinweggesetzt hat. Wir hatten eine Liz Truss, die wirtschaftliche Politik gemacht hat, die mehr auf Hoffnung als auf Realität beruhte. Das sind Dinge, die hätten wir eigentlich in Großbritannien nie erwartet. Aber durch den Brexit ist das alles möglich geworden.
Carsten Roemheld: Es ist wirklich verrückt, wenn man mal zurückdenkt in der Phase, wo James Cameron noch Premier war und sozusagen aus einer Situation der Stärke heraus dieses Referendum heraufbeschworen hat. Verrückt, wenn man sich die Entwicklung der Partei seit diesem Zeitpunkt anschaut, sie haben es ja beschrieben, das ist schon desaströs. Sie haben eben auch gerade von einem Sitz gesprochen, der in Schottland vergeben wurde. Es gibt ja noch Wales und Schottland, bei denen auch immer wieder Gespräche aufkommen, ob sie sich in irgendeiner Art und Weise von United Kingdom verabschieden und in die EU eintreten könnten. Was halten Sie von diesen Bemühungen? Ist das realistisch?
Fabian Zuleeg: Ich würde zuerst mal sagen, wenn man diese Tendenzen bespricht, müsste man eigentlich mit Nordirland anfangen. Denn für Nordirland haben wir jetzt de facto eine völlig andere Situation. Nordirland bleibt ja weiterhin effektiv im Binnenmarkt, natürlich mit einigen Abstrichen. Aber generell ist die wirtschaftliche Situation in Nordirland jetzt deutlich anders. Und das bedeutet auch, dass die politische Situation anders ist. Das heißt die Tendenz dazu, dass sich Nordirland immer mehr wirtschaftlich, aber eben zum Teil auch politisch in die EU integriert, kreiert dort für die Protestanten, die darauf beharren, dass Nordirland im Vereinigten Königreich bleibt, eine äußerst schwierige politische Situation. Aber es kann sehr gut sein, dass wir in den nächsten Jahren in Nordirland ein Referendum sehen über einen Zusammenfluss mit Irland. Es ist bei weitem nicht klar, welche Seite das Referendum gewinnen würde. Aber auf jeden Fall ist das eine Möglichkeit, die da ist. Und wenn sich Nordirland entscheiden würde, sich zu vereinigen, dann wäre es im Prinzip automatisch in der Europäischen Union. Denn das ginge dann über den Mitgliedsstaat Irland, das wäre ähnlich zum Beitritt der ostdeutschen Bundesländer zur Bundesrepublik, die sind dann automatisch in der EU.
Für Wales und Schottland sieht es anders aus. Dort gibt es nicht dieses Recht dazu, den Zusammenschluss in Frage zu stellen. Schottland hat in den letzten Jahren auf jeden Fall immer wieder probiert zu sehen, wie weit könnte man gehen. Das wurde alles in London abgeschmettert. Im Moment hat auch die Unabhängigkeitsbewegung in Schottland einige interne Probleme, die auch mit dem Höhenflug von Labour dazu führen, dass es in den Umfragen im Moment für die Scottish National Party, also die Separatistenpartei, nicht besonders gut ausgeht. Aber ich würde sagen, das ist temporär. Denn die grundsätzlichen Probleme, die da sind, dass man im Prinzip einen Staat hat, der unterschiedliche Teile hat mit unterschiedlichen Bedürfnissen, mit unterschiedlicher Identität, aber das ganze dominiert wird von einem England, das deutlich größer ist als alle anderen Teile zusammen, das kreiert sehr viele strukturelle Probleme. Und da kommen wir auch wieder auf den Brexit zurück: Dadurch, dass man gemeinsam in der EU war, wurde viel davon nicht nur versteckt, sondern die Probleme waren einfach nicht da. Man konnte viele Dinge eben über die EU-Ebene lösen. Das gibt es nicht mehr. Und dadurch werden diese Tendenzen, dadurch werden auch die Bindungen einfach immer schwächer.
Carsten Roemheld: Also, da gibt es noch einige Fragen zu klären. Es bleibt also sehr spannend. Schauen wir uns im letzten Themenblock mal die Auswirkungen an, die auf die EU oder auf Europa damit gegeben sind, und es gibt ja ein Trade and Cooperation Agreement, das die Beziehung zwischen der EU und Großbritannien regeln soll. Können Sie uns vielleicht kurz erklären, wo es bei diesem Abkommen geht und wie das genau funktioniert?
Fabian Zuleeg: Ich würde damit anfangen zu sagen, was hätten wir denn gerne gewollt, und was haben wir dann bekommen? Was wir gerne gewollt hätten, wäre eine Vereinbarung zwischen Großbritannien und der EU, die widerspiegelt, wie eng verzahnt wir sowohl wirtschaftlich als auch politisch sind. Das heißt: Weitgehende Zusammenarbeit im wirtschaftlichen Bereich, weit höhere Integration als mit anderen Handelspartnern. Was wir bekommen haben, und da muss man sagen, das liegt an der britischen Seite, das liegt an der Verhandlung von Boris Johnson im Trade and Cooperation Agreement, ist ein Handelsabkommen, was relativ minimal ist. Man hat mal das so beschrieben als: Es ist auf einem Niveau wie Kanada. Das ist eigentlich viel zu wenig. Denn mit Kanada verbinden uns zwar einige wirtschaftliche gemeinsame Interessen. Aber Kanada ist ziemlich weit weg im Vergleich zu Großbritannien, und die Verflechtung mit Großbritannien sind natürlich sehr viel stärker, auch zum Beispiel was Lieferketten angeht. Das heißt, eigentlich hätten wir ein viel tieferes Abkommen gebraucht. Aber politisch war das das Einzige, was möglich war. Was auch überhaupt nicht mit drin war, war politische Kooperation, zum Beispiel in der Außen- und Sicherheitspolitik, Kooperationen in Bereichen wie internationale Klimapolitik, eigentlich Themen, wo wir gemeinsame Interessen haben mit Großbritannien. Aber das war auch politisch zu dem Zeitpunkt nicht möglich.
Carsten Roemheld: Wie sehen Sie denn die weitere Entwicklung der Schuldensituation? Wir haben vorhin schon angesprochen, dass die Schulden sehr hoch sind in Großbritannien, etwa 100 Prozent vom BIP. Natürlich sind in einigen Ländern innerhalb der EU auch hohe Schuldenquoten, vor allem im südlichen Bereich festzustellen. Wie sehen Sie das in der weiteren Entwicklung? Und welche Auswirkungen könnte das auch auf die gesamte wirtschaftliche Landschaft mit der EU haben, wenn diese Schuldenquoten nicht reduziert werden?
Fabian Zuleeg: Wir haben diese Entwicklung bei den britischen Schulden schon längerfristig gesehen. Es ist nicht etwas, was nur durch den Brexit entstanden ist, sondern es ist etwas, was auch verschiedene Regierungen, auch Labour-Regierungen, über die Jahre hinweg immer wieder erhöht haben. Was auch interessant ist in einem Zusammenhang, wo in Großbritannien immer betont wird, wie wichtig es ist, die Schulden unter Kontrolle zu halten, dass Großbritannien ein sehr verantwortliches Land ist, wenn es um Schulden geht. Die Realität ist anders, aber die Rhetorik ist auf jeden Fall auch bei allen Regierungen die gleiche. Man muss die Schulden unter Kontrolle halten, aber dann sehen wir die Ergebnisse, die eben völlig anders sind. Wird sich das verändern? Nein, es wird sich nicht verändern. Warum? Weil, um es zu verändern, müsste man grundlegende Entscheidungen treffen, die politisch sehr schwierig sind. Wenn ich mir zum Beispiel die Staatsausgaben angucke: Ein großer Teil und ein immer größerer Teil wird im National Health Service ausgegeben. Es gibt viele strukturelle Probleme in der NHS, die man eigentlich angehen müsste. Das kann man politisch aber nicht machen. Das heißt, in jeder Wahlkampagne wird immer wieder betont, wir müssen mehr Geld für die NHS finden.
Die Infrastruktur im Land ist marode, die neuen Projekte werden jetzt zwar gestrichen. Aber das heißt nicht, dass dann irgendwo Geld übrigbleibt, sondern das ist einfach nur die Realität, dass man dafür nicht mehr zahlen kann. Die Sozialausgaben sind sehr hoch, auch dadurch, dass wir eben diese Unterschiede in der Bevölkerung immer mehr sehen, dass Sozialausgaben einfach auch notwendig sind, um mit den sozialen Problemen umzugehen, die da sind. Das heißt, das Einzige, was man dann noch machen könnte, ist, dass man Steuern erhöht. Aber das ist politisch noch viel schwieriger.
Carsten Roemheld: Sie haben es angesprochen, dass diese Situation ja überall im Moment das Problem ist. Seit der Pandemie und seitdem die Staatsausgaben so massiv gestiegen sind und der Ruf nach dem Staat eigentlich immer größer geworden ist, sind die Schuldenquoten auch gestiegen. Quasi mehr oder weniger überall die sozialen Ausgaben, ohne dass es jetzt produktiv wäre, was man da tut. Und von daher entweder Ausgaben kürzen, was politisch extrem schwierig ist, Steuererhöhung ist extrem schwierig, da bleibt noch die Inflation sozusagen als ein etwas subversives Instrument, um so ein bisschen die Schuldensituation zu verbessern. Aber das ist dann das Mittel, das vielleicht jetzt am Schluss ausgeschöpft werden muss.
Fabian Zuleeg: Ich glaube, man muss auch sehen, da gibt es auch einen großen strukturellen Unterschied zwischen Großbritannien und den meisten europäischen Ländern. Großbritannien hat eine relativ schlechte Rentenversorgung, aber sehr viel läuft eben über Besitz von Eigentum. Und das heißt: Inflation und natürlich die Versuche, die Inflation unter Kontrolle zu bringen, haben eine sehr viel größere Auswirkung auf Haushalte in Großbritannien. Was nochmal zu den politischen Schwierigkeiten hinzukommt. Wie geht man damit um? Wir haben es ja gesehen mit Liz Truss: Wenn man das falsch macht, dann hat das nicht nur einen wirtschaftlichen Effekt, sondern direkt auch einen sozialen und politischen Effekt.
Carsten Roemheld: Was könnte aus ihrer Sicht jetzt das politische Verhältnis zwischen der EU und Großbritannien weiter verbessern? Sie haben gerade angesprochen, dass das Trade and Cooperation Agreement nicht so ausgefallen ist, wie wir uns das vorgestellt haben, und auch andere Themen scheinen so ein bisschen distanzierter besprochen worden zu sein. Ist die Situation mit den aktuellen Krisenherden, auch vielleicht die Situation mit Russland, ein Punkt, der uns doch näher zusammenführen könnte? Was wäre aus Ihrer Sicht geeignet, um das Verhältnis wieder etwas zu verbessern?
Fabian Zuleeg: Also ich denke, ein Schritt wird auf jeden Fall sein, eine neue Regierung zu haben. Das heißt jetzt nicht unbedingt, das Labour sehr viel pro-europäischer ist, aber einfach nur, diesen Neuanfang zu haben: Dass man sagen kann, wir sind, wo wir sind, und jetzt können wir anfangen, darüber zu reden, wie wir das vielleicht pragmatisch in gewissen Bereichen verbessern können. Auch weil, glaube ich, Labour sehr viel eher bereit dazu ist, auch strukturell zu denken, wie können wir denn zum Beispiel die Zusammenarbeit in der Außen- und Sicherheitspolitik verstärken? Da, denke ich, liegen natürlich auch Chancen. Denn der Krieg in Ukraine ist ja etwas, wo man auch gemeinsam an einem Strang zieht. Wobei ich aber auch da vorsichtig sein würde. Denn das, was im Moment ist, da sehe ich natürlich Großbritannien auch mit in einer Vorreiterrolle, wenn es darum geht, zum Beispiel militärische Unterstützung beizustellen, wenn es um die politische Unterstützung geht.
Aber: Es kommt auch der Punkt, wenn dann die Frage aufkommt, wer für die Kosten aufkommt, wie wir den Wiederaufbau finanzieren, wie wir langfristig mit Flüchtlingen umgehen, die nicht zurückgehen. Und in solchen Bereichen, glaube ich, ist es eher unwahrscheinlich, dass Großbritannien sehr kooperativ sein wird, weil das auch Dinge sind, die daheim sehr schwierig zu vermitteln sind. Und ich denke, man muss auch vorsichtig sein. Was wir gesehen haben, und das ist, glaube ich, nicht nur unter Sunak, sondern das wird sich auch bei anderen politischen Führungskräften zeigen, ist, dass sich Großbritannien immer mehr distanziert von der Europäischen Union. Wir hatten gerade die Situation, dass im Prinzip die Klimaversprechen der Regierung deutlich zurückgeschraubt wurden. Wenn solche Entwicklungen weitergehen, dann wird es auch immer schwieriger zusammenzuarbeiten, weil natürlich dann die Schere immer weiter auseinanderklafft.
Carsten Roemheld: Ja, in der Tat vielleicht zur letzten Frage, und das ist ein wichtiges Thema, was bei uns immer wieder Erwähnung findet: China. Insbesondere weil sich jetzt alle darüber Gedanken machen, wie ihre China-Strategie aussieht, wie eine Zusammenarbeit aussehen könnte. Mich würde interessieren: Wie ist denn der Blick Großbritanniens auf China, und gibt es dort vielleicht eine Möglichkeit von Überschneidungen, gemeinsamen Positionen, mit denen man sich mehr paneuropäisch wieder verständigen könnte? Oder sehen Sie das nicht so?
Fabian Zuleeg: Ich glaube, wenn man über China spricht, dann muss man gleichzeitig über die Vereinigten Staaten sprechen. Es geht tatsächlich darum, was passiert mit Europa und was passiert mit Großbritannien in der Rivalität zwischen diesen zwei immer mächtigeren und immer wichtigeren Staaten? Großbritannien hat auch schon vor dem Brexit, lange vor dem Brexit, immer den Instinkt gehabt, sich eher über den Atlantik hinweg zu orientieren, sogar oft eher über den Atlantik als über den Ärmelkanal. Das heißt, für mich ist es keine Frage, dass Großbritannien sich politisch an die Vereinigten Staaten angleichen wird. Das heißt, ich erwarte, dass in Großbritannien dann eben auch genauso wie in den Vereinigten Staaten immer mehr Bedenken aufkommen, was China angeht, und was dann auch zu Friktionen zu europäischen Ländern führen kann, die ja nicht immer die gleiche Interpretation oder den gleichen Ansatz fahren. Aber ich denke, das ist etwas, wo man eben auch sagen muss: Großbritannien ist jetzt einfach auf internationaler Ebene ein kleines Land, ein relativ unwichtiges Land. Natürlich ist es immer noch wichtig, aber im Vergleich zu den Schwergewichten ist Großbritannien eben jetzt nicht mehr in der gleichen Liga.